Die Tore von Fès: Eine historische, gesellschaftliche und politische Erzählung - Bab Gissa
Bab Gissa
Bab Gissa (Arabisch: باب الكيسة), „Tor der Geldbeutel“, auch als Tor der Brüderlichen Rivalität oder als Bab Ajissa bekannt. Dieses Tor, das ursprünglich den Namen Bab Hisn Sa'dun (حصن سعدون) trug, erlebte im Laufe der Geschichte mehrere Namensänderungen. Laut Ibn Khaldun (ابن خلدون) wandelte sich der Name des Tores im Volksmund vom ursprünglichen Namen seines Erbauers, des Prinzen Ajisa, zu Jisa (من إسم الأمير عجيسة إلى جيسة). Doch Ibn Abi Zar' (ابن ابي الزرع) erzählt eine andere Version: Demnach war es der magrawidische Prinz Ftouh, der den Namen des Tores von Bab Ajisa in Bab Jisa ändern ließ.
Der Grund für diese Umbenennung lag in den dramatischen Ereignissen, die sich zwischen den beiden Brüdern abspielten. Nachdem Foutouh heimlich bei Nacht die Adwat al-Qarawiyyin (das Viertel der Qarawiyyin) überfallen hatte, eroberte er die Stadt im Handstreich und ließ seinen Bruder Ajisa (عجيسة) töten. Mit diesem entscheidenden Schlag vereinte er die beiden Stadtteile von Fès erneut unter seiner Herrschaft. Mit der Zeit verkürzte sich der Name des Tores im allgemeinen Sprachgebrauch zu Bab Gissa (باب كيسة).
Eine weitere Version besagt jedoch, dass es der almohadische Kalif Mohammed an-Nasir (الخليفة الموحدي محمد الناصر) war, der im Zuge der Wiedererrichtung der Stadtmauern und Tore von Fès den Namen des Tores in Bab Jisa ändern ließ. Dieses Tor blieb bis heute als Bab Gissa bekannt und zeugt von den wechselvollen Geschichten und Machtkämpfen, die die Stadt Fès geprägt haben.
Errichtung von Bab Gissa
Das Tor Bab Gissa wurde von Ajissa ibn Dunas ibn Hammama ibn al-Mu'izz ibn Atiyya (عجيسة بن دوناس بن حمامة بن المعز بن عطية المغراوي), einem Prinzen der Maghrawiden, errichtet. Ajissa war der jüngere Bruder von Ftouh (فتوح), dem neunten Herrscher der Maghrawiden-Dynastie. Diese Dynastie regierte nach dem Untergang der Idrisiden große Teile Nord-, Ost- und Zentralmarokkos zwischen den Jahren 987 und 1070 n. Chr. Das Territorium der Maghrawiden umschloss das Reich der Barghawata auf drei Seiten - im Westen blieb lediglich die Küste unberührt.
Die Maghrawiden waren enge Verbündete der Umayyaden in al-Andalus und unterstützten diese im Kampf gegen die Fatimiden, die ihren Einfluss in Marokko auszudehnen versuchten.
Ajisa ibn Dunas wurde von seinem älteren Bruder Ftouh als Statthalter über das Viertel der Qarawiyyin (Adwat al-Qarawiyyin) eingesetzt. Doch Ajissa begann bald, eigenmächtig zu handeln und erhob selbst Ansprüche auf die Herrschaft über Marokko. Dieser Machtkonflikt zwischen den beiden Brüdern führte, wie bereits im Zusammenhang mit Bab Ftouh erwähnt, zu blutigen Auseinandersetzungen.
Im Rahmen der militärischen Befestigungsmaßnahmen ließ Ajisa ebenfalls ein Fort errichten, das sich direkt über dem ursprünglichen Tor Bab Hisn Sa'dun (باب حصن سعدون) erhob, das Idris II (إدريس الثاني). einst erbaut hatte. Dieses Fort diente als militärische Anlage zur Sicherung des Tores, das später seinen Namen tragen sollte - Bab Ajissa (باب عجيسة).
Diese Strategie folgte einem ähnlichen Vorgehen seines Bruders Foutouh, der bereits ein starkes Verteidigungsfort über dem Tor Bab Ftouh (باب الفتوح) im Viertel Hay al-Kaddan (حي الكدان) errichtet hatte. Dieses Fort lag an der Spitze der Passstraße Aqabat al-Ssa'tar (عقبة السعتر), die heute unter dem Namen Aqabat al-Hallassiyin (بعقبة الحلاسيين) bekannt ist. Der Bau dieses Forts wird auf das Jahr 1061 n. Chr. datiert.
So wurde das Tor Bab Gissa nicht nur zum Symbol für die militärischen Verteidigungsmaßnahmen der Maghrawiden, sondern auch für die innerfamiliären Machtkämpfe, die die Geschichte der Stadt Fès prägten.
Bab Gissa: Geschichte und strategische Bedeutung
Aufgrund seiner strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung, da Bab Gissa den Zugang zu den nordöstlichen Gebieten außerhalb der Stadt sowie zu den innerstädtischen Märkten gewährte, wurde dem Tor von den Herrschern besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der almohadische Kalif Muhammad an-Nasir ließ das Tor umfassend ausbauen und erneuern. Seine architektonische Gestaltung blieb über viele Jahre erhalten, bis das Bauwerk im Laufe der Zeit beschädigt und baufällig wurde.
Unter der Herrschaft des marokkanischen Sultans der Meriniden, Abu Yusuf Ya'qub ibn Abd al-Haqq (1212–1286), wurde das Tor im Jahr 1265 restauriert. Dabei blieb die äußere almohadische Torbogenfassade erhalten, die auf den ursprünglichen Bau Muhammad an-Nasirs zurückgeht.
Bab Gissa: Kultureller und wissenschaftlicher Treffpunkt
Um Bab Gissa entwickelte sich im Laufe der Zeit ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum. Direkt außerhalb des Tores, an der linken Seite der Stadtmauer, befindet sich eine verfallene Wasserstelle (saqaya), an deren Seite das Grabmal eines der bedeutendsten Dichter, Minister und Richter Marokkos liegt: Malik ibn al-Murahil as-Sabti (1207–1299). Er wurde von Lisan ad-Din ibn al-Khatib in höchsten Tönen gelobt, ebenso wie von Abdallah Guennoun in seinem Werk "An-Nubugh al-Maghribi" (Das marokkanische Genie).
Malik ibn al-Murahil lebte in den letzten Jahren der almohadischen Ära und hinterließ zahlreiche poetische Werke. Eine bemerkenswerte Begebenheit, die sich um dieses Tor rankt, schilderte er selbst in einem seiner Gedichte.
Es wird berichtet, dass er durch die Erzählungen anderer Frauen von der Schönheit einer Fassi-Frau (eine Frau aus Fès) beeindruckt war und sie heiratete. Doch in der Hochzeitsnacht stellte er fest, dass ihre äußere Erscheinung keineswegs seinen Vorstellungen entsprach. Entsetzt von ihrer Hässlichkeit, floh er noch in derselben Nacht aus dem Haus. Er verbrachte die Nacht vor Bab Gissa und wartete dort bis zum Morgengrauen, um als einer der ersten durch das Tor zu fliehen. Diese skurrile Episode verarbeitete er in einem Gedicht, dessen Anfang folgendermaßen lautet: "Die Frauen haben mich getäuscht und mich hintergangen. Sie füllten mein Ohr mit Lobpreisungen über die Frauen, bis ich dieser Täuschung erlag. Doch ich fiel nicht sanft zu Boden – ich stürzte hart und direkt auf den Kopf."
Bab Gissa: historische Funktion und baulichen Anlagen
Das Innere von Bab Gissa bewahrt bis heute seine ursprüngliche Verteidigungsstruktur als kleine Festung. Neben dem Haupttor wurde ein kleiner Nebeneingang geschaffen, um den Durchgang zu erleichtern. Der Haupteingang selbst wurde während der französischen Kolonialzeit als Polizeiposten genutzt. Zudem diente das Tor als Zollstelle, an der Abgaben auf landwirtschaftliche und tierische Produkte erhoben wurden, die Bauern innerhalb der Stadtmauern zum Verkauf anboten. Dieser Polizeiposten blieb bis in die späten 1980er-Jahre in Betrieb.
Bab Gissa: Städtebauliche Bedeutung in der marokkanischen Architektur
Wie bei allen Haupttoren von Fès folgt auch die Gestaltung des Umfelds von Bab Gissa der traditionellen marokkanischen Stadtarchitektur mit strategischen Elementen. Zu jedem Stadttor gehört in der Regel eine öffentliche Ssaqqaya (Wasserbrunnen), eine Moschee und eine Schule für Studenten.
Unweit des Tores befindet sich eine der schönsten Wasserbrunnen Marokkos sowie die Moschee Bab Gissa, die unter der Herrschaft des Meriniden-Sultans Abu al-Hasan errichtet wurde. In unmittelbarer Nähe steht auch eine Madrasa (Koranschule), die laut historischen Quellen von Abu Muhammad Abd al-Haqq ibn Abi Said al-Wattassi im Jahr 1437 gegründet wurde. Diese Angaben bestätigt der Historiker Abdelhadi Tazi in seinem Werk Al-Qarawiyyin.
Obwohl die Madrasa in einfachen architektonischen Stil errichtet wurde, wird ihr Bau häufig Sultan Muhammad III. ibn Abdallah von der Alawiden-Dynastie zugeschrieben. Allerdings erwähnen mehrere historische Berichte, dass die Madrasa bereits zwei Jahrhunderte vor der Zeit des Sultans existierte. Es wird angenommen, dass Muhammad III. lediglich umfassende Renovierungsarbeiten an der Schule durchführte, wie er es auch in vielen anderen Regionen des Landes tat.
Die Madrasa von Bab Gissa sowie das gesamte Umfeld des Tors spiegeln somit eine wichtige Phase der marokkanischen Geschichte wider - geprägt von der Architektur der Meriniden, den Reformen der Wattasiden und den späteren Restaurierungsmaßnahmen unter den Alawiden.
Bab Gissa: Historische Bedeutung des Platzes
Der äußere Platz vor Bab Gissa war lange Zeit ein bedeutendes Zentrum der volkstümlichen Unterhaltung in Fès. Bis kurz nach der Unabhängigkeit Marokkos fanden dort regelmäßig die beliebten Halqa-Versammlungen der Geschichtenerzähler statt. Zu den bekanntesten Erzählern dieser Zeit gehörte Ba Idris al-Fadawi. Der französische Historiker Roger Le Tourneau zitiert in diesem Zusammenhang den marokkanischen Schriftsteller Ahmed Sefrioui, der über al-Fadawi schrieb: „Er hielt seine Erzählrunde jeden Tag zwischen Asr und Maghrib (Nachmittags- und Abendgebet) am Ausgang von Bab Ajissa ab, auf den Hügeln des Friedhofs, die zu den Gräbern der Meriniden hinaufführen. Im Schatten der ockerfarbenen Mauern erzählte er Tag für Tag eine lange Geschichte, die er mit lebendigen Details und manchmal tief bewegenden Momenten zum Leben erweckte.“ Al-Fadawis Repertoire umfasste drei große Erzählzyklen. Eine davon war beispielsweise Antara ibn Shaddad, die sich über ein ganzes Jahr erstreckte.
Diese lebendige Tradition des Geschichtenerzählens machte den Platz vor Bab Gissa zu einem bedeutenden kulturellen Treffpunkt. Er bot den Bewohnern von Fès einen Raum, in dem die mündliche Überlieferung gepflegt wurde - eine Tradition, die über Generationen hinweg das kulturelle Gedächtnis der Stadt prägte.
Jeden Freitagmorgen findet vor Bab Gissa der Tauben- und Vogelmarkt statt, nachdem er ursprünglich in einem offenen, überdachungslosen „Funduq“ gegenüber der Moschee von Bab Gissa abgehalten wurde.
Im Umfeld des Tores, der Ssaqqaya (Wasserbrunnen) und der Moschee wurden zahlreiche Szenen marokkanischer und internationaler Filme gedreht. Der Ort vermittelt mit seiner historischen Kulisse eine eindrucksvolle Atmosphäre, die ideal für filmische Inszenierungen ist. Zudem bietet das Areal einen herrlichen Blick auf die östlichen, westlichen und nördlichen Hänge des Dschebel Zalagh (Berg Zalagh), einschließlich des Hügels, auf dem sich die Gräber der Meriniden befinden. Nicht weit davon entfernt liegt das imposante Tor eines ehemaligen Ministerpalastes, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein luxuriöses Hotel umgewandelt wurde.
Folgt man dem Weg, der durch die Friedhöfe verläuft und Bab Ftouh mit Bab Boujloud verbindet, erreicht man zunächst ein weiteres bemerkenswertes Bauwerk, das diesen bedeutenden historischen Rundgang durch die Stadt abrundet.
Folgende Tore werden in diesem Artikel beschrieben: Bab Ftouh - Bab L‘Khoukha - Bab Sidi Boujida - Bab Gissa - Bab Chorafa - Bab Mahrouk - Bab Boujloud - Bab L‘Khmis, Bab Sagma - Bab Dekkakin - Bab s-Semmarin - Bab Jyaf - Bab Amr - Bab L‘Hdid - Bab Jdid - Bab L‘Hamra - Bab Sid L'Awwad. Zurück auf Seite 1. |