Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - In der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen ohne ein Wort geboren
Heute rief endlich Hans aus Tanger an. Es geht ihm gut. Ich hatte ihm schon vor ein paar Wochen einige Exemplare meines Buches Marrakesch geschickt. Jetzt erst meldete er sich, schickte mir ein ganz besonderes Gedicht, welches er, wie er mir schrieb, seinem kleinen „Zettelkasten der Erinnerungen, einer kleinen, ganz wundersam leuchtenden Schatulle“ entnahm:
„In der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen ohne ein Wort geboren und oft in einer stillen Freude geteilt.“ (Khalil Gibran)
Mutter ist in Tanger begraben. Ihr Grab ist inzwischen von wunderschönen marokkanischen Fliesen mit beruhigenden Ornamenten aus viel Blau und Weinrot, etwas Weiß, Olivgrün und Ocker umrahmt.
Wo soll ich später ruhen? Braucht die Seele überhaupt einen letzten Ort?
Für wen ist der zu wählende letzte Ort wichtig – für den, der sterben muss, oder für den, der sich nach dem Gegangenen so sehnt und ihn vermisst?
Wo ist meine Heimat? Heimat muss kein Land sein. Machen nicht erst die Blicke der Kindheit einen Ort zur Heimat? Ist es nicht vielmehr der Geschmack und der Geruch des Vertrauten, der Geborgenheit, was Heimat ausmacht? Frage deshalb nie jemanden nach seiner Heimat, erzähle ihm lieber von deinen kindlichen Erinnerungen, die nie erwachsen werden und vergreisen wollen. Nur Erwachsene brauchen Wörter für Dinge, die sie nicht verstehen können. Vielleicht sollte ich mir eine andere Frage stellen: Wo sind meine Wurzeln, und wie verstehe ich besser meine Gefühle und Gedanken, wie verstehe ich mein Wesen? Vielleicht respektiere ich mit dieser Frage auch meine Melancholie und andere Launen besser. Vielleicht gibt mir diese Erkenntnis die innere Ruhe, den Dingen, die noch kommen werden, besser zu begegnen und sie, wenn nötig, in eine andere Richtung zu lenken? Fragen über Fragen, die nach Antworten suchen, die sie aber vielleicht nicht finden sollen.
Nicht jede Frage braucht eine Antwort. Ich fühle mich da zu Hause, wo ich spüre, dass meine Liebe, meine Wut, meine Melancholie und meine Freude respektiert werden. Es ist viel mehr die Umgebung und die Antworten der Menschen, viel weniger der Ort an sich. Heimat lebt im Herzen, weniger im Verstand. In Marokko wird meine Seele berührt, meine Heimat ist wohl aber Deutschland. Heimat ist dort, wo die Menschen, die man liebt, sich zu Hause fühlen, wo sie willkommen sind und keiner fragt, wann sie nach irgendwo zurückkehren. Wenn in dir ein Gefühl erwacht, als würde deine Mutter dich zum Essen rufen, dann bist du in deiner Heimat.
Vor einigen Tagen begegnete ich einem besonderen Menschen – einem Österreicher, der seine Frau mit aller Hingabe bei ihrer schweren Krebserkrankung begleitete. Er war der festen Überzeugung, dass die Wurzeln und das Herz eins sind und dort, wo man seine Wurzeln hat, das Herz und das Zuhause sind. Ich erwiderte, dass damit nicht ein Ort gemeint sein müsse. »Da mögen Sie recht haben«, antwortete er, „aber denken Sie an die Redewendung, dass Blut dicker ist als Wasser.“ „Blut muss nicht rot sein, Blut muss nur warm sein“, war meine Antwort.
Meine Mutter ist in Tanger begraben, mein Vater verbringt dort seinen Lebensabend. Er ist Teil Tangers. Meine Frau Adak, meine Familie, meine Geschwister haben Berlin als ihren Mittelpunkt, und so habe ich vielleicht eine doppelte Heimat. Alle Grenzen dieser menschlichen Welt sind doch künstlich erschaffen, daher kann man sicher mehrere Namen und Ortsbeschreibungen für seine Heimat verwenden.
Mohamed Choukri schreibt in seinem Buch Zoco Chico von einem armen marokkanischen Jugendlichen, der in Tanger auf zivilisationsmüde westliche Aussteiger trifft. Sie trinken zusammen, verfallen den orientalischen Drogen, lassen für einen Moment die elende Armut des Jungen vergessen, nennen sich Freunde. Am Ende wird aber klar, dass der Junge den Fremden immer fremd bleibt und sie auch nicht daran interessiert waren, das zu ändern.
Und in Tanger kommen die Schiffe an und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo
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