Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Wir sind mit Mutter unterwegs nach Tanger.
Wir begleiten sie auf ihrer letzten Reise.
Vater wartet in Tanger auf uns. Als ich ihn anrief, sagte er kein einziges Wort. Noch nie hatte ich ihn sprachlos erlebt, noch nie.
Noch vor drei Stunden waren wir in der Moschee in der Kreuzberger Flughafenstraße, jetzt sind wir alle am Himmel. Hier oben erscheint alles viel leichter – und das ist mehr als nur eine Metapher. Mutter bleibt ganz sicher im Himmel, wir verlassen ihn wieder, im leichten Sinkflug – vorerst.
In Hektik und Schmerz suchte Latifa den Pass meiner Mutter in der Wohnung in der Exerzierstraße im Herzen Weddings. Sie fand ihn, wie sie immer alles in unserer Wohnung fand. Mir wurde klar, dass nun mit dem Tod unserer Mutter auch der Wedding für mich nicht mehr das sein würde, was er für mich immer bedeutet hat. Mutter liebte den Wedding. Auch wenn er sich über die Zeit verändert hat, unser Wedding ist er immer geblieben.
Auf den Weddinger Straßen ist mit der Zeit alles anders geworden, aber in Mutter Zohras Wohnung ist die Zeit wie lebendig eingefroren. Schön wie eine kleine Naturoase zeigt sich das Innenleben dieser Wohnung. Die Zimmer, die Tapeten, die Bilder an der Wand sind so, wie wir sie schon als Kinder kanten.
Latifa suchte und suchte. Den deutschen Ausweis hatte sie schnell gefunden, in einem kleinen Stoffbeutel hinter der Tür. Den marokkanischen Reisepass fand sie nicht. Sie suchte und suchte, sie verzweifelte, wollte schon aufgeben. Und dann, im Kleiderschrank, zwischen weißen und bunten Gewändern, fand sie endlich eine Schutzhülle aus braunem Rindsleder: »Royaume du Maroc« stand auf dem grünen Pass mit dem glatten Mantel aus hartem Plastik. »Geboren 1940«, ganz ohne Angabe des Tages und Monats. Darin ein Foto im Querformat. Es zeigte meinen Vater Abdullah in einem vornehmen, dunklen Nadelstreifenanzug mit roter Krawatte, eine rosa Rose am Revers. Es zeigte ihn auf der Hochzeit meines Bruders Abdelhamid mit Marina. Auf der Rückseite stand mit blauer Schrift: »Memo de la casamiento de mi hijo Hamid«, unterschrieben mit „Sehouli“.
Meine Mutter hatte das Bild stets bei sich. Immer wenn sie auf Reisen war, nahm sie es mit, nach Tanger oder nach Mekka, das waren ihre wichtigsten Ziele. Abdelhamid, der mit sieben Jahren Marokko an der Seite meiner Mutter und meiner Schwester verließ, aber alles über Marokko zu wissen schien, erzählte, dass viele marokkanische Lieder davon handeln, dass die Jungen rennend und wütend das Heimatland verlassen und die Alten liegend und in Stille die Heimaterde wieder berühren.