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Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo

Und in Tanger kommen die Schiffe an, und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo  „Ich vermisse Tanger so sehr“, sagt der Mann mit dem vollen grauen Haar. „Und Sie sind so zu beneiden.“

 

„Wieso?“, frage ich. „Na, weil Sie ein Sohn des Herkules sind.“ Wir schmunzeln und schweigen in einträchtiger Stille. Dann muss ich ihm widersprechen. „Tanger macht uns alle zu Kindern des Herkules, wir müssen es nur zulassen.“

Tanger. Link führt auf YouTube zum Buchtrailer, Foto: Jalid SehouliDer Wandervogel

Es ist der erste Freitag im neuen Jahr. Sie ist die letzte Patientin in meiner Sprechstunde. Ihr Ehemann begleitet sie wieder. Seit vielen Jahren ist sie Patientin unserer Klinik. Sie ist blasser als sonst und hustet nahezu ohne Pause.

Ihr Mann humpelt und bleibt beim Betreten des Raumes hinter ihr zurück, schafft es dann aber doch mit letzter Kraft, sich fast synchron mit seiner Frau zu setzen.

Der Patientin geht es schlecht, es ist zu einem Rückfall ihrer Krebserkrankung gekommen. Auch dem Ehemann scheint es nicht gut zu gehen. Doch er wartet mit einer akribisch zusammengestellten Mappe auf.

Ich lasse sie mir zeigen und finde dort nach Datum und alphabetisch nach der Untersuchungsart geordnet die jeweiligen Blut- und Röntgenbefunde sowie einige im Internet und in Zeitungen publizierte Therapiemöglichkeiten.

Als ich mit dem Lesen der Befunde fertig bin, legt der Mann neben anderen Dokumenten eine Klarsichtfolie auf den Tisch, in der sich einige lose Blätter befinden. Ich kann auf einem Bogen einen kleinen Ausschnitt eines Bildes erkennen, das wohl einen gemalten Oberarm zeigt.

Ich bin unter Zeitdruck, sodass ich lieber nicht nachfragen möchte, untersuche die Patientin und empfehle die stationäre Aufnahme, da ich eine schwere Lungenentzündung vermute. Das seltsame Bild mit dem kräftigen Oberarm lässt mich aber nicht mehr los. Ich frage nach. Der alte Herr freut sich darüber, als ob er von Anfang an gewusst hätte, dass ich es tun würde, und geduldig auf meine Reaktion wartete.

Er nimmt geschickt die Klarsichtfolie aus dem Dokumentenstapel und zieht vier leicht verblasste, schwarz-weiß gedruckte Fotos heraus: Auf einem Foto seine Frau, die mit melancholischem Blick in einem Zimmer mit orientalischen Fliesen sitzt; ein anderes Foto mit einem Ausblick durch ein Fenster auf einen Hafen mit Schiffen und voll beladenen Lastwagen; ein anderes Foto mit einem Blick auf eine Müllhalde mit wilden Möwen und ein Bild mit drei europäisch wirkenden Knaben mit kurzem Haarschnitt, kurzen Hosen und gefüllten Rucksäcken auf einer lebhaft befahrenen, sandigen Straße. Zwei der Jungen sind nahezu identisch gekleidet, der dritte schaut gewitzt in das Bild. Er trägt einen viel zu großen Sombrero, auf dem Rücken eine Gitarre und wirkt wie ein Tourist am Anreisetag in Mexico City. Ich lese den Untertitel des Bildes: „Schwerbepackt trampten die beiden Jungen, Hans Wilhelm Gieler (Mitte) und Jürgen Plüm (rechts) durch Spanisch-Marokko. Vor ihnen öffnete sich die bunte Welt Nordafrikas.“

Ich frage weiter. Als er zu erzählen beginnt, hört auch der quälende Husten seiner Frau auf. Seine Augen leuchten vor Begeisterung. “Wir hatten uns damals mit 120 Mark nach Tanger auf den Weg gemacht. Wir waren eben echte Wandervögel!“ „Was meinen Sie mit Wandervögel?“, hake ich nach“.

Als Wandervögel wurde bereits 1896 im Berliner Steglitz eine Gemeinschaft von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet“, erklärt er mir. „Wie haben Sie das als Siebzehnjähriger damals mit so wenig Geld geschafft?“, frage ich ihn auf dem Weg zur Station, in die seine Frau aufgenommen wird. „Das Leben war nicht teuer und wir sind als Tramper überallhin mitgenommen worden.“ „Und warum haben Sie sich Tanger ausgesucht? Und wer von den dreien sind Sie?“. Er erzählt mir, dass er die Wandervogelgruppe in Moers leitete und sie damals beschlossen hatten, nach Spanien zu reisen. Seine Gitarre hatte er stets dabei, da er das Wandern und Singen gleichermaßen liebte und das eine ohne das andere nicht genießen konnte. Außerdem konnte er sich mit der Musik unterwegs noch etwas Geld dazuverdienen.

Tanger, Herkules GrottenIn einer spanischen Kleinstadt angekommen, sang er auf einer Straße das Lied „Viva la Quinta Brigada“. Nach der dritten Strophe rissen ihm zwei kräftige Soldaten die Gitarre weg und sperrten ihn für eine Nacht in eine uringetränkte Gefängniszelle. Er war in dieser Nacht der einzige Gefangene. Er war tieftraurig, von der Welt, die er entdecken wollte, enttäuscht. Er war doch völlig unpolitisch, hatte doch nur die Fremden zu Freunden machen wollen und sein Lieblingslied „Viva la Quinta Brigada“ gesungen – ein Lied, das von einem Iren handelt, der im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpft. Das Lied war verboten, deshalb wurde er trotz seiner Unkenntnis über die politische Brisanz von den Soldaten abgeführt.

Nach der Nacht im Gefängnis wollte er einfach nur weg aus Spanien. Er haderte mit sich, ob er seine Reise vorzeitig beenden oder nach schöneren Erfahrungen suchen sollte, und schlenderte durch die leeren Straßen, als er plötzlich zwei Priester traf. Obwohl er weder fröhlich noch freundlich aufgelegt war, lächelte er den beiden entgegen. Auch sie lächelten ihn an und sie kamen schnell ins Gespräch. Er erzählte von seinem Erlebnis mit der spanischen Gefängniszelle, dass er sich auf die Reise gemacht hatte, um Neues, Unbekanntes zu entdecken, er aber Spanien nun verlassen wollte.

 

Seite 02: Mutter ist von uns gegangen

 

Seite 03: Wir sind mit Mutter unterwegs nach Tanger. Wir begleiten sie auf ihrer letzten Reise

 

Seite 04: Jetzt kehren wir mit Mutter nach Tanger zurück. Es ist unsere letzte gemeinsame Reise

 

Seite 05: In arabischer Schrift halte ich den Artikel über meine Mutter in meiner Hand. Die Betgesänge betäuben meine Sinne

 

Seite 06: Die Betgesänge betäuben meine Sinne

 

Seite 07: Wir kaufen wunderbare orientalische Süßigkeiten, leicht geröstete Mandeln, Walnüsse und Erdnüsse in süßem Honig

 

Seite 08: Schwester Pietra schickte mir einen Brief

 

Seite 09: Papa, wo wohnt eigentlich Gott?

 

Seite 10: In der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen ohne ein Wort geboren und oft in einer stillen Freude geteilt

Die beiden Priester hörten ihm zu und meinten, er solle nicht seine Reise beenden, sondern nur das Ziel ändern. Nicht Spanien sei sein Ziel, sondern die Reise selbst. Er solle einfach nach Afrika fahren. „Afrika? Wie soll ich das denn bewerkstelligen, das ist doch unmöglich!“, erwiderte er. „Fahr einfach nach Süden weiter, nach Algeciras, und nimm die Fähre zum Tor Afrikas. Erst dann wirst du vielleicht erfahren, warum du das eine Lied ausgewählt hast und ins Gefängnis musstest, und welche Bedeutung es hat, dass wir uns getroffen haben. Nimm deinen Weg auf.“

Am Tag seiner Ankunft im Jahr 1954, so erzählt er weiter, wurde am Hafen von Tanger scharf geschossen. Spanische Soldaten in enger Uniform schossen auf fliehende Marokkaner in luftigen Djellabas. Ein junger Mann aus Tanger sah die fremden Ankömmlinge, wusste aber nicht, woher sie kamen. Also vermischte er Wörter verschiedener europäischer Sprachen: »Bonjour, meine boys, am Poerto von Tanger!« Er wollte, dass mindestens ein heimisches Wort die Ankömmlinge willkommen hieß.

Sie freuten sich, trotz der gefährlichen Situation, in die sie geraten waren. Er war stolz auf seine guten Deutschkenntnisse. Die Schüsse wurden lauter, alle rannten kreuz und quer und in gebückter Haltung davon.

Jedes weitere Verbleiben wurde zum unkalkulierbaren Risiko, dennoch bot der Tangaui den Jungen aus Deutschland an, sie mit in die Kasbah zu nehmen. »Oben auf dem Hügel seid ihr sicher.« Jürgen imponierte diese Hilfe so sehr, dass er sich von diesem Tag an vornahm, zurückzukommen und dieser Stadt und ihren Menschen zu helfen.

Kurioserweise heißt eine Strophe in dem von ihm damals so geliebten, aber verbotenen Lied: »Luchamos contra los Moros«, was übersetzt heißt: „Auf in den Kampf gegen die Mauren“, womit hier die spanischen Faschisten um Franco gemeint waren, die Marokko als Hinterland für ihren Bürgerkrieg nutzten. Was hatten die Priester dem jungen Wandervogel gesagt? „Fahre nach Afrika, erst dann wirst du vielleicht erfahren, warum du dieses Lied gesungen hast und ins Gefängnis musstest, und welche Bedeutung es hat, dass wir uns getroffen haben. Geh nach Tanger und nimm deinen Weg auf.“

Mehr als fünfzig Jahre später konnte er sein Versprechen endlich einlösen. 2007 kam er über das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik nach Tanger zurück und arbeitete an der Mülldeponie im Ostteil der Stadt. Er beginnt seine Erinnerungen aber nicht mit Berichten über die Kinder und Mütter, die tagtäglich die feuchten und übel riechenden Müllberge nach etwas Essbarem und für sie Wertvollem durchsuchen, sondern erzählt mir von den vielen wunderschönen Störchen an diesem dreckigen Ort. Auch Störche sind Wandervögel, so wie er, auch sie kommen immer wieder an den ihnen bestimmten Ort zurück.

Unterwegs unter der sengenden Sonne, trafen sie damals einen jungen Globetrotter aus Kamp-Lintfort. Zu dritt wanderten sie ein Stück ihres Weges gemeinsam. Und das gemalte Bild mit dem kräftigen Oberarm? Es zeigt eine Person, der ich nur wenige Tage zuvor begegnet war: Herkules aus der Herkulesgrotte in Tanger.

Ich freue mich sehr, meine Augen verweilen noch ein wenig auf dem Bild. Dann muss ich zum nächsten Termin.

„Ich vermisse Tanger so sehr“, sagt der Mann mit dem vollen grauen Haar. „Und Sie sind so zu beneiden.“ „Wieso?“, frage ich. „Na, weil Sie ein Sohn des Herkules sind.“ Wir schmunzeln und schweigen in einträchtiger Stille. Dann muss ich ihm widersprechen. „Tanger macht uns alle zu Kindern des Herkules, wir müssen es nur zulassen.“


Das Grab von Jalids Mutter

Einige Monate sind vergangen, seit wir zuletzt in Tanger waren. Ich bin in Berlin, es ist Frühling, es ist ein Samstag. Adak und ich sind auf dem Weg zu einem Vortrag in meiner Klinik. Wir hören Nachrichten im Radio, Nachrichten aus Berlin und dem Rest der Welt - keine scheint aber wirklich wichtig zu sein an diesem Morgen.

Dann ein Anruf meines Schwagers Nabil. Ich wundere mich. „Er ruft doch nie so früh an“, denke ich. Ich drehe am Knopf des Radios, bis die Stimme des Nachrichtensprechers endlich verlischt. Ich gehe ans Telefon. Ich kann nicht glauben, was er sagt. Wieder und wieder frage ich nach und sage ihm mit aller Selbstsicherheit, die ich nur aufbringen kann, dass es nicht wahr sein kann.

Für einen Augenblick kann ich nur schauen, sehen kann ich nicht, meine Lippen beben, können aber nichts sagen. Mein Herz setzt aus, ich bin der Ohnmacht nahe.

Ich wünsche mir, dass die Zeit einfach nur stehen bleibt und ich die Wahrheit nicht erleben muss. Ich rufe meine Geschwister an, spreche mit Morad, dann mit meiner Schwester Latifa. Auch sie kann nicht sprechen. Nabil versucht vergeblich, sie ans Telefon zu holen, ich höre sie weinen, wie ich sie noch nie weinen gehört habe. Auch Hamid ist stumm vor Trauer. …

Mama ist tot. Mama ist nicht mehr da.

Wir fahren ins Krankenhaus. Hamid kann uns dort aber nicht treffen, er kann einfach nicht dorthin kommen. Er war gerade auf dem Weg zum Markt am Rathaus Wedding, um die Zutaten für die Harrira zu besorgen, um sie heute Nachmittag zuzubereiten und gegen Abend unserer Mutter zu bringen. Ins Krankenhaus kann er jetzt nicht, die Trauer führt ihn aber in unsere Nähe, zu unserem Zuhause. Latifa ist im Krankenhaus, Morad auf dem Weg zu ihr. Hamid fährt in die Wohnung unserer Mutter, in die Exerzierstraße 9, wo wir fast unsere gesamte Kindheit verbrachten, und ich fahre zu ihm. Er wartet bereits auf der Straße auf mich. Wir sagen nichts, was sollten wir auch sagen. Wir umarmen uns, wie wir es noch nie getan haben, vermissen unsere Mutter, gehen in die zweite Etage, öffnen die Wohnungstür, fühlen uns beide in der Wohnung sicher, fühlen uns unserer Mutter nahe, schweigen, weinen und verabschieden uns voneinander. Er fährt in sein Schuhgeschäft, er sucht die Routine, ich den direkten Schmerz.

Ich fahre zu Mutter. Latifa ist lange schon da. Wir schauen uns an, sehen unsere Kindergesichter und sind hilflos diesem Schicksal ausgeliefert. Wir weinen, wir haben noch nie zusammen geweint. Bekannte und Freunde kommen nach und nach, wie ein Lauffeuer hat sich die schlechte Nachricht verbreitet. Viele müssen wieder gehen, zu groß erscheint der Schmerz, zu klein das Krankenzimmer, in dem meine geliebte Mutter heute Morgen gestorben ist. Ich aber kann den Raum nicht verlassen, ich kann doch meine Mutter jetzt nicht verlassen, ich kann und will es nicht. Ich muss bei ihr bleiben. Nur sie und ich sind jetzt im Raum. Eine unheimliche Stille liegt in der Luft; eine derartige Stille kannte ich bisher nicht. Ich schaue aus dem Fenster, meine Tränen beschlagen das Glas. Ich weine stärker, aber leiser als damals, als ich als Siebenjähriger mit einem Beinbruch im selben Raum im selben Krankenhaus lag. Ich schaue aus dem Fenster und blicke in den Raum im gegenüberliegenden Gebäude, in dem ich noch vor einigen Monaten einen Vortrag für ausländische Ärzte gehalten habe. Ich bin allein im Zimmer mit meiner Mutter, spreche mit ihr. Sie hört mir zu, und ich bitte sie um Verzeihung, Verzeihung dafür, dass ich ihr nicht immer zugehört habe, und danke ihr so sehr dafür, dass sie mir immer zugehört hat, immer da war, wenn ich Zweifel oder Ängste hatte. Nun ist sie tot, sie bewegt sich nicht, aber verrückt meine Seele; sie vergibt mir, ich spüre es in diesem Moment.

Meine geliebte Mutter Zohra ist gestorben, unsere Mutter lebt nicht mehr.

Ich spreche mit meiner Mutter, höre meine bebenden Worte. Ich weiß, Worte erreichen den Himmel, meine Worte verbinden mich mit meiner Mutter.

Ich gehe aus dem Zimmer und treffe im Flur auf den Stationsarzt Dr. Volkan Aykaç´. Er hat Tränen in den Augen, es fällt ihm schwer, mich anzuschauen. Immer wieder gleiten seine Blicke auf den weißen Boden des Krankenhausflurs. Noch vor einigen Tagen gaben wir uns das Versprechen, dass wir auf unsere Mütter aufpassen würden. Seine Mutter lag in meiner Klinik, meine auf seiner Station. Ein Versprechen, das unmöglich zu halten war – irgendwie wussten wir es wohl beide, verbündeten uns aber bei diesem unmöglichen Unterfangen. Wir versuchten unser Bestes, konnten aber nicht gewinnen. Meine Mutter mochte ihn sehr, seine mich. Wir haben beide unsere Mütter verloren und sind nun für immer miteinander verbunden. Ich danke ihm für das, was er für meine Mutter versucht hat. Ich danke ihm für seine Tränen.

Meine Mutter hat mich geformt, mich geprägt, und ich weiß, dass dieser Verlust, dieser so schmerzvolle Abschied, mich für immer verändern wird. Es schmerzt so sehr in mir. Alles tut weh. Ich weiß, dass der so traurige Himmel wieder blau und die Sonne wieder scheinen wird, aber jetzt ist und muss Zeit sein für die Trauer. Dieser Tod ist traurig und so schwer für mich, für alle, die Zohra brauchten und liebten, doch gönne ich meiner Mutter diesen Frieden. Vielleicht auch deshalb frage ich heute nicht ein einziges Mal nach dem Warum. Die letzten Monate waren für meine Mutter sehr schwer, die Schmerzen ihrer Knochen machten ihr jede Bewegung zur Hölle.

„Sie ist frei und unsere Tränen wünschen ihr Glück.“ So sagte es Goethe.

Wo man geboren wird, liegt nicht in der eigenen Hand; wo man sterben wird ebenso wenig. Einzig und allein, wo man seine letzte Ruhestätte haben wird, vermag der Mensch zu bestimmen. Unsere Mutter hatte bereits vor über vierzig Jahren festgelegt, dass sie in Tanger begraben werden möchte. Monat für Monat zahlte sie in eine Versicherung ein, die den Transport nach Marokko sicherstellen sollte. „Vertrag ist Vertrag“, sagte sie immer, wenn man sie danach fragte.

Nun sollte es geschehen.

Wir fuhren zur Moschee nach Neukölln in die Flughafenstraße. Dort wurde sie nach den Riten des Islam gewaschen. Das traurige Gebet ging zum Glück schnell vorüber, ich war zu traurig, um zuzuhören und in die Gesichter der Trauernden zu schauen. Meine Augen schauten nach innen, nach außen waren sie fast blind.

Vor der kleinen Moschee stand ein heller Bestattungswagen, die Sonne prallte auf das leicht verbeulte Heck. Ich berührte es und bemerkte den Schmerz der Hitze in meiner Hand, zog sie aber nicht weg. Ich spürte zwar den Schmerz, fliehen aber konnte aber meine Hand nicht. Ich musterte das Fahrzeug wie ein erfahrener TÜV-Inspektor und konnte keine Klimaanlage erkennen. Dann kam der hagere Fahrer und ich fragte ihn. „Klimaanlage? Nein, das habe ich nicht, ich fahre über Nacht. „Ich traute meinen Ohren nicht. Er wollte meine Mutter nach Düsseldorf fahren, und das bei dieser Affenhitze. „Und wann kommt unsere Mutter endlich nach Tanger?“, fragte ich mit lauter werdender Stimme. „Das weiß ich nicht.“ Ich kochte regelrecht vor Wut. „Das lasse ich nicht zu, auf keinen Fall!“, rief ich, ohne aber zu wissen, wie ich dies verhindern konnte. Aber ich tat alles, um keinerlei Anzeichen meiner Unsicherheit erkennen zu lassen. „Miriam kann mir vielleicht helfen, Miriam“, murmelte ich vor mich hin.

Miriam ist die gute Fee der marokkanischen Botschaft, immer ein Lächeln auf dem Gesicht und stets bemüht zu helfen. Es war zwei Uhr nachmittags, wie sollte es weitergehen? War Miriam überhaupt da? Ich wählte die Nummer. Es klingelte. Es war laut um mich herum, die vielen Autos auf der belebten Straße, der Bagger auf dem Nachbargrundstück, die vielen Stimmen um mich herum. Nach dem sechsten Klingelton hob jemand ab. Ja, es war Miriam, ich freute mich so sehr, ihre Stimme zu hören. Dann ging alles schnell, sehr schnell, schneller, als ich mir wünschen konnte, und ohne viele Worte. Der marokkanische Botschafter half uns. Wir sollten uns sofort mit der Mutter auf den Weg zum Flughafen machen.

An sich schien es ein unmögliches Unterfangen. Nichts war vorbereitet, die letzte Maschine der Royal Air Maroc würde in dreieinhalb Stunden starten, unsere Pässe waren zu Hause in Spandau, Wedding und Kreuzberg, wir hatten keine gültigen Dokumente aus Marokko für den Transport unserer Mutter, keine Flugtickets. Wir schauten uns an. Ohne auch nur ein weiteres Wort wussten wir: Wir müssen und werden es schaffen, das waren wir uns selbst und unserer Mutter schuldig.

Wir kauften hastig einen rotbraunen Holzsarg, telefonierten noch einige Male mit der Botschaft, diese wiederum mit den Behörden in Casablanca und Tanger. Ich sprach mit den Beamten am Flughafen Tegel, meinen Geschwistern, dem Zollamt. Wir telefonierten, organisierten, hofften und beteten. Der Weg vom einen Ende der Stadt zum anderen erschien mir viel länger als sonst. Dennoch brauchten wir weniger Zeit, und das, obwohl wir uns mitten in der Berliner Rushhour befanden. Als ich aus dem Autofenster schaute, hatte ich das Gefühl, die Zeit würde angehalten.

Und dann, wenige Stunden nach der Trauerzeremonie für unsere Mutter, sitzen wir im Flugzeug nach Tanger: Abdelhamid, der älteste Sohn, Morad, der jüngste, Latifa, die einzige Tochter, Adak, meine große Liebe, ich und unser aller Mutter. Fahren die Mutter heim, sie ist bei uns, wir fühlen sie ganz nah bei uns, sie ist tief in unserem schweren Herzen und ungläubigen Verstand. Noch nie sind wir vorher gemeinsam mit der Mutter in einem Flugzeug nach Marokko geflogen. Jedes Jahr waren wir mit dem Auto unterwegs, die Tickets für den Flug waren für uns damals unbezahlbar.


Wir begleiten sie auf ihrer letzten Reise.

Vater wartet in Tanger auf uns. Als ich ihn anrief, sagte er kein einziges Wort. Noch nie hatte ich ihn sprachlos erlebt, noch nie.

Noch vor drei Stunden waren wir in der Moschee in der Kreuzberger Flughafenstraße, jetzt sind wir alle am Himmel. Hier oben erscheint alles viel leichter – und das ist mehr als nur eine Metapher. Mutter bleibt ganz sicher im Himmel, wir verlassen ihn wieder, im leichten Sinkflug – vorerst.

In Hektik und Schmerz suchte Latifa den Pass meiner Mutter in der Wohnung in der Exerzierstraße im Herzen Weddings. Sie fand ihn, wie sie immer alles in unserer Wohnung fand. Mir wurde klar, dass nun mit dem Tod unserer Mutter auch der Wedding für mich nicht mehr das sein würde, was er für mich immer bedeutet hat. Mutter liebte den Wedding. Auch wenn er sich über die Zeit verändert hat, unser Wedding ist er immer geblieben.

Auf den Weddinger Straßen ist mit der Zeit alles anders geworden, aber in Mutter Zohras Wohnung ist die Zeit wie lebendig eingefroren. Schön wie eine kleine Naturoase zeigt sich das Innenleben dieser Wohnung. Die Zimmer, die Tapeten, die Bilder an der Wand sind so, wie wir sie schon als Kinder kanten.

Latifa suchte und suchte. Den deutschen Ausweis hatte sie schnell gefunden, in einem kleinen Stoffbeutel hinter der Tür. Den marokkanischen Reisepass fand sie nicht. Sie suchte und suchte, sie verzweifelte, wollte schon aufgeben. Und dann, im Kleiderschrank, zwischen weißen und bunten Gewändern, fand sie endlich eine Schutzhülle aus braunem Rindsleder: »Royaume du Maroc« stand auf dem grünen Pass mit dem glatten Mantel aus hartem Plastik. »Geboren 1940«, ganz ohne Angabe des Tages und Monats. Darin ein Foto im Querformat. Es zeigte meinen Vater Abdullah in einem vornehmen, dunklen Nadelstreifenanzug mit roter Krawatte, eine rosa Rose am Revers. Es zeigte ihn auf der Hochzeit meines Bruders Abdelhamid mit Marina. Auf der Rückseite stand mit blauer Schrift: »Memo de la casamiento de mi hijo Hamid«, unterschrieben mit „Sehouli“.

Meine Mutter hatte das Bild stets bei sich. Immer wenn sie auf Reisen war, nahm sie es mit, nach Tanger oder nach Mekka, das waren ihre wichtigsten Ziele. Abdelhamid, der mit sieben Jahren Marokko an der Seite meiner Mutter und meiner Schwester verließ, aber alles über Marokko zu wissen schien, erzählte, dass viele marokkanische Lieder davon handeln, dass die Jungen rennend und wütend das Heimatland verlassen und die Alten liegend und in Stille die Heimaterde wieder berühren.


In Tanger wartet Vater. Abdelhamid wird Vater nach mehr als vierundzwanzig Jahren wiedersehen. Tanger bringt uns wieder zusammen, Tanger wird uns nie wieder loslassen. Tanger, ich danke dir!

Ich halte beide Pässe meiner Mutter in meinen zitternden Händen. Die Ecken des deutschen Ausweises meiner Mutter sind vom Beamten abgeschnitten und ungültig gemacht, der marokkanische Pass ist noch gültig. Wir legen das Bild von Vater zu den beiden Dokumenten meiner geliebten Mutter.

Das Flugzeug beginnt in großer Höhe den Landeanflug. Ich sehe Tanger, sehe Gibraltar, beide Orte weniger als einen Fingerbreit voneinander entfernt. Wir landen etwas holprig, aber sicher. Wir sind angekommen und haben die traurigste aller Frachten bei uns. Wir schleichen nahezu über das Rollfeld. „Ibn Batutta“ steht da in großen Lettern. Wir steigen aus, meine Mutter wird getragen, der Wind tobt, mein Vater läuft mit verletztem Herzen hin und her und erwartet uns und den Schmerz des unvermeidlichen Abschieds.

Alle wollen den dunklen Sarg meiner Mutter tragen, mein Vater voran, niemand macht ihm diesen Platz streitig. Wir laden den Sarg nach der kurzen Fahrt zu unserem Haus wieder aus. Mutter kommt für den Rest der kurzen afrikanischen Nacht ins Haus meines Vaters. Diese Nacht öffnet Seelen. Wir gehen in unsere Wohnung im neuen Stadtzentrum Tangers, am Boulevard, und schlafen erschöpft ein, schlafen ganz ohne Traum. Ich kann den aufregenden Tag nicht Revue passieren lassen, habe nur noch einen Wunsch, dass die kühle Nacht meine Trauer einfach schlucken wird. Ich habe Angst vor dem Morgengrauen. Angst macht einsam. Alles ist entschleunigt. Ich schlafe ein.

Der erste Tag, die erste Nacht des dreiteiligen Trauerfestes beginnt, so will es die Tradition.

Nun geht es weiter. Wir müssen Mutter auf die letzte Etappe begleiten. Wir fahren Kolonne. Fast genau vor einem Jahr war ich schon einmal Teil einer Kolonne, jetzt aber geht es nicht zum Königspalast. Der Beginn des Weges jedoch ist der gleiche. Zuerst vorbei an der Moschee Mohammed V., diesmal aber fahren wir hinter unserer Königinmutter, zum Friedhof Al Moujahidine.

Alle tragen wir den hölzernen Sarg. Er wird leichter, mein Herz schwerer. Ich bin wieder in der Moschee, ganz nah dem Placa de Iberia, wie vor einem Jahr, aber nun beten wir für meine Mutter, wenige Momente vor dem eigentlichen Begräbnis auf dem Friedhof, so will es der Brauch.

Ich schaue hoch im stillen Haus des Gebets, es ist noch stiller als sonst. Ich bewundere die Farben der gebogenen Fenster aus mintgrünen, orangefarbenen, blauen und roten Glaselementen, kann mich aber nicht daran erfreuen. Die Farben tragen alle Töne des irdischen Lebens, farbenprächtig und bunt wie die Vergangenheit und die Zeit, die einem noch zugeteilt ist. Die Gegenwart heute erscheint mir mit dem Tod meiner Mutter nur grau.

Durch den Tod meiner Mutter erkenne ich den Anfang und die Mitte meines Lebens.

Noch gestern beteten wir für unsere Mutter in Kreuzberg, in Berlin, jetzt sind wir in Tanger und beten weiter, dieselben Worte an unterschiedlichen Orten, aber mit nur einem Ziel, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Aus zwei Orten ist mit dem Gebet einer geworden. Das Gebet für unsere Mutter hielt alles an, die Orte, die Zeit, alles, nur die Tränen nicht. Die Tränen fallen stets nach unten, zur Erde hin, die Tränen erinnern uns daran, dass wir nur Menschen sind und nur für eine gewisse Zeit auf Erden. Es ist ein Geschenk, wenn man um jemanden weinen kann. Es ist wahrhaftig das schönste Geschenk, jemanden geliebt zu haben. „Wir werden geformt und gestaltet durch das, was wir lieben“, heißt es bei Goethe.

Wir legen den Sarg mit meiner Mutter in den umfunktionierten Ambulanzwagen, der uns vom Flughafen abgeholt hat. Ich glaube, für den Fahrer lässt sich mit den Toten mehr Geld verdienen als mit den Lebenden.

Vater setzt sich neben den Fahrer, einen kräftigen, ja übergewichtigen, freundlichen Mann. Wir fahren im Auto eines Verwandten hinterher und machen uns auf den Weg zum Friedhof. Die Kolonne fährt langsam und bestimmt für kurze Zeit den Rhythmus des Verkehrs auf der Hauptstraße. Alles wirkt langsamer und leiser als sonst. Wir sind am Friedhof angekommen.

Mutter wird wieder getragen. Von Mal zu Mal erscheint sie mir leichter, aber meine Kraft schwindet zunehmend.

Wir laufen durch den Eingang des Friedhofs, ein lieblos erscheinender Torbogen, der alles andere als eine Abgrenzung ist. Von überall kann man auf den Friedhof gelangen. Unzählige Grabsteine, dicht bei dicht, die meisten scheinen mir lange nicht mehr besucht worden zu sein, nur hier und da etwas vergessenes Grün oder eine farbige, aber vertrocknete Blume. Ich hoffe, dass Mutter eine besonders geschützte Grabstelle erhalten wird. Direkt an einer scheinbar vergessenen, aber der Sonne trotzenden Palme, Grabstein 991, ist ihr Platz.

Die kräftige Palme schützt das Grab, lässt aber auch direkte warme Sonnenstrahlen zu. Mutter würde es wohl gefallen. Der Wind ist schwächer, aber dennoch stark genug, um die schweren Palmwedel zum Schlagen zu bringen. Der Sarg aus dunklem, braunem Holz gleitet in die ausgehobene Grube, mit Seilen gehalten von hungrigen Männern vom Friedhof, die von den Beerdigungen etwas Geld erhoffen. Der Sarg gleitet vorbei an der aufgeworfenen trockenen Erde in die Tiefe. Minze, Salbei, Myrrheblätter und Feldblumen werden auf diesen Hügel der Trauer gelegt, der starke Wind ruft unverständliche Worte. Die Männer sprechen arabisch, die wenigen Frauen singen still. Wir kämpfen mit den Tränen und verlieren diesen unsinnigen Kampf. Mutter ist im Himmel, wir sind am Boden. Wir versinken im stummen Schmerz.

Tanger, ich danke dir, dass du mich so weinen lässt. Fragen über Fragen. Neue und immer neue Fragen schreien aus mir heraus. Was kommt nach diesem irdischen Leben?

Ich erinnere mich an die Worte Khalil Gibrans: »Wenn ihr wirklich den Geist des Todes schauen wollt, öffnet eure Herzen weit dem Körper des Lebens. Denn was heißt sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen? Und was heißt nicht mehr zu atmen anderes, als den Atem von seinen rastlosen Gezeiten zu befreien, damit er emporsteigt und sich entfaltet und Gott suchen kann? Nur wenn ihr vom Fluss der Stille trinkt, werdet ihr wirklich singen.

„Mutter, ich höre dich singen“.


Vor mehr als drei Monaten wurde meine Mutter von Mohammed in Berlin zu ihrer Geschichte interviewt. Sie sollte von ihrer persönlichen Geschichte, dem weiten Weg von Tanger nach Berlin erzählen und davon berichten, wie sie ihre Kinder in der Fremde aufzog.

Mutter hatte das Gespräch mit dem feinfühligen Mohammed viel Freude gemacht, sie hatte marokkanisches Gebäck und einen frischen Minztee zubereitet, und das trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit und der starken Schmerzen in den verschlissenen Kniegelenken.

Und genau jetzt, am Tag ihrer Beerdigung hier in Tanger, sehe ich die Ausgabe der Frauenzeitschrift La kulli Anissa (»Für alle Frauen«) am Kiosk, dem Baqqal gegenüber unserem Haus. Ich kann es kaum glauben. In arabischer Schrift halte ich den Artikel über meine Mutter in meiner Hand. Drei Schwarzweißfotos sind abgebildet. Eins zeigt Mutter als junge, wunderschöne Frau zusammen mit meinen beiden älteren Geschwistern. Es ist in Tanger aufgenommen. Das zweite Bild zeigt meine jungen Eltern und wieder Hamid und Latifa in einem deutschen Fichtenwald. Das dritte Bild stammt vom letzten Jahr im Garten meiner Brüder, ganz nah dem Minzebeet von Hamid mit der kräftigsten Pfefferminze Berlins.

Mutter ist in diesem Bild das Zentrum. Sie schaut ernst, aber stolz, umrahmt von uns drei Söhnen. Hamid ernst, Morad mit der Andeutung eines Lächelns, ich lächelnd. Latifa war an diesem Tag nicht dabei. Der Artikel erzählt die Geschichte meiner Mutter und endet mit ihrem Wunsch, in Tanger beerdigt zu werden, und ihrer Bitte, dass ihre Kinder ihr diesen Wunsch erfüllen mögen. Ich halte die Worte, die ich nicht lesen kann, halte die Bilder in meinen zitternden Händen. Ich weine und lächle.

Eine unwirkliche Nacht geht zu Ende. Das Frühstück aus schwarzen Oliven, Baguette, Choritto und arabischem Kaffee, schmeckt steril, selbst die Farben der Speisen sind blass und ohne Kontur.

Nun fahren wir alle zum Friedhof, so will es der Brauch. Gestern waren wir im engen Familienkreis zusammen. Ein prächtiger Ochse wird geopfert, heute wird er zu Ehren meiner Mutter den Gästen serviert. Auf dem Friedhof begießen wir das Grab mit Rosenwasser und unseren schweren Tränen. Die anderen Gräber sind trocken, ausgetrocknet von der Sonne. Eine wunderbare Stimmung liegt über dem Grab, trotz der hungrigen und gierig wirkenden Wegelagerer links und rechts, die mit der Trauer der Menschen Geldscheine und Münzen verdienen wollen.

Die Gesänge der trauererfahrenen Männer werden lauter, plötzlich berührt der Wind uns, er umarmt uns – bestimmt, kräftig, aber sanft. So sanft, wie er es noch nie in diesen Tagen und Nächten getan hat.

Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel, der unendlich viele Tränen geweint hat, lächelt für einen Augenblick und flüstert mir zu: „Nach sechs langen Monaten der Dürre regnet es an diesem Abend, Allah sei gepriesen.“ Ich denke, auch der Himmel weint vor Trauer und schenkt zugleich neues Leben.

Wir sind erschöpft, wollen einfach nur schlafen. Die lieblose Tanzbar neben der Wohnung meiner Mutter peinigt uns mehr als die unzähligen gierigen Mücken im Zimmer. Ich bin nicht in der Lage, wütend zu sein. Der Tag zieht wie in einem Kurzfilm im Zeitraffer an mir vorbei.

Die Farben des Tages versteckten die Trauer. Aus Schwarz wurde Blau, aus Blau wurde Gelb, aus Gelb wurde Rot, aus Rot wurde Schwarz. Jetzt bleibt es schwarz. Ich kann nicht einschlafen, wünsche mir, ich könnte es, um für einige Stunden den Schmerz und die Trauer loszulassen. Der Morgen scheint unendlich weit. Ich drehe und wälze mich, ich kann nicht schlafen. Ich stehe auf und trete an das kleine Bücherregal im Flur, ziehe ein etwas zerfetztes altes Buch hervor und schlage es in der Mitte auf. Ein Gedicht von Anaïs Nin:

„Lass deine Träume wie einen Drachen in den Himmel steigen. Du weißt nie, was sie dir zurückbringen werden: ein neues Leben, einen neuen Freund, eine neue Liebe, ein neues Land.“

Ich lese diese Worte zwei oder drei Mal und bin dann endlich eingeschlafen.


Die Betgesänge der alten Männer helfen allen, die Trauer besser zu verkraften. Die Gesänge betäuben meine Sinne. Ich genieße diese Taubheit für einen Moment. Mutter scheint allgegenwärtig zu sein. Die Verbindung fühlt sich sogar stärker und näher an, als ich sie mir zu Lebzeiten vorstellte.

Ich wusste, wir alle wussten, dass Mutter sehr krank war, aber wir versuchten immer, sie und uns selbst zu beruhigen, und hofften, dass es ihr schon bald besser gehen würde. Wir wagten nicht, über einen Abschied nachzudenken, geschweige auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

Wie erzählte es mir gestern Hans Tischleder, Leiter des Goethe-Instituts in Tanger, der von den Marokkanern ehrfürchtig „Monsieur Hans“ gerufen wird? Es sei wunderbar, dass sein verstorbener Vater immer da ist. Monsieur Hans lebt seit mehr als dreiundzwanzig Jahren in Tanger; er weiß alles, was Deutschland und Marokko und ihre gemeinsame Welt berührt. Wir sitzen in seinem engen Büro in der ersten Etage am Boulevard kurz vor dem orientalischen Springbrunnen, trinken einen Espresso mit sehr viel heißer Milch, das mandelbraune Gemisch serviert in einem schmalen Glas ganz ohne Muster, mit drei großen Stücken Würfelzucker in krummer Rechteckform. Monsieur Hans raucht gerne. Der Rauch seiner Zigarette hat dieselbe starke Farbe wie sein volles, langes graues Haar. Auch sein Gehilfe Hicham hat langes Haar. Monsieur Hans meint, dass man marokkanischen Männern mit langen Haaren stets Respekt zollen muss, da sie eine große Persönlichkeit haben, voller Überzeugung sein und eine besondere Kraft besitzen müssen – Kraft, um die abschätzigen Blicke der vielen Kurzhaarigen auszuhalten.

Die hellen Augen des Monsieur Hans haben viel gesehen, und sie funkeln, wenn er davon erzählt. Er hat viel gesehen, hat Menschen und Worte studiert und bemerkt, dass sie einander brauchen und dass die Geschichten die Quelle der Weisheit sind. Eine Weisheit, die stets auf der Suche nach mehr ist. Auf einer Suche ganz ohne Hast, immer in Bewegung, in die Vergangenheit, Gegenwart, manchmal rückwärts, manchmal vorwärts, manchmal nach rechts und dann wieder nach links. Diese Suche darf nie ins Stocken geraten.

Monsieur Hans ist sehr beschäftigt. Nur einen jungen, aber sehr tüchtigen Gehilfen hat er. Die Ruhe und Gelassenheit vieler Marokkaner macht ihn immer wieder wahnsinnig. Für Erzählungen scheint er sich immer Zeit zu nehmen, für die anderen Dinge opfert er die Zeit mit großer Mühe. Monsieur Hans erzählt und erzählt. Er liebt die Spannung dabei, ihn fasziniert die Verletzlichkeit des Menschen und seine Kraft, wütend und heißblütig zu sein, eine Kombination, die der Mensch eigentlich nicht zulassen möchte. Er ist betrübt darüber, dass diese menschliche Charaktereigenschaft über die Generationen verloren geht. Hier in Tanger darf er sie zulassen. Vielleicht auch deshalb kann er sich von Tanger und seinen Menschen nicht lösen.

Monsieur Hans trägt viele der schönen und schmerzhaften Erinnerungen dieser Stadt in sich, hat sie zu seinen gemacht. Seine Augen funkeln wie Saphire unter seinen grauen, langen Haaren, wenn er Geschichte über Geschichte von Tanger und seinen Menschen erzählt. Er kommt aus Frankfurt, seine Seele aber scheint dem Stamm der maurischen Märchenerzähler zu entstammen. Darauf ist er stolz. Die Geschichten helfen ihm dabei, seinen stillen Schmerz zu ertragen. Nicht jeder Schmerz tritt in die Vergessenheit. Nicht jeder Schmerz muss gestillt werden. Mancher Schmerz muss bleiben, damit die Seele weinen kann. Nur wenn sie weint, kann sie vielleicht glücklich werden.

Morad, Latifa und Hamid fahren heute wieder zurück. Ich bringe sie zum Flughafen. Mutter kam vor drei Tagen nach Tanger, heute verlassen drei ihrer Kinder diesen Ort wieder. Adak und ich machen uns auf den Weg zum Geburtsort meiner Mutter, nach Buhamsi in Beni Aross, etwa achtzig Kilometer entfernt von Tanger, Richtung Tetuan.

Ich erinnere mich an meine Kindheit. Der Weg zu den Verwandten in den Bergen war anstrengend, die Straßen sandig, rau, die Hitze unerträglich im Sommer. Wir fuhren zum Markt Khmiss, was Donnerstag bedeutet. Die Familie meiner Mutter, unzählige Benrohos, wartete stets auf uns und unsere vielen schweren Koffer, mit vielen Mauleseln und Eseln und vielen Angehörigen.

Drei Stunden brauchten wir für den holprigen Weg, vorbei an unzähligen Bächen, Kakteen und Olivenbäumen. Die Tiere kannten den Weg so gut, dass sie niemals in die Ferne schauten. Mir schien er unendlich zu sein; ich hatte kein Gefühl für die Entfernung.

Die Verwandten erwarteten die Frau, die als einziges Kind von fünf Schwestern und einem Sohn in der großen Stadt aufwuchs. Deren Mutter hatte ein so inniges Verhältnis zu ihrer Schwester, dass sie bei der Geburt ihres fünften Kindes der kinderlosen Schwester ihre Zohra mitgab. Sie sollte sie wie eine eigene Tochter aufziehen, für sie sorgen. Die Tante trug die kleine Zohra auf dem Rücken den großen Berg hinunter. Mehr als drei Stunden brauchte sie, bis sie den Markt Khmiss erreichte. Müde wurde sie nie, auch nicht, als es mehr als achtzig Kilometer weiter zu Fuß nach Tanger ging. Die Mutter blieb Mutter, und Zohra nannte auch ihre Tante Mutter, das war für das kleine Mädchen nie ein Widerspruch. Auch als sie älter wurde, erzählte sie voller Liebe von beiden Frauen. Die Mutter aus den Bergen liebte ihre Schwester, liebte ihre Tochter und wünschte beiden ein besonderes Glück, eine besondere Zukunft. Die Tante sorgte für Zohra, ermöglichte ihr die Ausbildung zur Schneiderin. Das „Certificado“, in Spanisch ausgestellt im Jahr 1951, erfolgreich abgeschlossen, Bordüre und Stickereien, eingerahmt in einen hölzernen Bilderrahmen, aufgehängt in der Wohnung in Tanger. Ich habe dieses Dokument von der Wand genommen, in den Koffer gepackt und mit nach Berlin gebracht. Ich bin stolz auf dieses Papier, darauf, dass Mutter erfolgreich war, ohne dass sie lesen oder schreiben konnte. Meiner Mutter war es stets wichtig, dass ihre Kinder eine Ausbildung abschlossen. Die Schule war ihr heilig. Ohne dass sie es uns immer wieder sagte, ließ sie es uns spüren und freute sich mit uns, wenn wir eine gute Note erzielten, betete die ganze Nacht, dass wir in den Prüfungen die richtigen Fragen bekamen.

Heute erreichen wir schnell und bequem das Bergdorf meiner Mutter. Bepackt mit unzähligen Säcken frischen Ochsenfleisches, fahren wir auf geteerten Straßen zum Markt und mit dem Landrover das letzte Stück den Berg hinauf. Nur etwa zwanzig Minuten dauert es nun, bis wir den Geburtsort meiner Mutter erreichen, vorbei am Grab meines Großvaters, eines gutsituierten Bauern und Naturheilers, an den ich mich sehr gut erinnern kann.

Er war im Alter blind geworden, so kannte ich ihn nur, ein netter Herr, der stets freundlich zu uns sprach und dessen dunkle Augen auf uns ruhten, ohne uns zu sehen. Unsere Mutter brachte uns zu ihm und wir hörten ihm ehrfürchtig zu. Wir verstanden ihn, ohne dass wir seine Worte verstanden. Um sich ein Bild zu machen, wie wir uns im Vergleich zum letzten Jahr verändert hatten und wie groß wir nun waren, studierte er unsere Hände und berührte unsere Gesichter. Er wusste genau, wie wir aussahen, freute sich und sagte unserer Mutter, dass Gott uns stets beschützen würde.

Ich laufe weiter, vorbei an der neuen Grundschule für die vielen Kinder, die von großen Traktoren mit Lampen träumen, von denen sie bisher nur gehört, sie aber nie gesehen haben. Wir sind auf einem der höchsten Berge angekommen, mit wenig Gepäck, viel Essen und meiner Mutter im Herzen und in den Gedanken. Die beiden indigoblau und weiß gestrichenen Lehmhäuser mit den Dächern aus Blech sind unverändert. Heute haben sie elektrisches Licht.

In dem Haus der Eltern lebt nur noch die Familie des Sohnes, es ist Tradition, dass die Töchter ins Haus des Ehemannes ziehen, so wie in vielen Kulturen, in Indien und anderen Ländern.

Die Trauerfeier für meine Mutter war wunderschön. Die Stille und Geborgenheit im Kreise der Trauernden wird mir unvergessen bleiben. Unzählige Menschen von allen nahen und fernen Hügeln kamen. Die Benroho sind ein großer und stolzer Stamm. Jüngere und ältere Frauen kamen, schenkten meinen drei Tanten und meinem Onkel Säcke mit Mehl und Zucker. Eine ältere Frau, die unsere Mutter als Kind kannte, trat auf uns zu. Sie lächelte und umarmte uns mit langsamen Bewegungen. Sie trug einen kleinen Sack bei sich. Sie öffnete ihn, übergab uns ein kleines Glas mit Honig, dunkelbraun, fast schwarz. Wir kosteten ihn sofort; ein wunderbarer Geschmack voller warmer Süße, der angenehm auf der Zunge brannte. Dann griff sie wieder in den Leinensack und holte vier rote Früchte heraus. Ich nahm staunend eine Frucht in die Hand. Es waren rote Kaktusfeigen. Die Frau war sehr stolz auf ihre Feigen. „Nur an ganz wenigen und schwer erreichbaren Plätzen kann man sie finden, meist an gefährlichen Steinhängen“, sagte sie. „Eure Mutter war als Kind ein so starkes Mädchen. Ich habe lange gesucht, was ich euch schenken kann. In diesen roten Feigen liegt große Kraft, eine Kraft, die euch vor allen schlimmen Krankheiten schützen wird. Möge Zohra in Frieden ruhen.“

Alle Frauen trugen ein sanftes Weiß, nur wenige rote oder blaue Streifen durchbrachen das Bild. Die Männer trugen weiße Djellabas, das traditionelle, knöchellange Gewand aus Schurwolle mit spitzer Kapuze. Die Beileidsbekundungen klangen aufrichtig und linderten den Schmerz in meinem Herzen. Viele Menschen schienen die Trauer um Zohra in sich zu tragen. Die kleinen und großen Geschichten über die Begegnungen mit meiner Mutter machten sie für viele Augenblicke für mich wieder lebendig. Ich spürte eine große Zufriedenheit und einen friedlichen Stolz, dass wir nun hier waren. In Marokko wird der Tod scheinbar stärker erlebt, er ist allgegenwärtiger, weniger bedrohlich, als ich es aus Deutschland kenne. Die Familien sind groß, die meisten Frauen gebären mindestens vier Kinder, viele mehr. Es wird mehr geboren und mehr gestorben und auch die Kinder nehmen schon früh an den langen Trauerfeiern teil und verinnerlichen diese uralten Rituale. Nur wer in Gemeinschaft lebt, kann in Gemeinschaft sterben.

Alle kennen den überlieferten Speiseplan: Am ersten Tag wird Couscous serviert, am zweiten Tag wird ein wertvolles Tier geschlachtet – eine Ziege, ein Lamm, ein Ochse, je nach Schwere des Geldbeutels der Familie. Am zweiten Tag wird die »Douara« gekocht, dabei werden die Innereien zubereitet – mit sehr viel Knoblauch, roter Paprika, Kreuzkümmel, etwas Salz, frischem Koriander, Chili und Olivenöl. Die Speisen ehren den geliebten Menschen.

Die Verwandten und Freunde beschenken die trauernde Familie mit selbst zubereiteten Speisen, Harrira, Gehacktem oder was immer sie mitbringen mögen. Am dritten Tag wird das Fleisch endlich serviert, lange zubereitet, meist mit Mandeln und gedünsteten frischen Backpflaumen vom Markt.

Auch die Gebete kennen alle. Die Männer singen Verse aus dem Koran, ohne dass aus dem Koran gelesen wird. Die alten Männer führen den Chor, singen aus der frischen Erinnerung. Es fällt ihnen leicht, zu singen, ohne sich zu bewegen. Ich lausche den Worten, verstehe sie nicht. Aber sie geben Zuversicht und lindern meine Trauer. Die Texte klingen für mich ähnlich, auch wenn ich weiß, dass sie verschieden sind. Vielleicht geht es immer um die gleiche Botschaft, die eine Trauer.

Alle Gäste singen, ein jeder gibt seine Töne hinzu. Es klingt wunderbar. Nie zuvor sind sich diese Menschen und ihre Stimmen so begegnet, nie wieder wird es möglich sein, diese Verse so wiederzugeben. Sie symbolisieren für mich die Einzigartigkeit des Menschen – wie der Geschmack einer Speise, die trotz ähnlicher Zutaten jedes Mal anders den Gaumen trifft; einzigartig wie der Mensch, der geboren wurde und jetzt gegangen ist. Er wurde aus den gleichen Zutaten der Natur zusammengesetzt wie alle Menschen, aber in einer Weise, die es niemals zweimal geben kann. Der Mensch ist die geheimste aller Rezepturen.

In vierzig Tagen wird erneut eingeladen und meiner Mutter gedacht, in Berlin, Tanger und Buhamsi, und es wird zu gleicher Zeit unterschiedliche Speisen geben: Pizza, Couscous und Ziegenfleisch. Allen wird es schmecken, jeder ist nur bei einem Fest, Mutter aber wird überall dabei sein.

Wir schlafen tief und werden von den hohen Bergen beschützt. Sie haben schon unzähligen Weinenden beigestanden. Ihre Erfahrung hilft.

Am frühen Morgen wachen wir wieder auf, und ich frage mich ein erneutes Mal, ob alles doch nur eine Fiktion, ein Schabernack meines Verstandes war. Die Verwandten servieren uns ihr bestes Frühstück: Olivenöl, schwarze Oliven, selbstgemachtes Weizenbrot, Spiegeleier, in Olivenöl gebraten, und grünen Minztee. Wir sind sehr zufrieden, vielleicht aber aus deutscher Gewohnheit fragen wir nach einem Apfel. Meine Cousine lächelt und verschwindet für etwa eine halbe Stunde. Dann kommt sie mit drei kleinen, etwas unförmigen Äpfeln zurück. Sie strotzt vor Stolz. Wir lächeln und haben denselben Gedanken: „Ein Königreich für einen Apfel.“ Wir schämen uns für den unnötigen Wunsch, aber genießen den süßen Geschmack der Bergäpfel.

Den Weg zurück vom Dorf meiner Mutter zum Marktplatz gehen wir zu Fuß, vorbei an einer Schule, Madrassa, wo kleine Jungen und Mädchen ganz ohne Federtasche und Schulranzen auf den Holzbänken der Lehrerin zuhören. Ganz in der Nähe rauchen junge Männer um die Wette. Der Abstieg vom Berg ist holprig, vom Regen der Nacht rutschig, aber Schritt für Schritt geht es mir besser, die Last der Trauer wird kleiner. In der Nähe von Menschen zu sein, die meine Mutter kannten, hilft den Schmerz lindern; in der Nähe der Geschichten über meine Mutter zu sein, macht mich stolz und zufrieden.

Mit dem Tod meiner Mutter weiß ich, dass auch mein Leben endlich ist und dass viele Dinge in ihrer Wichtigkeit im Leben und der Zeit danach vielleicht doch zu häufig falsch eingeschätzt werden. Die Geschichten über Mutter halten sie für mich lebendig. Ich bin den Menschen dankbar für ihre Begegnungen mit mir.

Am nächsten Tag begeben wir uns auf den Weg zurück nach Tanger, wollen aber einen kurzen Abstecher zu einem Marabout machen. Marabout bezeichnet einen islamischen Heiligen oder seine Grabstätte und beruht auf der Tradition des Sufismus, der islamischen Mystik. Der Begriff entstand vermutlich aus dem portugiesischen „Marabuto“ und dem spanischen Morabito“ und wurde bereits in verschiedenen Reiseberichten des 17. Jahrhunderts genannt.

Die typischen Grabstätten zeigen meist mit Kalk geweißte Kuppelbauten und eine kleine Bibliothek mit von dem jeweiligen Heiligen gesammelten und verfassten Schriften zu Religion und Philosophie. Mulay Abd as-Salams Grabstätte liegt etwa vierzig Kilometer von Buhamsi und etwa achtzig Kilometer von Tanger entfernt. Er wurde in Beni Aross im Jahre 1140 geboren. Die Familie meiner Mutter stammt von diesem Heiligen ab, so erzählen es die Menschen hier.


Abdellatif, der Sohn meines Onkels, und Yessin, der Sohn eines anderen vertrauten Verwandten, wollen noch Quellwasser für die Familie holen. Von ganz nah, vom Fuß des Berges am Dorf, ganz nah dem Land, das meine Mutter von den Eltern erbte und wo gerade Saubohnen in voller Pracht zur Ernte hin wachsen. „Quellwasser, das wäre etwas für Schwester Pietra aus dem Franziskanerkloster in Sießen“, sage ich zu Adak.

Schwester Pietra ist eine Künstlerin und beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Wassertropfen. Hierfür hat sie eine eigene Konstruktion ersonnen, die Tropfen auf einen Büttenpapierbogen langsam über Tage und Nächte fallen lässt. Dadurch entsteht ein wundersames kreisförmiges Bild, das sich ständig verändert. Sie berichtet, dass sie schon verschiedenste bekannte und unbekannte Wasserquellen verwendet hat und jedes Bild eine andere Geschichte erzählen und andere Charaktereigenschaften in sich tragen würde: wütende, friedliche, ausbrechende, linientreue, zerfließende, liebende, ängstliche, haltlose, hastige. Aber alle Wörter erzählen vom Leben.

Schwester Pietra regt so zu Begegnungen mit dem eigenen Herzen, mit anderen und mit Gott an. Einfachheit und Langsamkeit scheinen die Maximen ihrer Kunst zu sein. Wer ist aber der Schöpfer des Bildes – Schwester Pietra, oder die Schwerkraft, oder die Luft, Gott oder das Wasser selbst, oder ist es jemand anderes oder ein Zusammenspiel aller? Ist es nur eine wunderbare Möglichkeit, unsichtbare Kräfte um uns und in uns für das menschliche Auge sichtbar zu machen?

Ich fragte Schwester Pietra, ob sie auch Wasser aus dem Orient beobachtet hätte. Sie antwortete mit einem klaren Nein. Adak und ich haben den gleichen Gedanken, als die beiden Verwandten zum Brunnen gehen, um das Wasser in ihre Kanister zu füllen.

Ich erinnere mich nur zu gut an die Tage vor dem Tod meiner Mutter. Schwester Hanna, eine langjährige Patientin von mir, mit der ich jedes Mal bei unseren Begegnungen über die Welt und das Herz philosophiere, wollte eigentlich nach Assisi. Weil ihre Blutwerte den Verdacht auf ein erneutes Fortschreiten der Krebserkrankung vermuten ließen, kam sie nach Berlin in meine Sprechstunde. Ich sah sie kurz auf dem Flur meiner Klinik. Wie gewohnt trug sie ihre feine graue Tracht, ein schön anzusehendes Ordenskleid, der Kopf ist mit einem schwarzen Schleier bedeckt.

Ich veranlasste eine Röntgenuntersuchung, um Klarheit über die Tumorsituation zu bekommen. Es war ein Donnerstag im sonnigen Frühling, wir begrüßten uns und freuten uns trotz des beängstigendenAnlasses über unser Treffen. Sie erzählte mir, dass sie ein Geschenk mitgebracht hatte. Ein Geschenk anzunehmen fiel mir auch dieses Mal schwer. Ich freue mich sehr darüber, aber es ist mir unangenehm. Ich bedankte mich und vertröstete sie auf den nächsten Tag, den Freitag. Am Freitag traf ich sie wieder und sagte ihr, dass wir am Dienstag die notwendige neue Therapie in einer Ärztekonferenz besprechen und ich ihr davon berichten würde. Wieder sprach sie mich auf das Geschenk an, wieder vertröstete ich sie auf den nächsten Tag. »Ich habe morgen eine Lesung aus meinem Buch Marrakesch in Potsdam bei einer sehr netten Patientin und Galeristin, in einem wunderschönen Haus, da kommen Sie einfach mit, und dann können Sie mir das Geschenk gern übergeben. Ohne zu zögern, stimmte Schwester Hanna zu, und wir verabredeten uns für den Samstag.

Am Samstag starb meine Mutter. Nach vielen Jahren weinte ich wieder wie ein kleines Kind. Ich weine so selten, das letzte Mal lag mehr als zwanzig Jahre zurück, als meine Schwester Latifa in Tanger heiratete und das Elternhaus verließ.

Als ich für einen kleinen Moment allein war, weinte und weinte ich und wusste, dass ich nun wohl erwachsen bin. Gegen Mittag rief ich Schwester Hanna an und berichtete ihr vom Tod meiner Mutter und sagte ihr, dass ich nicht imstande sei, die geplante Lesung zu halten. Hans Georg Hoffmann, der Ehemann einer meiner Patientinnen, hatte vor einigen Wochen meine Mutter kennengelernt. Er vertrat mich bei der Lesung im Haus von Traudl Bauscher in Potsdam. Ich danke beiden sehr dafür.


Zurück aus Tanger fand ich das Geschenk aus dem Kloster direkt auf meinen Schreibtisch. Schwester Pietra schickte mir einen Brief, und in dem mit schwarzer Tinte geschriebenen Brief lag eine Fotografie. Im Kloster Sießen leben Schwester Hanna und Schwester Pietra mit 135 anderen Ordensschwestern. Nach unserer Abreise aus dem Kloster einige Wochen vorher, kam Schwester Pietra der Gedanke, dieses Bild uns zu schicken, da wir bei unserem Besuch dieses von ihr geschaffene Kunstwerk nicht sehen konnten. Es ist der Blick in eine Lehmgrube. Der Betrachter steht vor der Grube, auf derselben Ebene wie der Grubenboden. Die Grube ist mit einem großen Stein oben verschlossen. Durch einen schmalen, länglichen Spalt im Stein fällt leuchtendes und helles, aber nicht grelles Licht in die abgedunkelte, aber beruhigend erkennbare Grube mit dem steinernen Relief. Das Licht versinnbildlicht Zuversicht und Geborgenheit. Dieses Bild beschreibt und heißt „Bruder Tod“. Der Tod gehört zum Leben. So sagen es die Schwestern: „Oft überrascht er uns und konfrontiert uns mit Angst, Schmerz und Leid, mit Ohnmacht und Hilflosigkeit, mit Loslassenmüssen und Verlust. Wir sind herausgefordert, eine Grenze zu überschreiten, ohne zu wissen, was kommt.“

An dem Donnerstag wollte ich die Botschaft nicht entgegennehmen, am Freitag nicht und vertröstete auf den Sonnabend. Am Sonnabend starb meine Mutter.

War der Brief, das Bild ein heimlicher Vorbote?

Als mein Vater meine Mutter und meine beiden Geschwister Latifa und Abdelhamid aus Tanger nach Berlin abholte, nahm meine Mutter Zohra nur ein Utensil aus der Heimat mit, das wohl nicht schwer und unhandlich sein durfte, aber ihr in grauen Zeiten Halt geben und ihre Sinne zu erwecken vermochte. Was konnte es sein? Ein Amulett? Ein Bild? Ein Kleidungsstück? Ich halte es in meiner Hand.

Noch vor einigen Wochen, als Mutter noch lebte, fragte ich danach. Mutter hatte es weggeschlossen, man konnte es aber bewundern, durch die Vitrine des hellbraunen Schranks im klassischen deutschen Bauernstil, neben bunten Porzellanvasen, verziert mit Pferden, und großen chinesischen Esstellern, schön anzusehen mit silbernem Bauch. Jetzt, nach Mutters Tod, halte ich es in der Hand. Ich öffne es, das Kupferrot schimmert, es riecht nach dem Atem der Minze. Auf ihrem Boden steht „Théière Moulay Hassan“. Diese Teekanne gab meiner Mutter die notwendige Kraft, die eigene Heimat zu verlassen und eine neue Welt für ihre Kinder zu erschließen – und das, ohne die eigene Identität und die eigenen Wurzeln zu vergessen. Die Teekanne drückt auch ihre Gastfreundschaft aus; sie brachte sie mit, ohne zu wissen, wann und mit wem sie die nächste Teezeremonie in der Fremde erleben würde. Der Minztee machte aus Gästen Freunde fürs Leben.

In Adaks Kreuzberger Wohnung in der Zossener Straße lasse ich das kühle Wasser aus den rostigen Rohren auf die aus Tanger mitgebrachte Minze fallen. In Marokko wächst die edelste Minze der Welt. Ich setze das Wasser zum Kochen auf den schweren Herd, gebe etwas schwarzen, groben Tee in die wartende Kanne, gieße nur ganz wenig kochendes Wasser darüber, um die trockenen Teeblätter erwachen zu lassen, gieße das Wasser wieder ab, fülle dann die ganze Kanne. Jetzt endlich darf das heiße Wasser den durch die erste Berührung erwachten Tee umschließen und liebkosen. Vorsichtig greife ich mit ganzer Hand die wartenden frischen Minzezweige und drücke sie zärtlich in das heiße, geheimnisvolle Gemisch in der Teekanne. Für einige Minuten darf sie jetzt auf die beißende Herdflamme, viel weißer Zucker gesellt sich dazu. Voller Ungeduld und Begierde beschaue und belausche ich den werdenden Tee und warte auf den Moment kurz vor dem Siedepunkt, um die Kanne von der Flamme zu nehmen. Ich darf diesen Augenblick auf keinen Fall verpassen, muss mich konzentrieren, da sonst die Zeremonie verloren ist und das Vorspiel umsonst war. Zum Glück erspüre ich den richtigen Zeitpunkt, bevor meine Augen das Beben des Wassers bemerken. Sanft gieße den Tee durch den eleganten Hals der Tülle in das erste Teeglas mit dem orientalischen Ornament aus grünen und goldenen Mustern und dann wieder zurück. Ein Umrühren in der Kanne würde nur die Blätter von den Zweigen reißen und sie bitter werden lassen. Als kleine Entschuldigung für die vorübergehende Trennung gebe ich frische Orangenblütenbätter, orientalische Mae Zhar, in das bebende Gefäß. Diese Berührung, der erste Kuss berührt das Glas und der Tee wird ohne weiteren Zeitverzug zurück in die Kanne gegeben. Nie darf das Glas ganz gefüllt werden, stets muss genug Platz im Glas sein, damit der kochend heiße Tee sich auf dem Weg zum Mund etwas abkühlen kann. Vielleicht braucht der Tee den Platz aber auch, um sich in einen Rausch zu steigern, bevor er bald für immer verschwinden wird. Es wird kurz tief eingeatmet, ohne dass jemand das bemerkt. Und nun endlich wird der Tee in das noch warme Glas gegeben, das noch vor wenigen Augenblicken so bitter von dem heißen Getränk getrennt war. Meine Sinne erwachen, mein Herz schwillt in tröstlicher Melancholie. Jeder Schluck birgt ein Geheimnis, birgt eine Botschaft, die ich Schluck um Schluck mehr und mehr entziffern kann.

Mutter, ich werde deine Teekanne immer in meiner Nähe haben und werde stets versuchen, sie immer wieder mit deinen Werten aufzufüllen. Mutter, du fehlst mir!

Es ist Sonntag, wir sitzen in Berlin zusammen, alle Geschwister, und planen die Vierzig-Tage-Trauerfeier unserer Mutter. Latifa fragt mich, ob auf dem Foto in der marokkanischen Zeitschrift neben ihr und Hamid nicht die Teekanne abgebildet war. Wir gehen dem sofort nach, und ja, neben einem Radio und drei marokkanischen Teegläsern mit girlandenartigen goldenen Mustern am Rand thront die Kanne, die jetzt bei mir zu Hause jeden Tag auf mich wartet.

Die Familie überlegt laut und aufgeregt, was wir den Gästen am Gedenktag servieren sollten. Hohe und tiefe Stimmen schwirren durch den Raum. Tajine mit Lammfleisch und Backpflaumen, marokkanische Suppe, die Harrira, mit Hühnchen, Köfte, die Rinderhackfleischkugeln mit frischen Tomaten. Traditionell muss es wohl sein. Wir fragen uns nach den Regeln, die wir nicht kennen. Darf man Feuer zum Kochen und Braten machen? Was sind die Riten? Bei unserem Gespräch tritt schnell unsere stolze Unsicherheit zutage. Wir erkundigen uns, und man erzählt uns, dass bei den meisten Trauerfeiern Couscous zubereitet wird. Nabil, mein Schwager, meint sogar, dass die Menschen ganz bewusst dieses Gericht auswählen, weil die unzähligen Hirsekörner die guten Taten des Verstorbenen symbolisieren sollen. Die marokkanischen Berber sagen Kuskus. Den mit heißem Dampf aufgeschütteten Berg aus zerriebenem Grieß, Naturweizen, Gerste und Hirse. Auch in Berlin kann man vorzüglich Couscous essen. Ich liebe das Gericht, von einem sehr netten Franzosen aus Berlin verfeinert, im Le Piaf im schönen Bezirk Charlottenburg. Der Marokkaner akzeptiert nahezu alle Variationen, egal ob nur mit Gemüse, mit Geflügel, Lamm oder Fisch, französisch, italienisch als Trapani bekannt, oder jüdisch. Nur warm serviert muss es sein. Couscous verleitet viele zum Träumen, Freuen, Trauern und Weinen. Nicht das Festmahl, sondern die Menschen entscheiden den Anlass und die Emotionen.

Am nächsten Tag erkundigen wir uns bei einem islamischen Gelehrten in Berlin, was man kochen darf am Gedenktag. „Ihr könnt alles zubereiten, was ihr wollt“, ist seine lapidare, aber ehrliche Antwort. „Fragt euch einfach, was eure Mutter euch erzählt hätte.“ Wir sind erleichtert. Unsere Mutter liebte es so sehr, Gäste zu verwöhnen. Wir beschlossen, Lammkoteletts, Köfte mit Tomaten, Harrira, gebratene Hähnchenstücke, Salate und Pastella zu servieren. Pastella mit Hühnchen, und woher kam sie? Von „Tanger“, einer feinen Patisserie in Düsseldorf. Nach unserer eigenen so geschaffenen Tradition macht Morad auch an diesem Sonntag, wie an den unzähligen vorherigen Sonntagen, in seinem großen Ofen für jeden eine ganz besondere Pizza. Mutter, uns und allen Gästen hätte es gefallen.

Noch zwei Tage bis zu unserer Trauerfeier in Berlin. Ich träume seit dem Tod meiner Mutter jede Nacht von ihr. Die Träume sind nicht immer eine Belastung, fast schon Routine. Ich fürchte mich heute Nacht nicht vor dem Schlafen.

Zum Trauerfest kommen viele Freunde und Bekannte. Alle Kinder und die Kinder der Kinder werden da sein, wunderbar. Der Name Omar wird mindestens zweimal vertreten sein. Omar, in Mali geboren, enger Freund und Arzt in Thüringen, wird kommen, und Omar aus Marrakesch, Besitzer und Hüter des wunderbaren Riad Almoulouk. Er lebt in Basel, ist aber oft in seiner Heimatstadt. Omar ist mir sehr nahe und hatte vor einigen Monaten auch meine Mutter Zohra kennengelernt. Sofort waren auch sie sich nahe. Sie unterhielten sich lange, so als ob sie sich schon seit vielen Jahren innig kannten. Vielleicht erinnerte meine Mutter ihn an seine, die er auch sehr liebte. Meine Mutter bat Omar, auf seiner in wenigen Tagen beginnenden Pilgerreise nach Mekka für ihren verstorbenen Vater zu beten. Ihrem Vater war es wegen schwerer Krankheit nicht möglich gewesen, nach Mekka zu gehen. Meine Mutter wollte es für ihn nachholen und hatte bereits mit verschiedenen Geistlichen diese Reise in Vertretung organisiert. Sie war stolz und glücklich, ihrem Vater dies zu ermöglichen. Ihre dunklen Augen strahlten, alle ihre schönen kleinen und größeren Falten verschwanden für einen Moment.

Als Omar vom Tod meiner Mutter hörte, war er sehr traurig. Er war gerade am Flughafen von Marrakesch angekommen. Die Freude des Nachhausekommens verwandelte sich in Trauer. Wir brauchten beide die Stille, keiner sagte ein überflüssiges Wort, dennoch waren wir uns trotz der Entfernung sehr nahe. Als wir wieder sprechen konnten, sagte er mit bebender Stimme, dass er versuchen werde, nach Tanger zu kommen. Es gelang ihm nicht rechtzeitig, 600 Kilometer liegen zwischen Tanger und Marrakesch, jetzt aber legte er die mehr als 900 Kilometer von Basel nach Berlin zurück, um an der Vierzig-Tage-Trauerfeier teilzunehmen. Manchmal gelingt der längere Weg eher als der kürzere. Ich freue mich auf Omar und seinen Sohn Rachid.

Noch zwei Tage bis zum Fest der Trauer. Sara nimmt mein Buch Marrakesch in die Hand und fragt mich nach Passagen, wo der Name ihres Bruders und ihr eigener zu lesen sind. Sie liest sehr gern. Ich blättere in dem purpurroten Buch und finde eine kleine Geschichte, die ich vor einem Jahr geschrieben hatte. Mit dem Satz „Ich will selber lesen“ „reißt mir Sara mit ihren zierlichen, zarten Händen das Buch aus der Hand: „… und die Sonne in Marrakesch und überall anders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall anders geht wieder auf …


Eines schönen Tages in Berlin war ich mit meinen Kindern und Khalid im weißen Auto meines Bruders und seiner Familie auf dem Weg nach Hause. Wir hörten mit großer Freude arabische Musik, ein melodisches Potpourri der erfolgreichsten Lieder der arabischen Welt. Plötzlich fragte meine Tochter Sara mit ihren neun Jahren: „Papa, wo wohnt eigentlich Gott?“ Um sich gleich selbst die Antwort zu geben:“ Er wohnt doch im Himmel, oder? Und man kann doch in ein Flugzeug steigen, um Gott zu besuchen?“ Khalid und ich waren überrascht über diese doch für viele Menschen brennende Frage. Khalid antwortete, bevor ich selbst einen klaren Gedanken fassen konnte: „Nein, Sara, mit dem Flugzeug kannst du nicht zu Gott kommen. Gott ist überall, wo Liebe ist, und nicht mit Flugzeugen, sondern nur mit deinem Herzen kommst du zur Liebe und zu Gott.“

„Muss Oma Aziza bald sterben?“, fragte sie vorsichtig weiter, da meine Mutter in den letzten Wochen wegen ihres Herzleidens mehrfach im Krankenhaus war. „Das weiß ich nicht. Ich hoffe nicht“, war meine Antwort. „Wir müssen für Oma Aziza beten.“

Am selben Abend, berührt von der Geschichte, fragte ich sie, ob wir gemeinsam beten wollten. Sara antwortete mit einem großen, lauten und verliebten „Jaaa“. „Lieber Gott, pass auf Mama auf, pass auf Papa auf, pass bitte auf Elias auf, pass auf alle Menschen auf, die ich liebe, und bitte pass auf alle Kranken auf“, waren ihre Worte, ihre ersten Sätze der Liebe und zu Gott.

Wir kamen zusammen, alte und neue Freunde kamen zum Fest, die Sonne strahlte wie seit vielen Monaten nicht in Berlin. Laut Wetterbericht war vor zwei Tagen der gelbbraune Saharastaub, vorbei an den Bergen des Atlasgebirges, über das Mittelmeer und die Alpen nach Deutschland gezogen. In Tanger kennt man diesen Gast, Chergui wird er genannt, der heiße, trockene, sandbenetzte Südostwind aus der Sahara. Nun war er hier, mehr als nur ein meteorologischer Zufall.

Die Stimmung war ruhig und schön, die Trauer hatte sich gelegt, wir vermissten unsere Mutter, gönnten ihr aber den Frieden, den sie jetzt hatte und der ihr so lange verwehrt war. Wir waren stolz auf sie und verstanden zum ersten Mal ihren Stolz auf uns. Alle waren zufrieden, dass wir uns so nahe sind.

Hamid und ich waren uns einig, unsere Mutter war für einen kurzen Moment bei uns, hier in Spandau. Omar fragte uns, ob wir ein Gebet für unsere Mutter halten sollten. Wir riefen alle zusammen, die Männer, die Frauen und die Kinder. Die kleineren Kinder waren die Ersten an der Holzbank im Garten, auf der Omar bereits wartete. Omar faltete und öffnete seine dunklen Hände, neigte den Kopf ein wenig nach rechts und sprach mit sanfter Stimme in Richtung Himmel. Ich verstand kein Wort, wusste aber, dass sie aus tiefem Herzen kamen. Das war der Moment, in dem Mutter sich zu uns gesellte und sich freute, dass sie der Grund unserer Zusammenkunft war, und uns damit zeigte, dass wir uns stets gegenseitig suchen und finden müssen und dass die Kinder der Pfeil für ins Morgen und Übermorgen sind.

Vor Kurzem schenkte mir der Ehemann einer Patientin ein wunderbares Gedicht von Michelangelo, das ihn beim Tod seiner Mutter getröstet hatte:

Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.
Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume.
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume,
Da uns, die wir vereint, Verwandlung traf.
Ihr glaubt mich tot, doch dass die Welt ich tröste,
Leb ich mit tausend Seelen dort,
An einem wunderbaren Ort,
Im Herz der Lieben. Nein, ich ging nicht fort,
Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste.

Ich schreibe und schreibe, ich spreche zu mir, ich schreibe dieses Buch für mich, der Schmerz ist der Dynamo meiner Zeilen. Der Abschied verursacht den Schmerz, der den Dynamo speist. Der Takt ist hoch, sehr hoch, dazwischen aber immer wieder kürzere und längere Zeiten der Lähmung. Ja, Schmerz kann einen Menschen lähmen, aber auch bewegen, kann neue Dinge entstehen lassen – Dinge, die vielleicht ohne diesen Schmerz nie möglich geworden wären. Diese menschliche Kraft kann aus dem Schmerz Zufriedenheit machen – ohne dass es aufhört, im Herzen wehzutun.


Heute rief endlich Hans aus Tanger an. Es geht ihm gut. Ich hatte ihm schon vor ein paar Wochen einige Exemplare meines Buches Marrakesch geschickt. Jetzt erst meldete er sich, schickte mir ein ganz besonderes Gedicht, welches er, wie er mir schrieb, seinem kleinen „Zettelkasten der Erinnerungen, einer kleinen, ganz wundersam leuchtenden Schatulle“ entnahm:

„In der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen ohne ein Wort geboren und oft in einer stillen Freude geteilt.“ (Khalil Gibran)

Mutter ist in Tanger begraben. Ihr Grab ist inzwischen von wunderschönen marokkanischen Fliesen mit beruhigenden Ornamenten aus viel Blau und Weinrot, etwas Weiß, Olivgrün und Ocker umrahmt.

Wo soll ich später ruhen? Braucht die Seele überhaupt einen letzten Ort?

Für wen ist der zu wählende letzte Ort wichtig – für den, der sterben muss, oder für den, der sich nach dem Gegangenen so sehnt und ihn vermisst?

Wo ist meine Heimat? Heimat muss kein Land sein. Machen nicht erst die Blicke der Kindheit einen Ort zur Heimat? Ist es nicht vielmehr der Geschmack und der Geruch des Vertrauten, der Geborgenheit, was Heimat ausmacht? Frage deshalb nie jemanden nach seiner Heimat, erzähle ihm lieber von deinen kindlichen Erinnerungen, die nie erwachsen werden und vergreisen wollen. Nur Erwachsene brauchen Wörter für Dinge, die sie nicht verstehen können. Vielleicht sollte ich mir eine andere Frage stellen: Wo sind meine Wurzeln, und wie verstehe ich besser meine Gefühle und Gedanken, wie verstehe ich mein Wesen? Vielleicht respektiere ich mit dieser Frage auch meine Melancholie und andere Launen besser. Vielleicht gibt mir diese Erkenntnis die innere Ruhe, den Dingen, die noch kommen werden, besser zu begegnen und sie, wenn nötig, in eine andere Richtung zu lenken? Fragen über Fragen, die nach Antworten suchen, die sie aber vielleicht nicht finden sollen.

Nicht jede Frage braucht eine Antwort. Ich fühle mich da zu Hause, wo ich spüre, dass meine Liebe, meine Wut, meine Melancholie und meine Freude respektiert werden. Es ist viel mehr die Umgebung und die Antworten der Menschen, viel weniger der Ort an sich. Heimat lebt im Herzen, weniger im Verstand. In Marokko wird meine Seele berührt, meine Heimat ist wohl aber Deutschland. Heimat ist dort, wo die Menschen, die man liebt, sich zu Hause fühlen, wo sie willkommen sind und keiner fragt, wann sie nach irgendwo zurückkehren. Wenn in dir ein Gefühl erwacht, als würde deine Mutter dich zum Essen rufen, dann bist du in deiner Heimat.

Vor einigen Tagen begegnete ich einem besonderen Menschen – einem Österreicher, der seine Frau mit aller Hingabe bei ihrer schweren Krebserkrankung begleitete. Er war der festen Überzeugung, dass die Wurzeln und das Herz eins sind und dort, wo man seine Wurzeln hat, das Herz und das Zuhause sind. Ich erwiderte, dass damit nicht ein Ort gemeint sein müsse. »Da mögen Sie recht haben«, antwortete er, „aber denken Sie an die Redewendung, dass Blut dicker ist als Wasser.“ „Blut muss nicht rot sein, Blut muss nur warm sein“, war meine Antwort.

Meine Mutter ist in Tanger begraben, mein Vater verbringt dort seinen Lebensabend. Er ist Teil Tangers. Meine Frau Adak, meine Familie, meine Geschwister haben Berlin als ihren Mittelpunkt, und so habe ich vielleicht eine doppelte Heimat. Alle Grenzen dieser menschlichen Welt sind doch künstlich erschaffen, daher kann man sicher mehrere Namen und Ortsbeschreibungen für seine Heimat verwenden.

Mohamed Choukri schreibt in seinem Buch Zoco Chico von einem armen marokkanischen Jugendlichen, der in Tanger auf zivilisationsmüde westliche Aussteiger trifft. Sie trinken zusammen, verfallen den orientalischen Drogen, lassen für einen Moment die elende Armut des Jungen vergessen, nennen sich Freunde. Am Ende wird aber klar, dass der Junge den Fremden immer fremd bleibt und sie auch nicht daran interessiert waren, das zu ändern.

Und in Tanger kommen die Schiffe an und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo

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