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Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Schwester Pietra schickte mir einen Brief

Seite 8 von 10: Schwester Pietra schickte mir einen Brief

Zurück aus Tanger fand ich das Geschenk aus dem Kloster direkt auf meinen Schreibtisch. Schwester Pietra schickte mir einen Brief, und in dem mit schwarzer Tinte geschriebenen Brief lag eine Fotografie. Im Kloster Sießen leben Schwester Hanna und Schwester Pietra mit 135 anderen Ordensschwestern. Nach unserer Abreise aus dem Kloster einige Wochen vorher, kam Schwester Pietra der Gedanke, dieses Bild uns zu schicken, da wir bei unserem Besuch dieses von ihr geschaffene Kunstwerk nicht sehen konnten. Es ist der Blick in eine Lehmgrube. Der Betrachter steht vor der Grube, auf derselben Ebene wie der Grubenboden. Die Grube ist mit einem großen Stein oben verschlossen. Durch einen schmalen, länglichen Spalt im Stein fällt leuchtendes und helles, aber nicht grelles Licht in die abgedunkelte, aber beruhigend erkennbare Grube mit dem steinernen Relief. Das Licht versinnbildlicht Zuversicht und Geborgenheit. Dieses Bild beschreibt und heißt „Bruder Tod“. Der Tod gehört zum Leben. So sagen es die Schwestern: „Oft überrascht er uns und konfrontiert uns mit Angst, Schmerz und Leid, mit Ohnmacht und Hilflosigkeit, mit Loslassenmüssen und Verlust. Wir sind herausgefordert, eine Grenze zu überschreiten, ohne zu wissen, was kommt.“

An dem Donnerstag wollte ich die Botschaft nicht entgegennehmen, am Freitag nicht und vertröstete auf den Sonnabend. Am Sonnabend starb meine Mutter.

War der Brief, das Bild ein heimlicher Vorbote?

Als mein Vater meine Mutter und meine beiden Geschwister Latifa und Abdelhamid aus Tanger nach Berlin abholte, nahm meine Mutter Zohra nur ein Utensil aus der Heimat mit, das wohl nicht schwer und unhandlich sein durfte, aber ihr in grauen Zeiten Halt geben und ihre Sinne zu erwecken vermochte. Was konnte es sein? Ein Amulett? Ein Bild? Ein Kleidungsstück? Ich halte es in meiner Hand.

Noch vor einigen Wochen, als Mutter noch lebte, fragte ich danach. Mutter hatte es weggeschlossen, man konnte es aber bewundern, durch die Vitrine des hellbraunen Schranks im klassischen deutschen Bauernstil, neben bunten Porzellanvasen, verziert mit Pferden, und großen chinesischen Esstellern, schön anzusehen mit silbernem Bauch. Jetzt, nach Mutters Tod, halte ich es in der Hand. Ich öffne es, das Kupferrot schimmert, es riecht nach dem Atem der Minze. Auf ihrem Boden steht „Théière Moulay Hassan“. Diese Teekanne gab meiner Mutter die notwendige Kraft, die eigene Heimat zu verlassen und eine neue Welt für ihre Kinder zu erschließen – und das, ohne die eigene Identität und die eigenen Wurzeln zu vergessen. Die Teekanne drückt auch ihre Gastfreundschaft aus; sie brachte sie mit, ohne zu wissen, wann und mit wem sie die nächste Teezeremonie in der Fremde erleben würde. Der Minztee machte aus Gästen Freunde fürs Leben.

In Adaks Kreuzberger Wohnung in der Zossener Straße lasse ich das kühle Wasser aus den rostigen Rohren auf die aus Tanger mitgebrachte Minze fallen. In Marokko wächst die edelste Minze der Welt. Ich setze das Wasser zum Kochen auf den schweren Herd, gebe etwas schwarzen, groben Tee in die wartende Kanne, gieße nur ganz wenig kochendes Wasser darüber, um die trockenen Teeblätter erwachen zu lassen, gieße das Wasser wieder ab, fülle dann die ganze Kanne. Jetzt endlich darf das heiße Wasser den durch die erste Berührung erwachten Tee umschließen und liebkosen. Vorsichtig greife ich mit ganzer Hand die wartenden frischen Minzezweige und drücke sie zärtlich in das heiße, geheimnisvolle Gemisch in der Teekanne. Für einige Minuten darf sie jetzt auf die beißende Herdflamme, viel weißer Zucker gesellt sich dazu. Voller Ungeduld und Begierde beschaue und belausche ich den werdenden Tee und warte auf den Moment kurz vor dem Siedepunkt, um die Kanne von der Flamme zu nehmen. Ich darf diesen Augenblick auf keinen Fall verpassen, muss mich konzentrieren, da sonst die Zeremonie verloren ist und das Vorspiel umsonst war. Zum Glück erspüre ich den richtigen Zeitpunkt, bevor meine Augen das Beben des Wassers bemerken. Sanft gieße den Tee durch den eleganten Hals der Tülle in das erste Teeglas mit dem orientalischen Ornament aus grünen und goldenen Mustern und dann wieder zurück. Ein Umrühren in der Kanne würde nur die Blätter von den Zweigen reißen und sie bitter werden lassen. Als kleine Entschuldigung für die vorübergehende Trennung gebe ich frische Orangenblütenbätter, orientalische Mae Zhar, in das bebende Gefäß. Diese Berührung, der erste Kuss berührt das Glas und der Tee wird ohne weiteren Zeitverzug zurück in die Kanne gegeben. Nie darf das Glas ganz gefüllt werden, stets muss genug Platz im Glas sein, damit der kochend heiße Tee sich auf dem Weg zum Mund etwas abkühlen kann. Vielleicht braucht der Tee den Platz aber auch, um sich in einen Rausch zu steigern, bevor er bald für immer verschwinden wird. Es wird kurz tief eingeatmet, ohne dass jemand das bemerkt. Und nun endlich wird der Tee in das noch warme Glas gegeben, das noch vor wenigen Augenblicken so bitter von dem heißen Getränk getrennt war. Meine Sinne erwachen, mein Herz schwillt in tröstlicher Melancholie. Jeder Schluck birgt ein Geheimnis, birgt eine Botschaft, die ich Schluck um Schluck mehr und mehr entziffern kann.

Mutter, ich werde deine Teekanne immer in meiner Nähe haben und werde stets versuchen, sie immer wieder mit deinen Werten aufzufüllen. Mutter, du fehlst mir!

Es ist Sonntag, wir sitzen in Berlin zusammen, alle Geschwister, und planen die Vierzig-Tage-Trauerfeier unserer Mutter. Latifa fragt mich, ob auf dem Foto in der marokkanischen Zeitschrift neben ihr und Hamid nicht die Teekanne abgebildet war. Wir gehen dem sofort nach, und ja, neben einem Radio und drei marokkanischen Teegläsern mit girlandenartigen goldenen Mustern am Rand thront die Kanne, die jetzt bei mir zu Hause jeden Tag auf mich wartet.

Die Familie überlegt laut und aufgeregt, was wir den Gästen am Gedenktag servieren sollten. Hohe und tiefe Stimmen schwirren durch den Raum. Tajine mit Lammfleisch und Backpflaumen, marokkanische Suppe, die Harrira, mit Hühnchen, Köfte, die Rinderhackfleischkugeln mit frischen Tomaten. Traditionell muss es wohl sein. Wir fragen uns nach den Regeln, die wir nicht kennen. Darf man Feuer zum Kochen und Braten machen? Was sind die Riten? Bei unserem Gespräch tritt schnell unsere stolze Unsicherheit zutage. Wir erkundigen uns, und man erzählt uns, dass bei den meisten Trauerfeiern Couscous zubereitet wird. Nabil, mein Schwager, meint sogar, dass die Menschen ganz bewusst dieses Gericht auswählen, weil die unzähligen Hirsekörner die guten Taten des Verstorbenen symbolisieren sollen. Die marokkanischen Berber sagen Kuskus. Den mit heißem Dampf aufgeschütteten Berg aus zerriebenem Grieß, Naturweizen, Gerste und Hirse. Auch in Berlin kann man vorzüglich Couscous essen. Ich liebe das Gericht, von einem sehr netten Franzosen aus Berlin verfeinert, im Le Piaf im schönen Bezirk Charlottenburg. Der Marokkaner akzeptiert nahezu alle Variationen, egal ob nur mit Gemüse, mit Geflügel, Lamm oder Fisch, französisch, italienisch als Trapani bekannt, oder jüdisch. Nur warm serviert muss es sein. Couscous verleitet viele zum Träumen, Freuen, Trauern und Weinen. Nicht das Festmahl, sondern die Menschen entscheiden den Anlass und die Emotionen.

Am nächsten Tag erkundigen wir uns bei einem islamischen Gelehrten in Berlin, was man kochen darf am Gedenktag. „Ihr könnt alles zubereiten, was ihr wollt“, ist seine lapidare, aber ehrliche Antwort. „Fragt euch einfach, was eure Mutter euch erzählt hätte.“ Wir sind erleichtert. Unsere Mutter liebte es so sehr, Gäste zu verwöhnen. Wir beschlossen, Lammkoteletts, Köfte mit Tomaten, Harrira, gebratene Hähnchenstücke, Salate und Pastella zu servieren. Pastella mit Hühnchen, und woher kam sie? Von „Tanger“, einer feinen Patisserie in Düsseldorf. Nach unserer eigenen so geschaffenen Tradition macht Morad auch an diesem Sonntag, wie an den unzähligen vorherigen Sonntagen, in seinem großen Ofen für jeden eine ganz besondere Pizza. Mutter, uns und allen Gästen hätte es gefallen.

Noch zwei Tage bis zu unserer Trauerfeier in Berlin. Ich träume seit dem Tod meiner Mutter jede Nacht von ihr. Die Träume sind nicht immer eine Belastung, fast schon Routine. Ich fürchte mich heute Nacht nicht vor dem Schlafen.

Zum Trauerfest kommen viele Freunde und Bekannte. Alle Kinder und die Kinder der Kinder werden da sein, wunderbar. Der Name Omar wird mindestens zweimal vertreten sein. Omar, in Mali geboren, enger Freund und Arzt in Thüringen, wird kommen, und Omar aus Marrakesch, Besitzer und Hüter des wunderbaren Riad Almoulouk. Er lebt in Basel, ist aber oft in seiner Heimatstadt. Omar ist mir sehr nahe und hatte vor einigen Monaten auch meine Mutter Zohra kennengelernt. Sofort waren auch sie sich nahe. Sie unterhielten sich lange, so als ob sie sich schon seit vielen Jahren innig kannten. Vielleicht erinnerte meine Mutter ihn an seine, die er auch sehr liebte. Meine Mutter bat Omar, auf seiner in wenigen Tagen beginnenden Pilgerreise nach Mekka für ihren verstorbenen Vater zu beten. Ihrem Vater war es wegen schwerer Krankheit nicht möglich gewesen, nach Mekka zu gehen. Meine Mutter wollte es für ihn nachholen und hatte bereits mit verschiedenen Geistlichen diese Reise in Vertretung organisiert. Sie war stolz und glücklich, ihrem Vater dies zu ermöglichen. Ihre dunklen Augen strahlten, alle ihre schönen kleinen und größeren Falten verschwanden für einen Moment.

Als Omar vom Tod meiner Mutter hörte, war er sehr traurig. Er war gerade am Flughafen von Marrakesch angekommen. Die Freude des Nachhausekommens verwandelte sich in Trauer. Wir brauchten beide die Stille, keiner sagte ein überflüssiges Wort, dennoch waren wir uns trotz der Entfernung sehr nahe. Als wir wieder sprechen konnten, sagte er mit bebender Stimme, dass er versuchen werde, nach Tanger zu kommen. Es gelang ihm nicht rechtzeitig, 600 Kilometer liegen zwischen Tanger und Marrakesch, jetzt aber legte er die mehr als 900 Kilometer von Basel nach Berlin zurück, um an der Vierzig-Tage-Trauerfeier teilzunehmen. Manchmal gelingt der längere Weg eher als der kürzere. Ich freue mich auf Omar und seinen Sohn Rachid.

Noch zwei Tage bis zum Fest der Trauer. Sara nimmt mein Buch Marrakesch in die Hand und fragt mich nach Passagen, wo der Name ihres Bruders und ihr eigener zu lesen sind. Sie liest sehr gern. Ich blättere in dem purpurroten Buch und finde eine kleine Geschichte, die ich vor einem Jahr geschrieben hatte. Mit dem Satz „Ich will selber lesen“ „reißt mir Sara mit ihren zierlichen, zarten Händen das Buch aus der Hand: „… und die Sonne in Marrakesch und überall anders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall anders geht wieder auf …

Papa, wo wohnt eigentlich Gott?
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