Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Mutter ist von uns gegangen
Einige Monate sind vergangen, seit wir zuletzt in Tanger waren. Ich bin in Berlin, es ist Frühling, es ist ein Samstag. Adak und ich sind auf dem Weg zu einem Vortrag in meiner Klinik. Wir hören Nachrichten im Radio, Nachrichten aus Berlin und dem Rest der Welt - keine scheint aber wirklich wichtig zu sein an diesem Morgen.
Dann ein Anruf meines Schwagers Nabil. Ich wundere mich. „Er ruft doch nie so früh an“, denke ich. Ich drehe am Knopf des Radios, bis die Stimme des Nachrichtensprechers endlich verlischt. Ich gehe ans Telefon. Ich kann nicht glauben, was er sagt. Wieder und wieder frage ich nach und sage ihm mit aller Selbstsicherheit, die ich nur aufbringen kann, dass es nicht wahr sein kann.
Für einen Augenblick kann ich nur schauen, sehen kann ich nicht, meine Lippen beben, können aber nichts sagen. Mein Herz setzt aus, ich bin der Ohnmacht nahe.
Ich wünsche mir, dass die Zeit einfach nur stehen bleibt und ich die Wahrheit nicht erleben muss. Ich rufe meine Geschwister an, spreche mit Morad, dann mit meiner Schwester Latifa. Auch sie kann nicht sprechen. Nabil versucht vergeblich, sie ans Telefon zu holen, ich höre sie weinen, wie ich sie noch nie weinen gehört habe. Auch Hamid ist stumm vor Trauer. …
Mama ist tot. Mama ist nicht mehr da.
Wir fahren ins Krankenhaus. Hamid kann uns dort aber nicht treffen, er kann einfach nicht dorthin kommen. Er war gerade auf dem Weg zum Markt am Rathaus Wedding, um die Zutaten für die Harrira zu besorgen, um sie heute Nachmittag zuzubereiten und gegen Abend unserer Mutter zu bringen. Ins Krankenhaus kann er jetzt nicht, die Trauer führt ihn aber in unsere Nähe, zu unserem Zuhause. Latifa ist im Krankenhaus, Morad auf dem Weg zu ihr. Hamid fährt in die Wohnung unserer Mutter, in die Exerzierstraße 9, wo wir fast unsere gesamte Kindheit verbrachten, und ich fahre zu ihm. Er wartet bereits auf der Straße auf mich. Wir sagen nichts, was sollten wir auch sagen. Wir umarmen uns, wie wir es noch nie getan haben, vermissen unsere Mutter, gehen in die zweite Etage, öffnen die Wohnungstür, fühlen uns beide in der Wohnung sicher, fühlen uns unserer Mutter nahe, schweigen, weinen und verabschieden uns voneinander. Er fährt in sein Schuhgeschäft, er sucht die Routine, ich den direkten Schmerz.
Ich fahre zu Mutter. Latifa ist lange schon da. Wir schauen uns an, sehen unsere Kindergesichter und sind hilflos diesem Schicksal ausgeliefert. Wir weinen, wir haben noch nie zusammen geweint. Bekannte und Freunde kommen nach und nach, wie ein Lauffeuer hat sich die schlechte Nachricht verbreitet. Viele müssen wieder gehen, zu groß erscheint der Schmerz, zu klein das Krankenzimmer, in dem meine geliebte Mutter heute Morgen gestorben ist. Ich aber kann den Raum nicht verlassen, ich kann doch meine Mutter jetzt nicht verlassen, ich kann und will es nicht. Ich muss bei ihr bleiben. Nur sie und ich sind jetzt im Raum. Eine unheimliche Stille liegt in der Luft; eine derartige Stille kannte ich bisher nicht. Ich schaue aus dem Fenster, meine Tränen beschlagen das Glas. Ich weine stärker, aber leiser als damals, als ich als Siebenjähriger mit einem Beinbruch im selben Raum im selben Krankenhaus lag. Ich schaue aus dem Fenster und blicke in den Raum im gegenüberliegenden Gebäude, in dem ich noch vor einigen Monaten einen Vortrag für ausländische Ärzte gehalten habe. Ich bin allein im Zimmer mit meiner Mutter, spreche mit ihr. Sie hört mir zu, und ich bitte sie um Verzeihung, Verzeihung dafür, dass ich ihr nicht immer zugehört habe, und danke ihr so sehr dafür, dass sie mir immer zugehört hat, immer da war, wenn ich Zweifel oder Ängste hatte. Nun ist sie tot, sie bewegt sich nicht, aber verrückt meine Seele; sie vergibt mir, ich spüre es in diesem Moment.
Meine geliebte Mutter Zohra ist gestorben, unsere Mutter lebt nicht mehr.
Ich spreche mit meiner Mutter, höre meine bebenden Worte. Ich weiß, Worte erreichen den Himmel, meine Worte verbinden mich mit meiner Mutter.
Ich gehe aus dem Zimmer und treffe im Flur auf den Stationsarzt Dr. Volkan Aykaç´. Er hat Tränen in den Augen, es fällt ihm schwer, mich anzuschauen. Immer wieder gleiten seine Blicke auf den weißen Boden des Krankenhausflurs. Noch vor einigen Tagen gaben wir uns das Versprechen, dass wir auf unsere Mütter aufpassen würden. Seine Mutter lag in meiner Klinik, meine auf seiner Station. Ein Versprechen, das unmöglich zu halten war – irgendwie wussten wir es wohl beide, verbündeten uns aber bei diesem unmöglichen Unterfangen. Wir versuchten unser Bestes, konnten aber nicht gewinnen. Meine Mutter mochte ihn sehr, seine mich. Wir haben beide unsere Mütter verloren und sind nun für immer miteinander verbunden. Ich danke ihm für das, was er für meine Mutter versucht hat. Ich danke ihm für seine Tränen.
Meine Mutter hat mich geformt, mich geprägt, und ich weiß, dass dieser Verlust, dieser so schmerzvolle Abschied, mich für immer verändern wird. Es schmerzt so sehr in mir. Alles tut weh. Ich weiß, dass der so traurige Himmel wieder blau und die Sonne wieder scheinen wird, aber jetzt ist und muss Zeit sein für die Trauer. Dieser Tod ist traurig und so schwer für mich, für alle, die Zohra brauchten und liebten, doch gönne ich meiner Mutter diesen Frieden. Vielleicht auch deshalb frage ich heute nicht ein einziges Mal nach dem Warum. Die letzten Monate waren für meine Mutter sehr schwer, die Schmerzen ihrer Knochen machten ihr jede Bewegung zur Hölle.
„Sie ist frei und unsere Tränen wünschen ihr Glück.“ So sagte es Goethe.
Wo man geboren wird, liegt nicht in der eigenen Hand; wo man sterben wird ebenso wenig. Einzig und allein, wo man seine letzte Ruhestätte haben wird, vermag der Mensch zu bestimmen. Unsere Mutter hatte bereits vor über vierzig Jahren festgelegt, dass sie in Tanger begraben werden möchte. Monat für Monat zahlte sie in eine Versicherung ein, die den Transport nach Marokko sicherstellen sollte. „Vertrag ist Vertrag“, sagte sie immer, wenn man sie danach fragte.
Nun sollte es geschehen.
Wir fuhren zur Moschee nach Neukölln in die Flughafenstraße. Dort wurde sie nach den Riten des Islam gewaschen. Das traurige Gebet ging zum Glück schnell vorüber, ich war zu traurig, um zuzuhören und in die Gesichter der Trauernden zu schauen. Meine Augen schauten nach innen, nach außen waren sie fast blind.
Vor der kleinen Moschee stand ein heller Bestattungswagen, die Sonne prallte auf das leicht verbeulte Heck. Ich berührte es und bemerkte den Schmerz der Hitze in meiner Hand, zog sie aber nicht weg. Ich spürte zwar den Schmerz, fliehen aber konnte aber meine Hand nicht. Ich musterte das Fahrzeug wie ein erfahrener TÜV-Inspektor und konnte keine Klimaanlage erkennen. Dann kam der hagere Fahrer und ich fragte ihn. „Klimaanlage? Nein, das habe ich nicht, ich fahre über Nacht. „Ich traute meinen Ohren nicht. Er wollte meine Mutter nach Düsseldorf fahren, und das bei dieser Affenhitze. „Und wann kommt unsere Mutter endlich nach Tanger?“, fragte ich mit lauter werdender Stimme. „Das weiß ich nicht.“ Ich kochte regelrecht vor Wut. „Das lasse ich nicht zu, auf keinen Fall!“, rief ich, ohne aber zu wissen, wie ich dies verhindern konnte. Aber ich tat alles, um keinerlei Anzeichen meiner Unsicherheit erkennen zu lassen. „Miriam kann mir vielleicht helfen, Miriam“, murmelte ich vor mich hin.
Miriam ist die gute Fee der marokkanischen Botschaft, immer ein Lächeln auf dem Gesicht und stets bemüht zu helfen. Es war zwei Uhr nachmittags, wie sollte es weitergehen? War Miriam überhaupt da? Ich wählte die Nummer. Es klingelte. Es war laut um mich herum, die vielen Autos auf der belebten Straße, der Bagger auf dem Nachbargrundstück, die vielen Stimmen um mich herum. Nach dem sechsten Klingelton hob jemand ab. Ja, es war Miriam, ich freute mich so sehr, ihre Stimme zu hören. Dann ging alles schnell, sehr schnell, schneller, als ich mir wünschen konnte, und ohne viele Worte. Der marokkanische Botschafter half uns. Wir sollten uns sofort mit der Mutter auf den Weg zum Flughafen machen.
An sich schien es ein unmögliches Unterfangen. Nichts war vorbereitet, die letzte Maschine der Royal Air Maroc würde in dreieinhalb Stunden starten, unsere Pässe waren zu Hause in Spandau, Wedding und Kreuzberg, wir hatten keine gültigen Dokumente aus Marokko für den Transport unserer Mutter, keine Flugtickets. Wir schauten uns an. Ohne auch nur ein weiteres Wort wussten wir: Wir müssen und werden es schaffen, das waren wir uns selbst und unserer Mutter schuldig.
Wir kauften hastig einen rotbraunen Holzsarg, telefonierten noch einige Male mit der Botschaft, diese wiederum mit den Behörden in Casablanca und Tanger. Ich sprach mit den Beamten am Flughafen Tegel, meinen Geschwistern, dem Zollamt. Wir telefonierten, organisierten, hofften und beteten. Der Weg vom einen Ende der Stadt zum anderen erschien mir viel länger als sonst. Dennoch brauchten wir weniger Zeit, und das, obwohl wir uns mitten in der Berliner Rushhour befanden. Als ich aus dem Autofenster schaute, hatte ich das Gefühl, die Zeit würde angehalten.
Und dann, wenige Stunden nach der Trauerzeremonie für unsere Mutter, sitzen wir im Flugzeug nach Tanger: Abdelhamid, der älteste Sohn, Morad, der jüngste, Latifa, die einzige Tochter, Adak, meine große Liebe, ich und unser aller Mutter. Fahren die Mutter heim, sie ist bei uns, wir fühlen sie ganz nah bei uns, sie ist tief in unserem schweren Herzen und ungläubigen Verstand. Noch nie sind wir vorher gemeinsam mit der Mutter in einem Flugzeug nach Marokko geflogen. Jedes Jahr waren wir mit dem Auto unterwegs, die Tickets für den Flug waren für uns damals unbezahlbar.