Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Die Betgesänge betäuben meine Sinne
Die Betgesänge der alten Männer helfen allen, die Trauer besser zu verkraften. Die Gesänge betäuben meine Sinne. Ich genieße diese Taubheit für einen Moment. Mutter scheint allgegenwärtig zu sein. Die Verbindung fühlt sich sogar stärker und näher an, als ich sie mir zu Lebzeiten vorstellte.
Ich wusste, wir alle wussten, dass Mutter sehr krank war, aber wir versuchten immer, sie und uns selbst zu beruhigen, und hofften, dass es ihr schon bald besser gehen würde. Wir wagten nicht, über einen Abschied nachzudenken, geschweige auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Wie erzählte es mir gestern Hans Tischleder, Leiter des Goethe-Instituts in Tanger, der von den Marokkanern ehrfürchtig „Monsieur Hans“ gerufen wird? Es sei wunderbar, dass sein verstorbener Vater immer da ist. Monsieur Hans lebt seit mehr als dreiundzwanzig Jahren in Tanger; er weiß alles, was Deutschland und Marokko und ihre gemeinsame Welt berührt. Wir sitzen in seinem engen Büro in der ersten Etage am Boulevard kurz vor dem orientalischen Springbrunnen, trinken einen Espresso mit sehr viel heißer Milch, das mandelbraune Gemisch serviert in einem schmalen Glas ganz ohne Muster, mit drei großen Stücken Würfelzucker in krummer Rechteckform. Monsieur Hans raucht gerne. Der Rauch seiner Zigarette hat dieselbe starke Farbe wie sein volles, langes graues Haar. Auch sein Gehilfe Hicham hat langes Haar. Monsieur Hans meint, dass man marokkanischen Männern mit langen Haaren stets Respekt zollen muss, da sie eine große Persönlichkeit haben, voller Überzeugung sein und eine besondere Kraft besitzen müssen – Kraft, um die abschätzigen Blicke der vielen Kurzhaarigen auszuhalten.
Die hellen Augen des Monsieur Hans haben viel gesehen, und sie funkeln, wenn er davon erzählt. Er hat viel gesehen, hat Menschen und Worte studiert und bemerkt, dass sie einander brauchen und dass die Geschichten die Quelle der Weisheit sind. Eine Weisheit, die stets auf der Suche nach mehr ist. Auf einer Suche ganz ohne Hast, immer in Bewegung, in die Vergangenheit, Gegenwart, manchmal rückwärts, manchmal vorwärts, manchmal nach rechts und dann wieder nach links. Diese Suche darf nie ins Stocken geraten.
Monsieur Hans ist sehr beschäftigt. Nur einen jungen, aber sehr tüchtigen Gehilfen hat er. Die Ruhe und Gelassenheit vieler Marokkaner macht ihn immer wieder wahnsinnig. Für Erzählungen scheint er sich immer Zeit zu nehmen, für die anderen Dinge opfert er die Zeit mit großer Mühe. Monsieur Hans erzählt und erzählt. Er liebt die Spannung dabei, ihn fasziniert die Verletzlichkeit des Menschen und seine Kraft, wütend und heißblütig zu sein, eine Kombination, die der Mensch eigentlich nicht zulassen möchte. Er ist betrübt darüber, dass diese menschliche Charaktereigenschaft über die Generationen verloren geht. Hier in Tanger darf er sie zulassen. Vielleicht auch deshalb kann er sich von Tanger und seinen Menschen nicht lösen.
Monsieur Hans trägt viele der schönen und schmerzhaften Erinnerungen dieser Stadt in sich, hat sie zu seinen gemacht. Seine Augen funkeln wie Saphire unter seinen grauen, langen Haaren, wenn er Geschichte über Geschichte von Tanger und seinen Menschen erzählt. Er kommt aus Frankfurt, seine Seele aber scheint dem Stamm der maurischen Märchenerzähler zu entstammen. Darauf ist er stolz. Die Geschichten helfen ihm dabei, seinen stillen Schmerz zu ertragen. Nicht jeder Schmerz tritt in die Vergessenheit. Nicht jeder Schmerz muss gestillt werden. Mancher Schmerz muss bleiben, damit die Seele weinen kann. Nur wenn sie weint, kann sie vielleicht glücklich werden.
Morad, Latifa und Hamid fahren heute wieder zurück. Ich bringe sie zum Flughafen. Mutter kam vor drei Tagen nach Tanger, heute verlassen drei ihrer Kinder diesen Ort wieder. Adak und ich machen uns auf den Weg zum Geburtsort meiner Mutter, nach Buhamsi in Beni Aross, etwa achtzig Kilometer entfernt von Tanger, Richtung Tetuan.
Ich erinnere mich an meine Kindheit. Der Weg zu den Verwandten in den Bergen war anstrengend, die Straßen sandig, rau, die Hitze unerträglich im Sommer. Wir fuhren zum Markt Khmiss, was Donnerstag bedeutet. Die Familie meiner Mutter, unzählige Benrohos, wartete stets auf uns und unsere vielen schweren Koffer, mit vielen Mauleseln und Eseln und vielen Angehörigen.
Drei Stunden brauchten wir für den holprigen Weg, vorbei an unzähligen Bächen, Kakteen und Olivenbäumen. Die Tiere kannten den Weg so gut, dass sie niemals in die Ferne schauten. Mir schien er unendlich zu sein; ich hatte kein Gefühl für die Entfernung.
Die Verwandten erwarteten die Frau, die als einziges Kind von fünf Schwestern und einem Sohn in der großen Stadt aufwuchs. Deren Mutter hatte ein so inniges Verhältnis zu ihrer Schwester, dass sie bei der Geburt ihres fünften Kindes der kinderlosen Schwester ihre Zohra mitgab. Sie sollte sie wie eine eigene Tochter aufziehen, für sie sorgen. Die Tante trug die kleine Zohra auf dem Rücken den großen Berg hinunter. Mehr als drei Stunden brauchte sie, bis sie den Markt Khmiss erreichte. Müde wurde sie nie, auch nicht, als es mehr als achtzig Kilometer weiter zu Fuß nach Tanger ging. Die Mutter blieb Mutter, und Zohra nannte auch ihre Tante Mutter, das war für das kleine Mädchen nie ein Widerspruch. Auch als sie älter wurde, erzählte sie voller Liebe von beiden Frauen. Die Mutter aus den Bergen liebte ihre Schwester, liebte ihre Tochter und wünschte beiden ein besonderes Glück, eine besondere Zukunft. Die Tante sorgte für Zohra, ermöglichte ihr die Ausbildung zur Schneiderin. Das „Certificado“, in Spanisch ausgestellt im Jahr 1951, erfolgreich abgeschlossen, Bordüre und Stickereien, eingerahmt in einen hölzernen Bilderrahmen, aufgehängt in der Wohnung in Tanger. Ich habe dieses Dokument von der Wand genommen, in den Koffer gepackt und mit nach Berlin gebracht. Ich bin stolz auf dieses Papier, darauf, dass Mutter erfolgreich war, ohne dass sie lesen oder schreiben konnte. Meiner Mutter war es stets wichtig, dass ihre Kinder eine Ausbildung abschlossen. Die Schule war ihr heilig. Ohne dass sie es uns immer wieder sagte, ließ sie es uns spüren und freute sich mit uns, wenn wir eine gute Note erzielten, betete die ganze Nacht, dass wir in den Prüfungen die richtigen Fragen bekamen.
Heute erreichen wir schnell und bequem das Bergdorf meiner Mutter. Bepackt mit unzähligen Säcken frischen Ochsenfleisches, fahren wir auf geteerten Straßen zum Markt und mit dem Landrover das letzte Stück den Berg hinauf. Nur etwa zwanzig Minuten dauert es nun, bis wir den Geburtsort meiner Mutter erreichen, vorbei am Grab meines Großvaters, eines gutsituierten Bauern und Naturheilers, an den ich mich sehr gut erinnern kann.
Er war im Alter blind geworden, so kannte ich ihn nur, ein netter Herr, der stets freundlich zu uns sprach und dessen dunkle Augen auf uns ruhten, ohne uns zu sehen. Unsere Mutter brachte uns zu ihm und wir hörten ihm ehrfürchtig zu. Wir verstanden ihn, ohne dass wir seine Worte verstanden. Um sich ein Bild zu machen, wie wir uns im Vergleich zum letzten Jahr verändert hatten und wie groß wir nun waren, studierte er unsere Hände und berührte unsere Gesichter. Er wusste genau, wie wir aussahen, freute sich und sagte unserer Mutter, dass Gott uns stets beschützen würde.
Ich laufe weiter, vorbei an der neuen Grundschule für die vielen Kinder, die von großen Traktoren mit Lampen träumen, von denen sie bisher nur gehört, sie aber nie gesehen haben. Wir sind auf einem der höchsten Berge angekommen, mit wenig Gepäck, viel Essen und meiner Mutter im Herzen und in den Gedanken. Die beiden indigoblau und weiß gestrichenen Lehmhäuser mit den Dächern aus Blech sind unverändert. Heute haben sie elektrisches Licht.
In dem Haus der Eltern lebt nur noch die Familie des Sohnes, es ist Tradition, dass die Töchter ins Haus des Ehemannes ziehen, so wie in vielen Kulturen, in Indien und anderen Ländern.
Die Trauerfeier für meine Mutter war wunderschön. Die Stille und Geborgenheit im Kreise der Trauernden wird mir unvergessen bleiben. Unzählige Menschen von allen nahen und fernen Hügeln kamen. Die Benroho sind ein großer und stolzer Stamm. Jüngere und ältere Frauen kamen, schenkten meinen drei Tanten und meinem Onkel Säcke mit Mehl und Zucker. Eine ältere Frau, die unsere Mutter als Kind kannte, trat auf uns zu. Sie lächelte und umarmte uns mit langsamen Bewegungen. Sie trug einen kleinen Sack bei sich. Sie öffnete ihn, übergab uns ein kleines Glas mit Honig, dunkelbraun, fast schwarz. Wir kosteten ihn sofort; ein wunderbarer Geschmack voller warmer Süße, der angenehm auf der Zunge brannte. Dann griff sie wieder in den Leinensack und holte vier rote Früchte heraus. Ich nahm staunend eine Frucht in die Hand. Es waren rote Kaktusfeigen. Die Frau war sehr stolz auf ihre Feigen. „Nur an ganz wenigen und schwer erreichbaren Plätzen kann man sie finden, meist an gefährlichen Steinhängen“, sagte sie. „Eure Mutter war als Kind ein so starkes Mädchen. Ich habe lange gesucht, was ich euch schenken kann. In diesen roten Feigen liegt große Kraft, eine Kraft, die euch vor allen schlimmen Krankheiten schützen wird. Möge Zohra in Frieden ruhen.“
Alle Frauen trugen ein sanftes Weiß, nur wenige rote oder blaue Streifen durchbrachen das Bild. Die Männer trugen weiße Djellabas, das traditionelle, knöchellange Gewand aus Schurwolle mit spitzer Kapuze. Die Beileidsbekundungen klangen aufrichtig und linderten den Schmerz in meinem Herzen. Viele Menschen schienen die Trauer um Zohra in sich zu tragen. Die kleinen und großen Geschichten über die Begegnungen mit meiner Mutter machten sie für viele Augenblicke für mich wieder lebendig. Ich spürte eine große Zufriedenheit und einen friedlichen Stolz, dass wir nun hier waren. In Marokko wird der Tod scheinbar stärker erlebt, er ist allgegenwärtiger, weniger bedrohlich, als ich es aus Deutschland kenne. Die Familien sind groß, die meisten Frauen gebären mindestens vier Kinder, viele mehr. Es wird mehr geboren und mehr gestorben und auch die Kinder nehmen schon früh an den langen Trauerfeiern teil und verinnerlichen diese uralten Rituale. Nur wer in Gemeinschaft lebt, kann in Gemeinschaft sterben.
Alle kennen den überlieferten Speiseplan: Am ersten Tag wird Couscous serviert, am zweiten Tag wird ein wertvolles Tier geschlachtet – eine Ziege, ein Lamm, ein Ochse, je nach Schwere des Geldbeutels der Familie. Am zweiten Tag wird die »Douara« gekocht, dabei werden die Innereien zubereitet – mit sehr viel Knoblauch, roter Paprika, Kreuzkümmel, etwas Salz, frischem Koriander, Chili und Olivenöl. Die Speisen ehren den geliebten Menschen.
Die Verwandten und Freunde beschenken die trauernde Familie mit selbst zubereiteten Speisen, Harrira, Gehacktem oder was immer sie mitbringen mögen. Am dritten Tag wird das Fleisch endlich serviert, lange zubereitet, meist mit Mandeln und gedünsteten frischen Backpflaumen vom Markt.
Auch die Gebete kennen alle. Die Männer singen Verse aus dem Koran, ohne dass aus dem Koran gelesen wird. Die alten Männer führen den Chor, singen aus der frischen Erinnerung. Es fällt ihnen leicht, zu singen, ohne sich zu bewegen. Ich lausche den Worten, verstehe sie nicht. Aber sie geben Zuversicht und lindern meine Trauer. Die Texte klingen für mich ähnlich, auch wenn ich weiß, dass sie verschieden sind. Vielleicht geht es immer um die gleiche Botschaft, die eine Trauer.
Alle Gäste singen, ein jeder gibt seine Töne hinzu. Es klingt wunderbar. Nie zuvor sind sich diese Menschen und ihre Stimmen so begegnet, nie wieder wird es möglich sein, diese Verse so wiederzugeben. Sie symbolisieren für mich die Einzigartigkeit des Menschen – wie der Geschmack einer Speise, die trotz ähnlicher Zutaten jedes Mal anders den Gaumen trifft; einzigartig wie der Mensch, der geboren wurde und jetzt gegangen ist. Er wurde aus den gleichen Zutaten der Natur zusammengesetzt wie alle Menschen, aber in einer Weise, die es niemals zweimal geben kann. Der Mensch ist die geheimste aller Rezepturen.
In vierzig Tagen wird erneut eingeladen und meiner Mutter gedacht, in Berlin, Tanger und Buhamsi, und es wird zu gleicher Zeit unterschiedliche Speisen geben: Pizza, Couscous und Ziegenfleisch. Allen wird es schmecken, jeder ist nur bei einem Fest, Mutter aber wird überall dabei sein.
Wir schlafen tief und werden von den hohen Bergen beschützt. Sie haben schon unzähligen Weinenden beigestanden. Ihre Erfahrung hilft.
Am frühen Morgen wachen wir wieder auf, und ich frage mich ein erneutes Mal, ob alles doch nur eine Fiktion, ein Schabernack meines Verstandes war. Die Verwandten servieren uns ihr bestes Frühstück: Olivenöl, schwarze Oliven, selbstgemachtes Weizenbrot, Spiegeleier, in Olivenöl gebraten, und grünen Minztee. Wir sind sehr zufrieden, vielleicht aber aus deutscher Gewohnheit fragen wir nach einem Apfel. Meine Cousine lächelt und verschwindet für etwa eine halbe Stunde. Dann kommt sie mit drei kleinen, etwas unförmigen Äpfeln zurück. Sie strotzt vor Stolz. Wir lächeln und haben denselben Gedanken: „Ein Königreich für einen Apfel.“ Wir schämen uns für den unnötigen Wunsch, aber genießen den süßen Geschmack der Bergäpfel.
Den Weg zurück vom Dorf meiner Mutter zum Marktplatz gehen wir zu Fuß, vorbei an einer Schule, Madrassa, wo kleine Jungen und Mädchen ganz ohne Federtasche und Schulranzen auf den Holzbänken der Lehrerin zuhören. Ganz in der Nähe rauchen junge Männer um die Wette. Der Abstieg vom Berg ist holprig, vom Regen der Nacht rutschig, aber Schritt für Schritt geht es mir besser, die Last der Trauer wird kleiner. In der Nähe von Menschen zu sein, die meine Mutter kannten, hilft den Schmerz lindern; in der Nähe der Geschichten über meine Mutter zu sein, macht mich stolz und zufrieden.
Mit dem Tod meiner Mutter weiß ich, dass auch mein Leben endlich ist und dass viele Dinge in ihrer Wichtigkeit im Leben und der Zeit danach vielleicht doch zu häufig falsch eingeschätzt werden. Die Geschichten über Mutter halten sie für mich lebendig. Ich bin den Menschen dankbar für ihre Begegnungen mit mir.
Am nächsten Tag begeben wir uns auf den Weg zurück nach Tanger, wollen aber einen kurzen Abstecher zu einem Marabout machen. Marabout bezeichnet einen islamischen Heiligen oder seine Grabstätte und beruht auf der Tradition des Sufismus, der islamischen Mystik. Der Begriff entstand vermutlich aus dem portugiesischen „Marabuto“ und dem spanischen Morabito“ und wurde bereits in verschiedenen Reiseberichten des 17. Jahrhunderts genannt.
Die typischen Grabstätten zeigen meist mit Kalk geweißte Kuppelbauten und eine kleine Bibliothek mit von dem jeweiligen Heiligen gesammelten und verfassten Schriften zu Religion und Philosophie. Mulay Abd as-Salams Grabstätte liegt etwa vierzig Kilometer von Buhamsi und etwa achtzig Kilometer von Tanger entfernt. Er wurde in Beni Aross im Jahre 1140 geboren. Die Familie meiner Mutter stammt von diesem Heiligen ab, so erzählen es die Menschen hier.