Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Jetzt kehren wir mit Mutter nach Tanger zurück. Es ist unsere letzte gemeinsame Reise.
In Tanger wartet Vater. Abdelhamid wird Vater nach mehr als vierundzwanzig Jahren wiedersehen. Tanger bringt uns wieder zusammen, Tanger wird uns nie wieder loslassen. Tanger, ich danke dir!
Ich halte beide Pässe meiner Mutter in meinen zitternden Händen. Die Ecken des deutschen Ausweises meiner Mutter sind vom Beamten abgeschnitten und ungültig gemacht, der marokkanische Pass ist noch gültig. Wir legen das Bild von Vater zu den beiden Dokumenten meiner geliebten Mutter.
Das Flugzeug beginnt in großer Höhe den Landeanflug. Ich sehe Tanger, sehe Gibraltar, beide Orte weniger als einen Fingerbreit voneinander entfernt. Wir landen etwas holprig, aber sicher. Wir sind angekommen und haben die traurigste aller Frachten bei uns. Wir schleichen nahezu über das Rollfeld. „Ibn Batutta“ steht da in großen Lettern. Wir steigen aus, meine Mutter wird getragen, der Wind tobt, mein Vater läuft mit verletztem Herzen hin und her und erwartet uns und den Schmerz des unvermeidlichen Abschieds.
Alle wollen den dunklen Sarg meiner Mutter tragen, mein Vater voran, niemand macht ihm diesen Platz streitig. Wir laden den Sarg nach der kurzen Fahrt zu unserem Haus wieder aus. Mutter kommt für den Rest der kurzen afrikanischen Nacht ins Haus meines Vaters. Diese Nacht öffnet Seelen. Wir gehen in unsere Wohnung im neuen Stadtzentrum Tangers, am Boulevard, und schlafen erschöpft ein, schlafen ganz ohne Traum. Ich kann den aufregenden Tag nicht Revue passieren lassen, habe nur noch einen Wunsch, dass die kühle Nacht meine Trauer einfach schlucken wird. Ich habe Angst vor dem Morgengrauen. Angst macht einsam. Alles ist entschleunigt. Ich schlafe ein.
Der erste Tag, die erste Nacht des dreiteiligen Trauerfestes beginnt, so will es die Tradition.
Nun geht es weiter. Wir müssen Mutter auf die letzte Etappe begleiten. Wir fahren Kolonne. Fast genau vor einem Jahr war ich schon einmal Teil einer Kolonne, jetzt aber geht es nicht zum Königspalast. Der Beginn des Weges jedoch ist der gleiche. Zuerst vorbei an der Moschee Mohammed V., diesmal aber fahren wir hinter unserer Königinmutter, zum Friedhof Al Moujahidine.
Alle tragen wir den hölzernen Sarg. Er wird leichter, mein Herz schwerer. Ich bin wieder in der Moschee, ganz nah dem Placa de Iberia, wie vor einem Jahr, aber nun beten wir für meine Mutter, wenige Momente vor dem eigentlichen Begräbnis auf dem Friedhof, so will es der Brauch.
Ich schaue hoch im stillen Haus des Gebets, es ist noch stiller als sonst. Ich bewundere die Farben der gebogenen Fenster aus mintgrünen, orangefarbenen, blauen und roten Glaselementen, kann mich aber nicht daran erfreuen. Die Farben tragen alle Töne des irdischen Lebens, farbenprächtig und bunt wie die Vergangenheit und die Zeit, die einem noch zugeteilt ist. Die Gegenwart heute erscheint mir mit dem Tod meiner Mutter nur grau.
Durch den Tod meiner Mutter erkenne ich den Anfang und die Mitte meines Lebens.
Noch gestern beteten wir für unsere Mutter in Kreuzberg, in Berlin, jetzt sind wir in Tanger und beten weiter, dieselben Worte an unterschiedlichen Orten, aber mit nur einem Ziel, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Aus zwei Orten ist mit dem Gebet einer geworden. Das Gebet für unsere Mutter hielt alles an, die Orte, die Zeit, alles, nur die Tränen nicht. Die Tränen fallen stets nach unten, zur Erde hin, die Tränen erinnern uns daran, dass wir nur Menschen sind und nur für eine gewisse Zeit auf Erden. Es ist ein Geschenk, wenn man um jemanden weinen kann. Es ist wahrhaftig das schönste Geschenk, jemanden geliebt zu haben. „Wir werden geformt und gestaltet durch das, was wir lieben“, heißt es bei Goethe.
Wir legen den Sarg mit meiner Mutter in den umfunktionierten Ambulanzwagen, der uns vom Flughafen abgeholt hat. Ich glaube, für den Fahrer lässt sich mit den Toten mehr Geld verdienen als mit den Lebenden.
Vater setzt sich neben den Fahrer, einen kräftigen, ja übergewichtigen, freundlichen Mann. Wir fahren im Auto eines Verwandten hinterher und machen uns auf den Weg zum Friedhof. Die Kolonne fährt langsam und bestimmt für kurze Zeit den Rhythmus des Verkehrs auf der Hauptstraße. Alles wirkt langsamer und leiser als sonst. Wir sind am Friedhof angekommen.
Mutter wird wieder getragen. Von Mal zu Mal erscheint sie mir leichter, aber meine Kraft schwindet zunehmend.
Wir laufen durch den Eingang des Friedhofs, ein lieblos erscheinender Torbogen, der alles andere als eine Abgrenzung ist. Von überall kann man auf den Friedhof gelangen. Unzählige Grabsteine, dicht bei dicht, die meisten scheinen mir lange nicht mehr besucht worden zu sein, nur hier und da etwas vergessenes Grün oder eine farbige, aber vertrocknete Blume. Ich hoffe, dass Mutter eine besonders geschützte Grabstelle erhalten wird. Direkt an einer scheinbar vergessenen, aber der Sonne trotzenden Palme, Grabstein 991, ist ihr Platz.
Die kräftige Palme schützt das Grab, lässt aber auch direkte warme Sonnenstrahlen zu. Mutter würde es wohl gefallen. Der Wind ist schwächer, aber dennoch stark genug, um die schweren Palmwedel zum Schlagen zu bringen. Der Sarg aus dunklem, braunem Holz gleitet in die ausgehobene Grube, mit Seilen gehalten von hungrigen Männern vom Friedhof, die von den Beerdigungen etwas Geld erhoffen. Der Sarg gleitet vorbei an der aufgeworfenen trockenen Erde in die Tiefe. Minze, Salbei, Myrrheblätter und Feldblumen werden auf diesen Hügel der Trauer gelegt, der starke Wind ruft unverständliche Worte. Die Männer sprechen arabisch, die wenigen Frauen singen still. Wir kämpfen mit den Tränen und verlieren diesen unsinnigen Kampf. Mutter ist im Himmel, wir sind am Boden. Wir versinken im stummen Schmerz.
Tanger, ich danke dir, dass du mich so weinen lässt. Fragen über Fragen. Neue und immer neue Fragen schreien aus mir heraus. Was kommt nach diesem irdischen Leben?
Ich erinnere mich an die Worte Khalil Gibrans: »Wenn ihr wirklich den Geist des Todes schauen wollt, öffnet eure Herzen weit dem Körper des Lebens. Denn was heißt sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen? Und was heißt nicht mehr zu atmen anderes, als den Atem von seinen rastlosen Gezeiten zu befreien, damit er emporsteigt und sich entfaltet und Gott suchen kann? Nur wenn ihr vom Fluss der Stille trinkt, werdet ihr wirklich singen.
„Mutter, ich höre dich singen“.