Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Wir kaufen wunderbare orientalische Süßigkeiten, leicht geröstete Mandeln, Walnüsse und Erdnüsse in süßem Honig.
Abdellatif, der Sohn meines Onkels, und Yessin, der Sohn eines anderen vertrauten Verwandten, wollen noch Quellwasser für die Familie holen. Von ganz nah, vom Fuß des Berges am Dorf, ganz nah dem Land, das meine Mutter von den Eltern erbte und wo gerade Saubohnen in voller Pracht zur Ernte hin wachsen. „Quellwasser, das wäre etwas für Schwester Pietra aus dem Franziskanerkloster in Sießen“, sage ich zu Adak.
Schwester Pietra ist eine Künstlerin und beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Wassertropfen. Hierfür hat sie eine eigene Konstruktion ersonnen, die Tropfen auf einen Büttenpapierbogen langsam über Tage und Nächte fallen lässt. Dadurch entsteht ein wundersames kreisförmiges Bild, das sich ständig verändert. Sie berichtet, dass sie schon verschiedenste bekannte und unbekannte Wasserquellen verwendet hat und jedes Bild eine andere Geschichte erzählen und andere Charaktereigenschaften in sich tragen würde: wütende, friedliche, ausbrechende, linientreue, zerfließende, liebende, ängstliche, haltlose, hastige. Aber alle Wörter erzählen vom Leben.
Schwester Pietra regt so zu Begegnungen mit dem eigenen Herzen, mit anderen und mit Gott an. Einfachheit und Langsamkeit scheinen die Maximen ihrer Kunst zu sein. Wer ist aber der Schöpfer des Bildes – Schwester Pietra, oder die Schwerkraft, oder die Luft, Gott oder das Wasser selbst, oder ist es jemand anderes oder ein Zusammenspiel aller? Ist es nur eine wunderbare Möglichkeit, unsichtbare Kräfte um uns und in uns für das menschliche Auge sichtbar zu machen?
Ich fragte Schwester Pietra, ob sie auch Wasser aus dem Orient beobachtet hätte. Sie antwortete mit einem klaren Nein. Adak und ich haben den gleichen Gedanken, als die beiden Verwandten zum Brunnen gehen, um das Wasser in ihre Kanister zu füllen.
Ich erinnere mich nur zu gut an die Tage vor dem Tod meiner Mutter. Schwester Hanna, eine langjährige Patientin von mir, mit der ich jedes Mal bei unseren Begegnungen über die Welt und das Herz philosophiere, wollte eigentlich nach Assisi. Weil ihre Blutwerte den Verdacht auf ein erneutes Fortschreiten der Krebserkrankung vermuten ließen, kam sie nach Berlin in meine Sprechstunde. Ich sah sie kurz auf dem Flur meiner Klinik. Wie gewohnt trug sie ihre feine graue Tracht, ein schön anzusehendes Ordenskleid, der Kopf ist mit einem schwarzen Schleier bedeckt.
Ich veranlasste eine Röntgenuntersuchung, um Klarheit über die Tumorsituation zu bekommen. Es war ein Donnerstag im sonnigen Frühling, wir begrüßten uns und freuten uns trotz des beängstigendenAnlasses über unser Treffen. Sie erzählte mir, dass sie ein Geschenk mitgebracht hatte. Ein Geschenk anzunehmen fiel mir auch dieses Mal schwer. Ich freue mich sehr darüber, aber es ist mir unangenehm. Ich bedankte mich und vertröstete sie auf den nächsten Tag, den Freitag. Am Freitag traf ich sie wieder und sagte ihr, dass wir am Dienstag die notwendige neue Therapie in einer Ärztekonferenz besprechen und ich ihr davon berichten würde. Wieder sprach sie mich auf das Geschenk an, wieder vertröstete ich sie auf den nächsten Tag. »Ich habe morgen eine Lesung aus meinem Buch Marrakesch in Potsdam bei einer sehr netten Patientin und Galeristin, in einem wunderschönen Haus, da kommen Sie einfach mit, und dann können Sie mir das Geschenk gern übergeben. Ohne zu zögern, stimmte Schwester Hanna zu, und wir verabredeten uns für den Samstag.
Am Samstag starb meine Mutter. Nach vielen Jahren weinte ich wieder wie ein kleines Kind. Ich weine so selten, das letzte Mal lag mehr als zwanzig Jahre zurück, als meine Schwester Latifa in Tanger heiratete und das Elternhaus verließ.
Als ich für einen kleinen Moment allein war, weinte und weinte ich und wusste, dass ich nun wohl erwachsen bin. Gegen Mittag rief ich Schwester Hanna an und berichtete ihr vom Tod meiner Mutter und sagte ihr, dass ich nicht imstande sei, die geplante Lesung zu halten. Hans Georg Hoffmann, der Ehemann einer meiner Patientinnen, hatte vor einigen Wochen meine Mutter kennengelernt. Er vertrat mich bei der Lesung im Haus von Traudl Bauscher in Potsdam. Ich danke beiden sehr dafür.