Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo - Papa, wo wohnt eigentlich Gott?
Eines schönen Tages in Berlin war ich mit meinen Kindern und Khalid im weißen Auto meines Bruders und seiner Familie auf dem Weg nach Hause. Wir hörten mit großer Freude arabische Musik, ein melodisches Potpourri der erfolgreichsten Lieder der arabischen Welt. Plötzlich fragte meine Tochter Sara mit ihren neun Jahren: „Papa, wo wohnt eigentlich Gott?“ Um sich gleich selbst die Antwort zu geben:“ Er wohnt doch im Himmel, oder? Und man kann doch in ein Flugzeug steigen, um Gott zu besuchen?“ Khalid und ich waren überrascht über diese doch für viele Menschen brennende Frage. Khalid antwortete, bevor ich selbst einen klaren Gedanken fassen konnte: „Nein, Sara, mit dem Flugzeug kannst du nicht zu Gott kommen. Gott ist überall, wo Liebe ist, und nicht mit Flugzeugen, sondern nur mit deinem Herzen kommst du zur Liebe und zu Gott.“
„Muss Oma Aziza bald sterben?“, fragte sie vorsichtig weiter, da meine Mutter in den letzten Wochen wegen ihres Herzleidens mehrfach im Krankenhaus war. „Das weiß ich nicht. Ich hoffe nicht“, war meine Antwort. „Wir müssen für Oma Aziza beten.“
Am selben Abend, berührt von der Geschichte, fragte ich sie, ob wir gemeinsam beten wollten. Sara antwortete mit einem großen, lauten und verliebten „Jaaa“. „Lieber Gott, pass auf Mama auf, pass auf Papa auf, pass bitte auf Elias auf, pass auf alle Menschen auf, die ich liebe, und bitte pass auf alle Kranken auf“, waren ihre Worte, ihre ersten Sätze der Liebe und zu Gott.
Wir kamen zusammen, alte und neue Freunde kamen zum Fest, die Sonne strahlte wie seit vielen Monaten nicht in Berlin. Laut Wetterbericht war vor zwei Tagen der gelbbraune Saharastaub, vorbei an den Bergen des Atlasgebirges, über das Mittelmeer und die Alpen nach Deutschland gezogen. In Tanger kennt man diesen Gast, Chergui wird er genannt, der heiße, trockene, sandbenetzte Südostwind aus der Sahara. Nun war er hier, mehr als nur ein meteorologischer Zufall.
Die Stimmung war ruhig und schön, die Trauer hatte sich gelegt, wir vermissten unsere Mutter, gönnten ihr aber den Frieden, den sie jetzt hatte und der ihr so lange verwehrt war. Wir waren stolz auf sie und verstanden zum ersten Mal ihren Stolz auf uns. Alle waren zufrieden, dass wir uns so nahe sind.
Hamid und ich waren uns einig, unsere Mutter war für einen kurzen Moment bei uns, hier in Spandau. Omar fragte uns, ob wir ein Gebet für unsere Mutter halten sollten. Wir riefen alle zusammen, die Männer, die Frauen und die Kinder. Die kleineren Kinder waren die Ersten an der Holzbank im Garten, auf der Omar bereits wartete. Omar faltete und öffnete seine dunklen Hände, neigte den Kopf ein wenig nach rechts und sprach mit sanfter Stimme in Richtung Himmel. Ich verstand kein Wort, wusste aber, dass sie aus tiefem Herzen kamen. Das war der Moment, in dem Mutter sich zu uns gesellte und sich freute, dass sie der Grund unserer Zusammenkunft war, und uns damit zeigte, dass wir uns stets gegenseitig suchen und finden müssen und dass die Kinder der Pfeil für ins Morgen und Übermorgen sind.
Vor Kurzem schenkte mir der Ehemann einer Patientin ein wunderbares Gedicht von Michelangelo, das ihn beim Tod seiner Mutter getröstet hatte:
Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.
Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume.
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume,
Da uns, die wir vereint, Verwandlung traf.
Ihr glaubt mich tot, doch dass die Welt ich tröste,
Leb ich mit tausend Seelen dort,
An einem wunderbaren Ort,
Im Herz der Lieben. Nein, ich ging nicht fort,
Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste.
Ich schreibe und schreibe, ich spreche zu mir, ich schreibe dieses Buch für mich, der Schmerz ist der Dynamo meiner Zeilen. Der Abschied verursacht den Schmerz, der den Dynamo speist. Der Takt ist hoch, sehr hoch, dazwischen aber immer wieder kürzere und längere Zeiten der Lähmung. Ja, Schmerz kann einen Menschen lähmen, aber auch bewegen, kann neue Dinge entstehen lassen – Dinge, die vielleicht ohne diesen Schmerz nie möglich geworden wären. Diese menschliche Kraft kann aus dem Schmerz Zufriedenheit machen – ohne dass es aufhört, im Herzen wehzutun.