Zum Hauptinhalt springen

Baiʿa (Treueeid) als Schlüssel zur marokkanischen Herrschaftsstabilität - Ursprünge der Baiʿa

Seite 2 von 6: Ursprünge der Baiʿa

Sprachlicher Ursprung:

Bei der Untersuchung verschiedener Quellen zur Baiʿa wird deutlich, dass sie im Kern den Charakter eines Vertrags und einer Vereinbarung trägt, ähnlich den Verträgen des Kaufs, Verkaufs, der Ehe und anderer Formen des gegenseitigen Einverständnisses. Ihr Bedeutungsgehalt umfasst das Einvernehmen und die Vereinbarung, vergleichbar mit einem tatsächlichen Kaufvertrag. Die Baiʿa soll als Vertrag und Eid zwischen dem Herrscher und denjenigen, die ihm Treue schwören betrachtet werden. Jede Partei verpflichtet sich dabei, die jeweilige Seite der Abmachung einzuhalten.

Religiöser Ursprung:

Die religiöse Bedeutung der Baiʿa ergibt sich aus ihrer hohen Wertschätzung im Islam, da sie in mehreren Koranversen erwähnt wird, die ihre Wichtigkeit und die Bedeutung des darin enthaltenen Eides betonen. Beispiele hierfür sind: „Gewiss, diejenigen, die dir Treue schwören, schwören Gott die Treue. Gottes Hand ist über ihren Händen. Wer also den Eid bricht, bricht ihn nur zu seinem eigenen Schaden. Wer aber erfüllt, wozu er sich Gott gegenüber verpflichtet hat, dem wird Er einen gewaltigen Lohn gewähren.“ (Sure 48:10)

Auch in den Prophetenüberlieferungen wird die Bedeutung der Baiʿa für die Führung der muslimischen Gemeinschaft hervorgehoben. Sie wird als essenzieller Bestandteil eines vollständigen Islam betrachtet: „Wer stirbt, ohne dass ein Treueeid auf seinem Nacken liegt, stirbt den Tod der Unwissenheit.“, „Wer sich der Gehorsamkeit entzieht und die Gemeinschaft verlässt und stirbt, stirbt den Tod der Unwissenheit.

Diese Betonung der Baiʿa im Koran und in den Hadith führte dazu, dass die Übereinstimmung darüber zu einem Grundpfeiler ihrer Legitimität wurde, wie es im Koran heißt: „Ihr Gläubigen, tretet allesamt in die Hingabe ein!“ (Sure 2:208).

Ursprünge des Treueeids in der islamischen Geschichte:

Der Treueeid von Abū Bakr als Kalif war der erste seiner Art in der Geschichte des Islam nach dem Tod des Propheten. Dieser ist als der Treueeid von Saqīfa bekannt und zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht schriftlich festgehalten wurde.

Im Kontext der arabischen Kultur und Geschichte hat das Wort "Saqīfa" (سقيفة) verschiedene Bedeutungen, die je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden können: "Saqīfa" bedeutet wörtlich "Überdachung", "Schattendach" oder "Pergola". Es bezeichnet eine überdachte Struktur, die Schutz vor der Sonne bietet. In der islamischen Geschichte wird der Begriff "Saqīfa" besonders mit dem Ereignis der Saqīfa von Banu Sa'ida (سقيفة بني ساعدة) verbunden. Dies war ein Versammlungsort in Medina, wo nach dem Tod des Propheten Mohammed (saw) Diskussionen über die Nachfolge (Kalifat) stattfanden. Hier symbolisiert "Saqīfa" einen politischen Treffpunkt oder Ort der Beratung.

 

Mit dem Machtwechsel zu den Umayyaden erlebte der Treueeid eine neue Entwicklung. Al-Qalqaschandī stellt in Ṣubḥ al-A‘scha fest, dass der Treueeid weiterhin ohne schriftliche Dokumentation erfolgte. Die Neuerung bestand jedoch in der Einführung verschärfter Eide, um einen Bruch des Treueeids zu verhindern. Diese Eide dienten auch dazu, den Druck auf mögliche Rebellen gegen die Herrschaft der Kalifen zu erhöhen.

Al-Qalqashandī (Shihab al-Din Abu al-Abbas Ahmad ibn Ali al-Qalqashandi, 1355–1418) war ein bedeutender ägyptischer Gelehrter, Sekretär und Schriftsteller der Mamlukenzeit. Er arbeitete als Sekretär (kātib) in der Diwan-Verwaltung der Mamluken und war für die Abfassung offizieller Dokumente und Korrespondenzen verantwortlich.

Ṣubḥ al-Aʿscha (صبح الأعشى) ist ein berühmtes arabisches Werk des Gelehrten Al-Qalqashandī. Es handelt sich um ein umfassendes Handbuch der Kanzleiwissenschaften und wird oft als eine der bedeutendsten Quellen für Verwaltungspraktiken und diplomatische Prozeduren im islamischen Mittelalter angesehen. Es ist eine wichtige Referenz für Historiker und Gelehrte, die sich mit islamischer Verwaltung, Diplomatie und Kultur beschäftigen.Wörtlich bedeutet „Ṣubḥ al-Aʿscha“ „Die Morgendämmerung des Nachtblinden“. Dies symbolisiert das Licht des Wissens, das denjenigen Orientierung bietet, die sich in administrativen und diplomatischen Angelegenheiten nicht auskennen.

 

Al-Qalqaschandī erläutert: „Zu Zeiten der Herrschaft der Umayyaden, insbesondere unter Abd al-Malik ibn Marwān, als al-Ḥaǧǧāǧ ibn Yūsuf zum Statthalter des Irak ernannt wurde und begann, für Abd al-Malik im Irak den Treueeid einzufordern, wurden strenge Eide eingeführt. Diese umfassten Schwüre bei Gott, Scheidungen, Freilassungen von Sklaven und andere bindende Gelübde. Diese Schwüre, die als Treueeid-Schwüre bekannt wurden, wurden von den Abbasiden später übernommen und wurden zum gängigen Verfahren.“

Abd al-Malik ibn Marwān (arabisch: عبد الملك بن مروان in Medina; gest. 705 in Damaskus) war der fünfte Kalif der Umayyaden-Dynastie und regierte von 685 bis 705. Er wird als einer der bedeutendsten Herrscher der Umayyaden angesehen, da er entscheidende Reformen einleitete und das Reich stabilisierte. Er gilt als Architekt des zentralisierten und administrativ starken Umayyaden-Kalifats. Seine Reformen legten den Grundstein für die weitere Expansion und Verwaltung des Kalifats.

Al-Ḥaǧǧāǧ ibn Yūsuf (gest. 714 n. Chr.) war eine herausragende und umstrittene Figur der frühen Islamgeschichte, die vor allem als Gouverneur unter der Umayyaden-Dynastie bekannt wurde. Er wurde zum Gouverneur von Irak ernannt, wo er sowohl die Verwaltung der Region als auch die militärischen Kampagnen leitete. Al-Ḥaǧǧāǧ spielte eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung von Aufständen in dieser Zeit. Al-Ḥaǧǧāǧ erlangte einen zweifelhaften Ruf für seine Grausamkeit. Sein Vermächtnis bleibt umstritten. Während seine administrativen und militärischen Fähigkeiten für die Umayyaden-Dynastie von großem Wert waren, wurde seine Herrschaft durch die brutalen Methoden, die er anwandte, überschattet. Er starb 714 n. Chr., und sein Tod wurde von vielen, die unter seiner Herrschaft gelitten hatten, gefeiert.

 

Die schriftliche Dokumentation des Treueeids war hingegen zunächst nur bei der Nachfolge durch Ernennung bekannt. Al-Qalqaschandī verweist darauf, dass diese Praxis vor allem in den westlichen Regionen des islamischen Reiches verbreitet war, während sie im Osten kaum Anwendung fand.

Der Treueeid aus der Sicht islamischer Gelehrter

Die Betrachtung des Treueeids durch islamische Rechtsgelehrte ist eng mit ihrer Diskussion über die Auswahl des Führers in der islamischen Gemeinschaft verbunden. Dabei wurde der Treueeid im Kontext des Kalifats, der Imamat oder des Sultanats behandelt. Diese Begriffe mögen sich zwar unterscheiden, doch haben sie gemeinsam, dass sie den obersten Führer einer islamischen Gesellschaft bezeichnen.

Imamat (arabisch: إمامة, Imāma) ist ein Begriff, der je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen hat. Er wird primär in der islamischen Theologie, Jurisprudenz und Politik verwendet. Wörtlich bedeutet Imāma „Führerschaft“ oder „Leitung“. Es beschreibt die Funktion eines Führers, insbesondere in religiösen oder spirituellen Angelegenheiten.

Das Sultanat ist eine spezifische Form der politischen Herrschaft im islamischen Kulturkreis. Der Begriff leitet sich von dem arabischen Wort "Sulṭān" (سلطان) ab, das „Autorität“, „Macht“ oder „Herrschaft“ bedeutet. Ein Sultanat beschreibt somit ein Territorium oder einen Staat, der von einem Sultan regiert wird.

 

Al-Māwardī gibt in seinem Werk al-Aḥkam al-Sulṭaniyya eine umfassende Darstellung der Ansichten der Rechtsgelehrten. Die wichtigsten Punkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Notwendigkeit des Imamat wird sowohl durch die Vernunft als auch durch die religiöse Pflicht begründet.
  • Die Bedingungen, die die Person erfüllen muss, die für die Führungsposition ausgewählt wird, werden dargelegt.
  • Die Voraussetzungen für diejenigen, die den Führer auswählen, werden erläutert.
  • Es wird beschrieben, welche Pflichten der Führer gegenüber der Gemeinschaft und welche Pflichten die Gemeinschaft gegenüber dem Führer hat.
  • Es werden die Gründe genannt, die den Entzug des Imamat von seinem Träger rechtfertigen.

Al-Māwardī (Abū al-Ḥasan ʿAlī ibn Muḥammad ibn Ḥabīb al-Māwardī, arabisch: أبو الحسن علي بن محمد بن حبيب الماوردي, 972–1058) war ein einflussreicher islamischer Jurist, Theologe und Politiker. Er gehört zur schafiitischen Rechtsschule und ist bekannt für seine Werke über islamisches Recht, politische Theorie und Staatsführung. Sein Hauptwerk „Al-Aḥkām al-Sulṭāniyya (Die Vorschriften der Herrschaft) ist ein Meilenstein der islamischen politischen Theorie.

Al-Aḥkām al-Sulṭāniyya (الأحكام السلطانية). Der Titel lässt sich als „Die Regierungsverordnungen“ oder „Die Herrschaftsregeln“ übersetzen. In diesem Werk behandelt al-Māwardī die Prinzipien und Vorschriften, die die Organisation und Verwaltung eines islamischen Staates betreffen. 

 

Aus diesen Punkten wird deutlich, dass der Treueeid aus rechtswissenschaftlicher Perspektive von verschiedenen Aspekten abhängt, darunter die Eigenschaften der Person, der der Eid geschworen wird, die Gruppen, die den Eid leisten, sowie die Bedingungen des Vertrags und dessen Ungültigkeit. Dies lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Bedingungen für die Person, der der Treueeid geschworen wird

a) Erforderliche Eigenschaften:

  • Gesundheit der Sinne
  • Unversehrtheit des Körpers
  • Klugheit, die zur guten Regierungsführung der Gemeinschaft führt
  • Tapferkeit
  • Abstammung aus dem Quraisch-Stamm


    Der Quraisch-Stamm (arabisch: قريش) war ein bedeutender arabischer Stamm in Mekka und spielte eine zentrale Rolle in der Geschichte des Islam. Hier eine kurze Zusammenfassung. Die Quraisch waren ein wohlhabender und einflussreicher Stamm, der Mekka kontrollierte. Sie verdankten ihre Macht dem Schutz der Kaaba, des zentralen Heiligtums der arabischen Stämme, sowie ihrer Rolle im Handel. Der Prophet Mohammed (saw) gehörte dem Quraisch-Stamm an. Anfangs standen viele Mitglieder des Quraisch dem Islam feindlich gegenüber, da Mohammeds Botschaft ihre wirtschaftlichen und religiösen Interessen bedrohte. Nach der Eroberung Mekkas (630 n. Chr.) schlossen sich jedoch viele Quraisch dem Islam an und spielten später eine wichtige Rolle bei seiner Verbreitung.



  • Gerechtigkeit
  • Gelehrsamkeit, die zu eigenständiger Rechtsfindung befähigt

b) Pflichten nach Ableistung des Treueeids:

  • Bewahrung der Religion
  • Umsetzung der religiösen und weltlichen Gesetze
  • Schutz der Gebiete der Muslime
  • Vollstreckung der Strafen
  • Sicherung der Grenzen
  • Führung des „Jihad gegen Feinde des Islam

    Jihad (Dschihad) (جهاد) bedeutet wörtlich „Anstrengung“ und ist ein vielschichtiger Begriff im Islam. Spiritueller Jihad (größerer Jihad) bezieht sich auf den inneren Kampf eines Muslims, ein gottgefälliges Leben zu führen, moralisch zu handeln, und die eigenen Schwächen oder schlechten Neigungen zu überwinden. Äußerer Jihad (kleinerer Jihad) bezieht sich auf den Einsatz für den Islam und die Gemeinschaft (Umma). Oft wird der Begriff ausschließlich mit militärischem Kampf assoziiert, was eine Verkürzung der umfassenden Bedeutung ist. Der Jihad zielt grundsätzlich auf das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden ab.


  • Einziehung von Abgaben gemäß den Vorschriften des islamischen Rechts und der Rechtsauslegung

c) Gründe für die Amtsenthebung sind:

  • die Verletzung der Gerechtigkeit oder
  • körperliche Einschränkungen, die die Ausführung seiner Pflichten behindern

Bedingungen für die Gruppen, die den Treueeid leisten

  • Wissen, das dazu befähigt, zu erkennen, wer das Imamat verdient
  • Urteilskraft und Weisheit, die es ermöglichen, die geeignetste Person für das Imamat auszuwählen

Vertragsbedingungen und Ungültigkeitsgründe

Bedingungen:

  • Klarstellung der Pflichten des Führers
  • Klarstellung der Pflichten der Gemeinschaft, nämlich Gehorsam und Unterstützung

Ungültigkeitsgründe:

  • Dieselben Bedingungen, die die Amtsenthebung rechtfertigen

 

Beitrag, Seite 1 * Ursprünge der Baiʿa * Das Regierungssystem Marokkos * Besonderheiten der verschiedenen Treueeide * Umstände der Treueeid-Feier im 19. Jahrhundert * Moderne Theorien

 

Regierungssystem Marokkos
Seite