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Baiʿa (Treueeid) als Schlüssel zur marokkanischen Herrschaftsstabilität

Zu den grundlegenden Merkmalen des Regierungssystems in Marokko gehört die Stabilität der Herrschaft. Diese Stabilität ist eng mit einer Reihe historischer Gegebenheiten verknüpft, die sich seit der Einführung des Islam und der darauffolgenden Abfolge von Dynastien und Herrscherfamilien in Marokko entwickelt haben.

Die spezifische Form des Regierungssystems, die auf der Baiʿa (ungefähre Übersetzung: Treueeid) gemäß den bekannten Rechtsvorschriften des islamischen Rechts und den von islamischen Gelehrten als „Sultansrecht“ bezeichneten Regelungen basiert, hat neben den übrigen historischen Faktoren erheblich zu dieser Stabilität beigetragen. Diese Faktoren prägen die allgemeinen und besonderen Umstände jeder Phase der marokkanischen Geschichte, angefangen von der islamischen Eroberung bis hin zur Zeit des Protektorats.

 

Ursprünge der Baiʿa

Das Regierungssystem Marokkos

Besonderheiten der verschiedenen Treueeide

Umstände der Treueeid-Feier im 19. Jahrhundert

Moderne Theorien

Siehe Youtube-Video zu der Bai'a 2024.

Mit dem Übergang in die Phase nach dem Protektorat trat Marokko in eine Ära ein, in der es trotz vielfältiger Bemühungen, die Regierungsmechanismen zu modernisieren und weiterzuentwickeln, an seinen historischen Wurzeln festhielt. Dieses Erbe bildet das Kapital, das Marokkos Geschichte mit seiner Gegenwart verbindet.

Mein Anliegen in diesem Beitrag ist es, diese historischen Wurzeln und ihre Entfaltungen näher zu beleuchten, insbesondere in Bezug auf einen zentralen Aspekt, bei dem Form und Inhalt des Regierungssystems eine untrennbare Einheit bilden. Dieser Aspekt ermöglicht es, die Essenz des Regierungssystems in einem zusammenfassenden Konzept zu greifen, bedarf jedoch einer Vielzahl wissenschaftlicher Herangehensweisen.

 


Sprachlicher Ursprung:

Bei der Untersuchung verschiedener Quellen zur Baiʿa wird deutlich, dass sie im Kern den Charakter eines Vertrags und einer Vereinbarung trägt, ähnlich den Verträgen des Kaufs, Verkaufs, der Ehe und anderer Formen des gegenseitigen Einverständnisses. Ihr Bedeutungsgehalt umfasst das Einvernehmen und die Vereinbarung, vergleichbar mit einem tatsächlichen Kaufvertrag. Die Baiʿa soll als Vertrag und Eid zwischen dem Herrscher und denjenigen, die ihm Treue schwören betrachtet werden. Jede Partei verpflichtet sich dabei, die jeweilige Seite der Abmachung einzuhalten.

Religiöser Ursprung:

Die religiöse Bedeutung der Baiʿa ergibt sich aus ihrer hohen Wertschätzung im Islam, da sie in mehreren Koranversen erwähnt wird, die ihre Wichtigkeit und die Bedeutung des darin enthaltenen Eides betonen. Beispiele hierfür sind: „Gewiss, diejenigen, die dir Treue schwören, schwören Gott die Treue. Gottes Hand ist über ihren Händen. Wer also den Eid bricht, bricht ihn nur zu seinem eigenen Schaden. Wer aber erfüllt, wozu er sich Gott gegenüber verpflichtet hat, dem wird Er einen gewaltigen Lohn gewähren.“ (Sure 48:10)

Auch in den Prophetenüberlieferungen wird die Bedeutung der Baiʿa für die Führung der muslimischen Gemeinschaft hervorgehoben. Sie wird als essenzieller Bestandteil eines vollständigen Islam betrachtet: „Wer stirbt, ohne dass ein Treueeid auf seinem Nacken liegt, stirbt den Tod der Unwissenheit.“, „Wer sich der Gehorsamkeit entzieht und die Gemeinschaft verlässt und stirbt, stirbt den Tod der Unwissenheit.

Diese Betonung der Baiʿa im Koran und in den Hadith führte dazu, dass die Übereinstimmung darüber zu einem Grundpfeiler ihrer Legitimität wurde, wie es im Koran heißt: „Ihr Gläubigen, tretet allesamt in die Hingabe ein!“ (Sure 2:208).

Ursprünge des Treueeids in der islamischen Geschichte:

Der Treueeid von Abū Bakr als Kalif war der erste seiner Art in der Geschichte des Islam nach dem Tod des Propheten. Dieser ist als der Treueeid von Saqīfa bekannt und zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht schriftlich festgehalten wurde.

Im Kontext der arabischen Kultur und Geschichte hat das Wort "Saqīfa" (سقيفة) verschiedene Bedeutungen, die je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden können: "Saqīfa" bedeutet wörtlich "Überdachung", "Schattendach" oder "Pergola". Es bezeichnet eine überdachte Struktur, die Schutz vor der Sonne bietet. In der islamischen Geschichte wird der Begriff "Saqīfa" besonders mit dem Ereignis der Saqīfa von Banu Sa'ida (سقيفة بني ساعدة) verbunden. Dies war ein Versammlungsort in Medina, wo nach dem Tod des Propheten Mohammed (saw) Diskussionen über die Nachfolge (Kalifat) stattfanden. Hier symbolisiert "Saqīfa" einen politischen Treffpunkt oder Ort der Beratung.

 

Mit dem Machtwechsel zu den Umayyaden erlebte der Treueeid eine neue Entwicklung. Al-Qalqaschandī stellt in Ṣubḥ al-A‘scha fest, dass der Treueeid weiterhin ohne schriftliche Dokumentation erfolgte. Die Neuerung bestand jedoch in der Einführung verschärfter Eide, um einen Bruch des Treueeids zu verhindern. Diese Eide dienten auch dazu, den Druck auf mögliche Rebellen gegen die Herrschaft der Kalifen zu erhöhen.

Al-Qalqashandī (Shihab al-Din Abu al-Abbas Ahmad ibn Ali al-Qalqashandi, 1355–1418) war ein bedeutender ägyptischer Gelehrter, Sekretär und Schriftsteller der Mamlukenzeit. Er arbeitete als Sekretär (kātib) in der Diwan-Verwaltung der Mamluken und war für die Abfassung offizieller Dokumente und Korrespondenzen verantwortlich.

Ṣubḥ al-Aʿscha (صبح الأعشى) ist ein berühmtes arabisches Werk des Gelehrten Al-Qalqashandī. Es handelt sich um ein umfassendes Handbuch der Kanzleiwissenschaften und wird oft als eine der bedeutendsten Quellen für Verwaltungspraktiken und diplomatische Prozeduren im islamischen Mittelalter angesehen. Es ist eine wichtige Referenz für Historiker und Gelehrte, die sich mit islamischer Verwaltung, Diplomatie und Kultur beschäftigen.Wörtlich bedeutet „Ṣubḥ al-Aʿscha“ „Die Morgendämmerung des Nachtblinden“. Dies symbolisiert das Licht des Wissens, das denjenigen Orientierung bietet, die sich in administrativen und diplomatischen Angelegenheiten nicht auskennen.

 

Al-Qalqaschandī erläutert: „Zu Zeiten der Herrschaft der Umayyaden, insbesondere unter Abd al-Malik ibn Marwān, als al-Ḥaǧǧāǧ ibn Yūsuf zum Statthalter des Irak ernannt wurde und begann, für Abd al-Malik im Irak den Treueeid einzufordern, wurden strenge Eide eingeführt. Diese umfassten Schwüre bei Gott, Scheidungen, Freilassungen von Sklaven und andere bindende Gelübde. Diese Schwüre, die als Treueeid-Schwüre bekannt wurden, wurden von den Abbasiden später übernommen und wurden zum gängigen Verfahren.“

Abd al-Malik ibn Marwān (arabisch: عبد الملك بن مروان in Medina; gest. 705 in Damaskus) war der fünfte Kalif der Umayyaden-Dynastie und regierte von 685 bis 705. Er wird als einer der bedeutendsten Herrscher der Umayyaden angesehen, da er entscheidende Reformen einleitete und das Reich stabilisierte. Er gilt als Architekt des zentralisierten und administrativ starken Umayyaden-Kalifats. Seine Reformen legten den Grundstein für die weitere Expansion und Verwaltung des Kalifats.

Al-Ḥaǧǧāǧ ibn Yūsuf (gest. 714 n. Chr.) war eine herausragende und umstrittene Figur der frühen Islamgeschichte, die vor allem als Gouverneur unter der Umayyaden-Dynastie bekannt wurde. Er wurde zum Gouverneur von Irak ernannt, wo er sowohl die Verwaltung der Region als auch die militärischen Kampagnen leitete. Al-Ḥaǧǧāǧ spielte eine entscheidende Rolle bei der Unterdrückung von Aufständen in dieser Zeit. Al-Ḥaǧǧāǧ erlangte einen zweifelhaften Ruf für seine Grausamkeit. Sein Vermächtnis bleibt umstritten. Während seine administrativen und militärischen Fähigkeiten für die Umayyaden-Dynastie von großem Wert waren, wurde seine Herrschaft durch die brutalen Methoden, die er anwandte, überschattet. Er starb 714 n. Chr., und sein Tod wurde von vielen, die unter seiner Herrschaft gelitten hatten, gefeiert.

 

Die schriftliche Dokumentation des Treueeids war hingegen zunächst nur bei der Nachfolge durch Ernennung bekannt. Al-Qalqaschandī verweist darauf, dass diese Praxis vor allem in den westlichen Regionen des islamischen Reiches verbreitet war, während sie im Osten kaum Anwendung fand.

Der Treueeid aus der Sicht islamischer Gelehrter

Die Betrachtung des Treueeids durch islamische Rechtsgelehrte ist eng mit ihrer Diskussion über die Auswahl des Führers in der islamischen Gemeinschaft verbunden. Dabei wurde der Treueeid im Kontext des Kalifats, der Imamat oder des Sultanats behandelt. Diese Begriffe mögen sich zwar unterscheiden, doch haben sie gemeinsam, dass sie den obersten Führer einer islamischen Gesellschaft bezeichnen.

Imamat (arabisch: إمامة, Imāma) ist ein Begriff, der je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen hat. Er wird primär in der islamischen Theologie, Jurisprudenz und Politik verwendet. Wörtlich bedeutet Imāma „Führerschaft“ oder „Leitung“. Es beschreibt die Funktion eines Führers, insbesondere in religiösen oder spirituellen Angelegenheiten.

Das Sultanat ist eine spezifische Form der politischen Herrschaft im islamischen Kulturkreis. Der Begriff leitet sich von dem arabischen Wort "Sulṭān" (سلطان) ab, das „Autorität“, „Macht“ oder „Herrschaft“ bedeutet. Ein Sultanat beschreibt somit ein Territorium oder einen Staat, der von einem Sultan regiert wird.

 

Al-Māwardī gibt in seinem Werk al-Aḥkam al-Sulṭaniyya eine umfassende Darstellung der Ansichten der Rechtsgelehrten. Die wichtigsten Punkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Notwendigkeit des Imamat wird sowohl durch die Vernunft als auch durch die religiöse Pflicht begründet.
  • Die Bedingungen, die die Person erfüllen muss, die für die Führungsposition ausgewählt wird, werden dargelegt.
  • Die Voraussetzungen für diejenigen, die den Führer auswählen, werden erläutert.
  • Es wird beschrieben, welche Pflichten der Führer gegenüber der Gemeinschaft und welche Pflichten die Gemeinschaft gegenüber dem Führer hat.
  • Es werden die Gründe genannt, die den Entzug des Imamat von seinem Träger rechtfertigen.

Al-Māwardī (Abū al-Ḥasan ʿAlī ibn Muḥammad ibn Ḥabīb al-Māwardī, arabisch: أبو الحسن علي بن محمد بن حبيب الماوردي, 972–1058) war ein einflussreicher islamischer Jurist, Theologe und Politiker. Er gehört zur schafiitischen Rechtsschule und ist bekannt für seine Werke über islamisches Recht, politische Theorie und Staatsführung. Sein Hauptwerk „Al-Aḥkām al-Sulṭāniyya (Die Vorschriften der Herrschaft) ist ein Meilenstein der islamischen politischen Theorie.

Al-Aḥkām al-Sulṭāniyya (الأحكام السلطانية). Der Titel lässt sich als „Die Regierungsverordnungen“ oder „Die Herrschaftsregeln“ übersetzen. In diesem Werk behandelt al-Māwardī die Prinzipien und Vorschriften, die die Organisation und Verwaltung eines islamischen Staates betreffen. 

 

Aus diesen Punkten wird deutlich, dass der Treueeid aus rechtswissenschaftlicher Perspektive von verschiedenen Aspekten abhängt, darunter die Eigenschaften der Person, der der Eid geschworen wird, die Gruppen, die den Eid leisten, sowie die Bedingungen des Vertrags und dessen Ungültigkeit. Dies lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Bedingungen für die Person, der der Treueeid geschworen wird

a) Erforderliche Eigenschaften:

  • Gesundheit der Sinne
  • Unversehrtheit des Körpers
  • Klugheit, die zur guten Regierungsführung der Gemeinschaft führt
  • Tapferkeit
  • Abstammung aus dem Quraisch-Stamm


    Der Quraisch-Stamm (arabisch: قريش) war ein bedeutender arabischer Stamm in Mekka und spielte eine zentrale Rolle in der Geschichte des Islam. Hier eine kurze Zusammenfassung. Die Quraisch waren ein wohlhabender und einflussreicher Stamm, der Mekka kontrollierte. Sie verdankten ihre Macht dem Schutz der Kaaba, des zentralen Heiligtums der arabischen Stämme, sowie ihrer Rolle im Handel. Der Prophet Mohammed (saw) gehörte dem Quraisch-Stamm an. Anfangs standen viele Mitglieder des Quraisch dem Islam feindlich gegenüber, da Mohammeds Botschaft ihre wirtschaftlichen und religiösen Interessen bedrohte. Nach der Eroberung Mekkas (630 n. Chr.) schlossen sich jedoch viele Quraisch dem Islam an und spielten später eine wichtige Rolle bei seiner Verbreitung.



  • Gerechtigkeit
  • Gelehrsamkeit, die zu eigenständiger Rechtsfindung befähigt

b) Pflichten nach Ableistung des Treueeids:

  • Bewahrung der Religion
  • Umsetzung der religiösen und weltlichen Gesetze
  • Schutz der Gebiete der Muslime
  • Vollstreckung der Strafen
  • Sicherung der Grenzen
  • Führung des „Jihad gegen Feinde des Islam

    Jihad (Dschihad) (جهاد) bedeutet wörtlich „Anstrengung“ und ist ein vielschichtiger Begriff im Islam. Spiritueller Jihad (größerer Jihad) bezieht sich auf den inneren Kampf eines Muslims, ein gottgefälliges Leben zu führen, moralisch zu handeln, und die eigenen Schwächen oder schlechten Neigungen zu überwinden. Äußerer Jihad (kleinerer Jihad) bezieht sich auf den Einsatz für den Islam und die Gemeinschaft (Umma). Oft wird der Begriff ausschließlich mit militärischem Kampf assoziiert, was eine Verkürzung der umfassenden Bedeutung ist. Der Jihad zielt grundsätzlich auf das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden ab.


  • Einziehung von Abgaben gemäß den Vorschriften des islamischen Rechts und der Rechtsauslegung

c) Gründe für die Amtsenthebung sind:

  • die Verletzung der Gerechtigkeit oder
  • körperliche Einschränkungen, die die Ausführung seiner Pflichten behindern

Bedingungen für die Gruppen, die den Treueeid leisten

  • Wissen, das dazu befähigt, zu erkennen, wer das Imamat verdient
  • Urteilskraft und Weisheit, die es ermöglichen, die geeignetste Person für das Imamat auszuwählen

Vertragsbedingungen und Ungültigkeitsgründe

Bedingungen:

  • Klarstellung der Pflichten des Führers
  • Klarstellung der Pflichten der Gemeinschaft, nämlich Gehorsam und Unterstützung

Ungültigkeitsgründe:

  • Dieselben Bedingungen, die die Amtsenthebung rechtfertigen

 

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Regierungssystem Marokkos

Vor der alawitischen Dynastie

Die zuvor genannten Ursprünge des Treueeids prägten das System der Baiʿa in Marokko seit der Zeit der Idrisiden. Das politische System Marokkos orientierte sich im Allgemeinen an dem, was in modernen Studien als "sultanistischer Staat" bezeichnet wird, basierend auf der sunnitischen Orthodoxie, die sich mit der Verbreitung der Lehre von Imam Malik im Land etablierte.

Der Treueeid als schriftliches Dokument in Marokko

Der schriftliche Treueeid hat in Marokko eine lange Tradition. Ein Beispiel hierfür ist der Eid von Abd al-Karim ibn Yaḥya, dem Herrscher der „Adwat al-Andalus“ (das Viertel der Andalusier) in Fès, gegenüber dem Kalifen al-Ḥakam al-Mustanṣir bi-Llah von den Omayyaden. In diesem Eid zeigt sich die ausgeprägte Betonung auf die feierlichen Schwüre der Baiʿa.

Die Treueeide der marokkanischen Sultane vor der alawitischen Dynastie

Hierbei sei insbesondere der Eid hervorgehoben, der von den Gefolgsleuten der Almohaden-Sultane wiederholt wurde. Abd al-Waḥid al-Murrakuschi berichtet in seinem Werk al-Muʿǧib über den Eid an den Almohaden-Sultan al-Mustanṣir bi-Llah Abu Yaʿqub Yusuf:

Abd al-Waḥid al-Murrakuschi (عبد الواحد المراكشي) war ein islamischer Gelehrter, Historiker und Rechtswissenschaftler aus Marokko, der im 12. Jahrhundert lebte. Er ist vor allem für sein Werk "al-Muhabbar" bekannt, eine bedeutende historische Quelle über die Geschichte und Kultur der Maghreb-Region sowie der islamischen Welt. Er war Teil der intellektuellen Elite seiner Zeit und wurde für seine umfangreichen Kenntnisse in Geschichte und Recht geschätzt.

Al-Mustanṣir bi-Llah Abu Yaʿqub Yusuf (المستنصر بالله أبو يعقوب يوسف) war der dritte Sultan der Almohaden-Dynastie und regierte von 1184 bis 1199. Al-Mustanṣir setzte die Politik seines Vaters fort und festigte die Herrschaft der Almohaden über den Maghreb, das heutige Marokko und Teile Spaniens. Während seiner Herrschaft war das Reich stabil und weitgehend vereint.

 

Der spezielle Treueeid wurde am Donnerstag abgelegt, und am Freitag leisteten die Ältesten der Almohaden und die Verwandten ihren Eid. Am Samstag wurde die Allgemeinheit zugelassen. Ich war an jenem Tag anwesend, als Abu Abd Allah ibn Ayyasch, der Schreiber, vor den Menschen stand und sagte: „Ihr leistet dem Befehlshaber der Gläubigen, dem Sohn der Befehlshaber der Gläubigen, einen Eid, so wie die Gefährten des Gesandten Gottes (möge Gott ihn segnen und ihm Frieden schenken) ihren Eid gegenüber dem Gesandten Gottes leisteten: auf Gehorsam in Freud und Leid, in Wohlstand und Not, auf Loyalität zu ihm und seiner Führung sowie zur Allgemeinheit der Muslime. Dies sind seine Pflichten euch gegenüber: Er darf eure Truppen nicht hindern, eure allgemeinen Interessen nicht vernachlässigen, eure Abgaben zügig leisten und sich nicht von euch abschotten. Möge Gott euch helfen, euren Eid zu erfüllen, und möge Er ihm helfen, die Verantwortung zu tragen, die ihm übertragen wurde.‘“

Diese Worte wiederholte er vor jeder Gruppe, bis der Eid vollständig geleistet war.

Der Treueeid in der alawitischen Dynastie

Mit dem Aufstieg der Alawiten zur Herrschaft in Marokko erhielt der Treueeid (Baiʿa) einen zentralen Stellenwert innerhalb der Staatsordnung. Besonders betont wurde dabei die schriftliche Fixierung des Treueeids, da er als Symbol für die politische Organisation und die Autorität des Staates angesehen wurde. Der Baiʿa diente gewissermaßen als Verfassung zur Gründung oder Stärkung der Staatsmacht, wenn man diese Annahme zulässt.

Allerdings sind schriftliche Texte der Treueeide aus historischen Quellen nur spärlich überliefert, insbesondere aus der Zeit vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dennoch deutet dies nicht auf deren völlige Abwesenheit hin. So berichtet etwa al-Aknassus in seinem Werk al-Ǧaiš al-Armaram über die Baiʿa von Sultan Mulay Ismaʿil: „Der Treueeid wurde ihm geleistet, und die bedeutendsten Persönlichkeiten Marokkos waren anwesend. Die Zustimmung wurde von den maßgeblichen Gelehrten und Adeligen erteilt, wie dem Scheich Abū Muḥammad Abd al-Qadir al-Fasi und dem Scheich Abu Ali al-Yussi.

Das Werk "al-Ǧaiš al-Armaram" (الجيش المرمرم) ist ein historisches und literarisches Werk, das sich mit militärischen Strukturen und Strategien in der islamischen Welt beschäftigt. Es wird oft mit den Themen der islamischen Kriegsführung, Organisation von Armeen und den administrativen Aspekten von Militärmächten in Verbindung gebracht. Es legt Wert auf Disziplin, Ausrüstung und die Bedeutung von Führung und Planung in militärischen Kontexten.

Mulay Ismaʿil ibn Sharif (1634–1727) war einer der bedeutendsten Sultane der marokkanischen Alawiten-Dynastie und regierte von 1672 bis 1727. Er wird oft als einer der einflussreichsten Herrscher in der Geschichte Marokkos angesehen und ist bekannt für seine langen und stabilen Herrschaftsjahre, die Reformen im Staat und seine militärischen Erfolge. Mulay Ismaʿil konsolidierte die Macht der Alawiten-Dynastie, indem er regionale Stammesführer unterwarf und die Kontrolle des Sultans über das gesamte Reich sicherstellte. Dies erreichte er durch eine Kombination aus militärischer Stärke und diplomatischer Geschicklichkeit. Mulay Ismaʿil machte die Stadt Meknès zur Hauptstadt Marokkos und ließ dort monumentale Bauwerke errichten, darunter massive Mauern, Paläste und die berühmte Stadtbefestigung. Wegen seiner architektonischen Ambitionen wird er oft mit dem französischen König Ludwig XIV. verglichen.

Scheich Abū Muḥammad Abd al-Qadir al-Fasi (1599–1680) war ein bedeutender islamischer Gelehrter, Mystiker und Reformator aus Marokko. Er gehörte der Shadhiliyya-Sufi-Tradition an und spielte eine zentrale Rolle in der religiösen und intellektuellen Entwicklung des Maghreb im 17. Jahrhundert. Abd al-Qadir al-Fasi stammte aus der Stadt Fès, einem wichtigen Zentrum der islamischen Wissenschaften. Er war ein Vertreter des gemäßigten Sufismus, der sowohl spirituelle als auch praktische Aspekte des Glaubens betonte. Seine Lehren zielten darauf ab, die moralischen Werte in der Gesellschaft zu stärken und die islamische Praxis zu vertiefen.

Scheich Abu Ali al-Yussi (1631–1691) war ein bekannter islamischer Gelehrter, Schriftsteller und Mystiker aus Marokko. Er gilt als einer der herausragendsten Intellektuellen der Alawiten-Zeit und war für seine kritischen Ansichten und seine Vermittlung zwischen Herrschern und Untertanen bekannt. Er war bekannt für seine Beherrschung von Fiqh, Hadith und arabischer Rhetorik. Al-Yussi war nicht nur ein religiöser Führer, sondern auch ein sozialer Kritiker. Er setzte sich für Gerechtigkeit ein und trat für die Rechte der einfachen Bevölkerung ein, oft in Opposition zu den politischen Autoritäten. Al-Yussi verfasste zahlreiche Werke in den Bereichen Recht, Theologie und Mystik. Sein bekanntestes Werk, „al-Miʿyar al-Muʿrib“, behandelt wichtige Fragen des islamischen Rechts und der Gesellschaft.

 

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Besonderheiten der verschiedenen Treueeide

Jeder Treueeid hatte seine spezifischen Merkmale, je nach Person des Herrschers, der Zeit, in der er geleistet wurde, und den gesellschaftlichen Gruppen, die an ihm beteiligt waren. Besonders der Eid der Einwohner von Fès, der damaligen wissenschaftlichen und politischen Hauptstadt Marokkos, hatte im Vergleich zu anderen Regionen eine herausragende Bedeutung. Dies lag an der Rolle von Fès als Sitz der Regierung und Zentrum der Gelehrten, die maßgeblich die Gruppen der Treueleistenden stellten.

Die Texte der Treueeide weisen durchweg auf die religiösen und rechtlichen Grundlagen der Baiʿa hin, wie sich aus der Analyse eines beliebigen Beispiels erkennen lässt.

Die Rolle der Gelehrten und der rechtlichen Prinzipien der Baiʿa

Al-Aknassus beschreibt zu Beginn seines Werkes al-Ǧaiš al-Armaram die rechtlichen Ursprünge der Baiʿa, einschließlich der Bedingungen, die die Gelehrten erfüllen mussten. Er erklärt, dass das Imamat eine allgemeine Führung in weltlichen und religiösen Angelegenheiten darstellt, die die Nachfolge des Propheten übernimmt. Die Baiʿa, durch die die Autorität eines Imams oder Sultans legitimiert wird, stellt dabei den Vertrag dar, der dem Herrscher die Befugnis zur Ausübung der Macht über die gesamte Gemeinschaft gewährt. Dies schließt die Ernennung von Gouverneuren, Richtern und anderen Amtsträgern ein.

Al-Aknassus schreibt: „Die Baiʿa ist das Ergebnis der Wahl durch die Gelehrten und maßgeblichen Persönlichkeiten (ahl al-ḥall wa-al-ʿaqd):

Die Autoritäten des Entscheidens und Beratschlagens). Sie sind verantwortlich für die Ernennung des Imams, und die gesamte Bevölkerung ist verpflichtet, ihm zu gehorchen. Niemand darf sagen: ‚Ich habe ihm keinen Treueeid geleistet‘ oder ‚Ich war nicht bei seiner Baiʿa anwesend.‘ Was zählt, ist die Zustimmung der ahl al-ḥall wa-al-ʿaqd, selbst wenn diese auf eine einzelne Person beschränkt sein sollte.“ Er erläutert zudem ausführlich die Bedingungen, die die Gelehrten und Entscheidungsträger erfüllen müssen.

Der schriftliche Treueeid in der alawitischen Ära hinsichtlich Form und Inhalt

Die Untersuchung der Form und des Inhalts der Treueeide im 19. Jahrhundert gibt uns zumindest einen teilweisen Einblick in die Bedeutung dieses Dokuments im Zusammenhang mit der politischen Autorität und der Wahl des Herrschers.

A - In Bezug auf die Form:

Es fällt auf, dass die Treueeide unterschiedliche Formen annehmen. Es gibt die langen Treueeide, die am Ende mit den Unterschriften der Schwörenden versehen sind, und diese sind oft in den großen Städten (Hauptstädte) wie Fès, Marrakesch und Rabat zu finden. Sie sind kunstvoll formuliert, was an das erinnert, was al-Qalqaschandi in Bezug auf die Aspekte anführt, die bei der Abfassung eines Treueeides berücksichtigt werden müssen.

Es gibt auch kürzere Treueeide, die für kleinere Städte und bestimmte Stämme abgefasst wurden, jedoch stets den Rahmen der längeren Eide beibehalten. Dann gibt es auch Treueeide, in denen nur Listen der Schwörenden und ihre Unterschriften vermerkt sind. Daher stellt der lange Treueeid das allgemeine Modell dar, das möglicherweise einen ähnlichen Inhalt vermittelt, der wie folgt zusammengefasst werden kann:

B - In Bezug auf den Inhalt:

  1. In der Einleitung: Es wird die religiöse und rechtliche Grundlage des Treueeides betont, die sich auf den Koran, die Hadithe und die Verbindung zu den Eiden der vier rechtgeleiteten Kalifen sowie dem Eid von al-Riḍwān stützt.

    Der Eid von al-Riḍwān (arabisch: بيعة الرضوان, Bayʿat al-Riḍwān) ist ein bedeutendes Ereignis in der islamischen Geschichte, das sich im Jahr 628 n. Chr. während der Zeit des Propheten Muhammad ereignete. Der Name „al-Riḍwān“ bedeutet „die Zufriedenheit“. Angesichts der angespannten Lage und der Berichte, dass der Gesandte des Propheten, Uthman ibn Affan, möglicherweise von den Mekkanern getötet worden war, sammelte der Prophet Muhammad seine Anhänger unter einem Baum und nahm von ihnen einen Treueid. Sie schworen, den Propheten bis zum Tod zu verteidigen und standhaft zu bleiben. Der Eid fand nahe der Oase Hudaybiyya außerhalb von Mekka statt.



  2. Die Bedeutung des Amtes des Imams (Sultans): Es wird die Vorstellung hervorgehoben, dass dieses Amt eine göttliche Gabe für denjenigen ist, der dafür ausgewählt wird.
  3. Die Bedeutung der alawitischen Abstammung des Sultans: Der Sultan wird als besonders aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Linie hervorgehoben und mit Stolz versehen.
  4. Der Anlass des Eides: Häufig wird der Anlass des Treueeides durch den Tod des vorherigen Sultans oder anderer Umstände angegeben, wobei auf den verstorbenen Sultan in Form von Gebeten und Anerkennung seiner Verdienste hingewiesen wird.
  5. Der Konsens der Schwörenden: Die allgemeine Zustimmung der Schwörenden zum neuen Sultan wird betont.
  6. Die Gruppen, die den Eid leisten: Diese beinhalten in der Regel:
    • Gelehrte
    • Mitglieder der Ehrengeschlechter (Scharif)
    • Wohlhabende und allgemeine Bevölkerung
    • Adel und Militär.

Im Inhalt finden sich jedoch auch Besonderheiten von einem Eid zum anderen. Zum Beispiel:

  • Es werden bestimmte Gruppen erwähnt, die speziell für bestimmte Grenzregionen zuständig sind, wie etwa die ṭabǧīya in Rabat.
  • Die Besonderheit bestimmter Eide und ihrer Wichtigkeit, wie der Eid von Fès, wie bereits zuvor erwähnt.
  • Der Eid von Sijilmāsa, der die Unterschriften der Prinzen und der Adelsfamilie enthält, was den Konsens der königlichen Familie zur Bestätigung des Eides des neuen Sultans unterstreicht.

 

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Umstände der Treueeid-Feier im 19. Jahrhundert:

Eine hilfreiche Bemerkung des Professors al-Tawfiq lautet: „Der Tod eines Sultans kann als Symbol für das Auflösen des Treueeides verstanden werden, der theoretisch auf den Schultern der Untertanen lastet.“ Dies ist von Bedeutung, da viele der Aufstände der Stämme unmittelbar nach dem Tod des Sultans ausbrachen. Der Eid für einen neuen Sultan wird daher oft als Wiederherstellung der Ordnung angesehen. Es ist ein Versuch, die Untertanen zu einer erneuten Treue zu verpflichten, wobei der neue Sultan sehr darauf bedacht ist, Eide aus allen Regionen zu sammeln.

Alle Hindernisse müssen überwunden werden. Das Fehlen eines Vormunds oder Thronfolgers erfordert die Versammlung der ahl al-ḥall wa-al-ʿaqd, um einen neuen Sultan zu wählen. Die Vielzahl der Anwärter verlangt nach einer Einigung auf eine einzelne Person, um diese in die Lage zu versetzen, ihre Konkurrenten zu überwinden, falls diese öffentlich auf ihre Ansprüche hinweisen.

In diesem Kontext kommt der Bedeutung der Eide von den Adelsfamilien und von Fès besondere Aufmerksamkeit zu, da Fès als Zentrum der Gelehrten gilt und die Eide der Militärführer eine entscheidende Bedeutung haben, um dem Sultan eine militärische Basis zu verschaffen.

Königliche Baiʿa

Es ist ebenfalls wichtig, auf die verschiedenen Versionen des Treueeides hinzuweisen. Aus der Korrespondenz einiger Gelehrte von Marokko lässt sich ableiten, dass die Gelehrten der Ansicht sind, dass der Abfall des Sultans zulässig ist, wenn dieser das islamische Land vernachlässigt, da dies zu einer Rückkehr zu dem führt, was er im Treueeid gegenüber dem Volk versprochen hatte. Daher sehen wir, dass die Gelehrten, als sie den Entzug des Eides von Sultan Mulay Abd al-Aziz und den Eid für Sultan Mulay Abd al-Hafid erklärten, in den Bedingungen des neuen Eides die Verpflichtung des Sultans zur Verteidigung des Landes gegenüber ausländischen Eingriffen betonten - etwas, das der abgesetzte Sultan nicht erfüllen konnte.

Sultan Mulay Abd al-Aziz (1878–1943) regierte Marokko von 1894 bis 1908 als Mitglied der Alawiten-Dynastie. Er war  bemüht, Marokko zu modernisieren, indem er europäische Technologien und Institutionen einführte. Dies stieß jedoch auf den Widerstand der traditionellen Eliten, die diese Reformen als Bedrohung sahen. Während seiner Herrschaft nahm der europäische Einfluss auf Marokko stark zu. Frankreich, Spanien und Deutschland rivalisierten um Kontrolle, was zu politischen Spannungen führte, darunter die erste Marokkokrise (1905–1906). Seine als schwach wahrgenommene Herrschaft und die wachsende Unzufriedenheit führten 1908 zu seiner Entmachtung. Er wurde von seinem älteren Bruder Mulay Abd al-Hafid abgelöst. Nach seiner Abdankung lebte er im Exil und starb 1943 in Tanger. Seine Regierungszeit markierte den Beginn der schwindenden Souveränität Marokkos gegenüber den Kolonialmächten.

 

Dieser Eid stellt grundsätzlich eine bedeutende Wendung im System der Treueeide im Allgemeinen dar, im Vergleich zu den vorherigen Eiden. Während er gleichzeitig die gleichen rechtlichen Bedingungen des Treueeides und die Notwendigkeit, diese zu respektieren, bekräftigt, fügt er neue Bedingungen hinzu, die als Reformprojekt für die damalige Situation des Landes verstanden werden können. Infolgedessen verdeutlicht der Eid die politische Vision der Gelehrten angesichts der wachsenden Probleme im Land. Die Schwerpunkte dieses Reformprojekts lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Aufhebung des Vertrags von Algeciras.
  • Wiedererlangung der besetzten Gebiete.
  • Beendigung des Protektoratsstatus.
  • Abschaffung der Steuern und Zölle.
  • Stärkung der islamischen Prinzipien.
  • Aufhebung ausländischer Privilegien.
  • Reform des Bildungssystems.
  • Aufruf zur Konsultation der Bevölkerung in allen Angelegenheiten, die die Beziehungen zu Ausländern betreffen.

Trotz der Bedeutung dieses Treueeides stellt er nur eine teilweise Übereinstimmung unter den Gelehrten dar, da einige weiterhin ihre Loyalität gegenüber Sultan Mulay Abd al-Aziz bewahrten. Dies wurde später durch die Entwicklungen der Ereignisse geklärt, die mit der Rolle der Ausländer im politischen Geschehen und den daraus resultierenden Spaltungen zusammenhingen. Schließlich ging die Macht endgültig an Sultan Mulay Hafid über, der versuchte, die Bedingungen des Eides zu respektieren, bis die Ereignisse ihn überholten. Er sah sich gezwungen, nach der Unterzeichnung des Protektoratsvertrages im Jahr 1912 vom Thron zurückzutreten, als er sich in einer Position außerhalb der Bedingungen des vorher erwähnten Eides wiederfand.

 

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Moderne Theorien

Angesichts der Unklarheit dieses Themas im marokkanischen Kontext, insbesondere im 19. Jahrhundert, hat sich niemand unter den Zeitgenossen intensiv mit diesem Thema befasst oder eine endgültige Meinung dazu formuliert. Jedoch können die wichtigsten modernen Theorien bei drei Fachleuten gefunden werden, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben.

Theorie von Allal al-Fassi:

Allal al-Fassi (1910–1974) war ein marokkanischer Politiker, Schriftsteller, Theologe und einer der führenden Köpfe der Unabhängigkeitsbewegung gegen die französische und spanische Kolonialherrschaft in Marokko. Er gilt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des modernen Marokkos und als Ideengeber der nationalistischen Bewegung. Al-Fassi war Mitbegründer der Parti de l'Istiqlal (Unabhängigkeitspartei) im Jahr 1944, die eine zentrale Rolle im Kampf gegen die Kolonialherrschaft spielte. Nach der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956 spielte er eine wichtige Rolle in der politischen Landschaft des Landes. Er trat für demokratische Reformen und die nationale Einheit ein und war bis zu seinem Tod 1974 ein aktiver Intellektueller und Politiker. Allal al-Fassi verfasste zahlreiche Bücher und Artikel über Politik, Gesellschaft und islamische Reformen. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Die Verteidigung der Scharia“ und „Selbstkritik“, in denen er seine Vision eines modernen und unabhängigen Marokkos darlegte.

 

Allal al-Fassi erklärt in seinem Buch „Die Unabhängigkeitsbewegungen“ über den Treueeid von Abd al-Hafid: „So wird der Treueeid als ein Vertrag zwischen dem König und dem Volk verstanden, der das Regierungssystem von der absoluten Monarchie hin zu einer konstitutionellen Monarchie verändert. Es ist dem Sultan nun nicht mehr gestattet, irgendwelche Handels- oder Friedensverträge zu schließen, ohne Rücksprache und Bestätigung des Volkes. Die Verträge, die er abschließen darf, sind nun auf die Konsultation beschränkt. […] Wir sehen in diesen alten Formulierungen eine Bedeutung, die im Einklang mit dem Geist der französischen Erklärung der Menschenrechte steht, die besagt, dass die Souveränität im Volk liegt und nicht übertragen werden kann.“

Die gleichen Gedanken wiederholt Allal al-Fassi in seiner Einleitung zu einem Memorandum, das von einem unbekannten Autor an Sultan Abd al-Aziz gerichtet wurde, und die er als einen der ersten Versuche der verfassungsmäßigen Bewegung in Marokko betrachtet. Hier erkennen wir, dass Allal al-Fassi ebenfalls von dem herausragenden Treueeid, dem von Sultan Mulay Abd al-Hafid, ausgeht, um den Treueeid als Vertrag zwischen dem König und dem Volk zu erklären, der das Regierungssystem von der absoluten Monarchie in eine konstitutionelle Monarchie überführt.

Theorie von Professor Abdullah al-Arwi:

Abdullah al-Arwi (عبد الله العروي), geb. 1933, ist ein prominenter marokkanischer Intellektueller, Historiker, Philosoph und Schriftsteller. Er gilt als einer der bedeutendsten modernen Denker in der arabischen Welt und ist bekannt für seine kritischen Analysen von Tradition, Modernität und der Rolle der Ideologie in der arabischen Gesellschaft.

Al-Arwi ist ein Vertreter des arabischen Historismus, einer Denkrichtung, die betont, dass arabische Gesellschaften die europäische Moderne nur durch kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte und Ideologie erreichen können. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören: „Al-Tarikh wa-l-Ideologia“ (Geschichte und Ideologie): Eine kritische Untersuchung, wie Ideologie die Geschichtsschreibung in der arabischen Welt beeinflusst. Professor Abdullah al-Arwi wird als Pionier moderner arabischer Geisteswissenschaften geschätzt. Seine Werke dienen als Grundlage für viele Diskussionen über die Zukunft der arabischen Welt in Bezug auf Kultur, Politik und Gesellschaft.

 

Nach der Untersuchung der Umstände der Thronbesteigung von vier Sultanen der alawitischen Dynastie im 19. Jahrhundert erläutert Professor al-Arwi den Charakter des Treueeides als einen Vertrag zwischen dem Sultan und der Bevölkerung. Er weist auf die zahlreichen Schwierigkeiten hin, die mit der Abgabe des Treueeides in den von ihm behandelten Fällen verbunden sind, wobei er insbesondere den Treueeid von Sultan Abd al-Aziz hervorhebt. Aus diesen Beispielen schlussfolgert er, dass der Sultan von einer speziellen Gruppe ausgewählt wird, die das königliche Haus im erweiterten Sinne repräsentiert, einschließlich der königlichen Familie und ihrer Diener, Offiziere und anderer, die die eigentlichen Machtstrukturen verkörpern. Der allgemeine Eindruck, den Professor al-Arwi hinterlässt, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Auswahl des Sultans erfolgt durch eine Minderheit, die den Hof und die Höflinge repräsentiert.
  • Der Hof, der Adel und ein Teil der städtischen Vertreter bilden die herrschende Minderheit.
  • Die Rolle von Geld und Macht wird betont, um die Zustimmung der Nation für den gewählten Herrscher zu sichern.

Trotz all dieser Theorien bleibt die allgemeine Frage nach dem Konzept des Treueeides weiterhin dringend und ungelöst. Jede Interpretation der marokkanischen Geschichte ist mit der Notwendigkeit verbunden, den Treueeid zu erklären und seine komplexen Probleme zu verstehen, insbesondere wenn man ihn mit anderen Themen wie „dem Land des Treueeides und dem Land des Makhzen als koloniale Erklärung für die Stabilität in Marokko“ oder der Frage der Aufhebung des Treueeides, wie im Fall von Sultan Abd al-Aziz, verknüpft.

 

Der Begriff Makhzen (arabisch: المخزن) bezeichnet eine traditionelle und historische Institution in Marokko, die mit der monarchischen Herrschaft und Verwaltung des Landes verbunden ist. Ursprünglich bedeutet „Makhzen“ wörtlich „Lagerhaus“ oder „Depot“, hat sich jedoch im politischen und gesellschaftlichen Kontext zu einem Symbol für die staatliche Macht und Autorität entwickelt. In der heutigen Zeit wird „Makhzen“ als Synonym für die zentrale staatliche Machtstruktur in Marokko verwendet. Dazu gehören: Die Monarchie und ihre engen Berater, Sicherheits- und Geheimdienste, hochrangige Beamte und einflussreiche Wirtschaftskreise. Der „Makhzen“ steht sinnbildlich für die Kontinuität der monarchischen Herrschaft in Marokko und die Verbindung zwischen dem Königshaus und den traditionellen sowie modernen Machtzentren.

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Beitrag, Seite 1 * Ursprünge der Baiʿa * Das Regierungssystem Marokkos * Besonderheiten der verschiedenen Treueeide * Umstände der Treueeid-Feier im 19. Jahrhundert * Moderne Theorien

 

Mohammed Fallah al-Alaoui
Übersetzung aus dem Arabischen und Ergänzung um Fußnoten