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Flucht ohne Wiederkehr: Zwischen Angst und Freiheit - Verlorene Seelen im Zwielicht

Seite 5 von 7: Verlorene Seelen im Zwielicht

Beitragsanfang

Mitten im Gedränge, in dem sich Leiber eng aneinanderdrängten, trotz des farbigen Rauchnebels, trotz des dumpfen Lichtscheins, fiel ihr Blick auf eine Gestalt am rechten Rand des Saals - fernab vom Lärm, isoliert. Ein Mann, in seinen späten Fünfzigern, saß dort allein, rauchte eine Zigarette, nippte an einem Glas, eine kleine Reisetasche neben sich. Souad trat langsam näher, während sie immer wieder jene Zeile wiederholte: „Du hast meine Treue verkauft, meine Liebe, mein Herz.“

Souad blieb stehen. Der Mann war Suleiman al-Ahmadi (aus dem Roman „Schleier des Vergessens“. Er war erst heute Abend aus Rabat zurückgekehrt - gebrochen, ausgelaugt, die Niederlage schwer auf seinen Schultern. In Hassans Viertel hatte er Salma in ihrem Haus aufgesucht, doch statt Antworten hatte er nur Enttäuschung gefunden. Noch am selben Abend war er nach Meknès geflüchtet, ohne Ziel, ohne Hoffnung, nur mit dem drängenden Verlangen, sich in Lärm und Dunkelheit aufzulösen. Er suchte einen Ort, an dem Stimmen, Musik und bedeutungslose Berührungen ihn vergessen ließen.

Er bestellte eine Flasche Jack Daniel’s, umarmte den Rausch und trank, als wolle er die Welt auslöschen. Glas um Glas, ohne Eis, ohne eine Spur von Zurückhaltung. Sein einziger Plan für diese Nacht war es, zu trinken, dann ein Taxi nach Diour Haddad zu nehmen, sich auf sein Bett sinken zu lassen - und nicht mehr erwachen zu wollen.

Doch dann erklang „Hubbi Eih“ (Weißt du überhaupt, was Liebe bedeutet? Welche Liebe ist es, von der du sprichst? Eine Welt, die du nie erreichen wirst, nicht einmal in deinen kühnsten Träumen…). Die Melodie drang in ihn ein wie ein Messer, riss ihn mit sich, zurück in die Erinnerung, zurück zu Salma, zurück zu der verfluchten Leinwand in seinem Atelier im Viertel Kornet (كورنيط). Tränen rannen über seine Wangen, während in ihm etwas blutete, etwas, das nicht zu heilen war. Whiskey tropfte von seinen Lippen auf sein Hemd, vermischte sich mit dem Schmerz, der ihn von innen zerriss.

„Was ist mit Ihnen, Monsieur?“ Eine Stimme, sanft und fremd. „Möchten Sie, dass ich einen Moment bei Ihnen bleibe? Vielleicht kann ich Ihrem Herzen etwas Wärme zurückgeben, Ihr Gesicht wieder zum Lächeln bringen. Vertrauen Sie mir - manchmal kann sich alles in einem einzigen Augenblick verändern. Öffnen Sie sich mir. Sagen Sie mir nur Ihren Namen.“

Er sah sie lange an, als wollte er in ihrem Gesicht eine Wahrheit finden, die er längst verloren hatte. Dann deutete er stumm auf den Stuhl neben sich. Mit einer leichten Handbewegung wies er den Kellner an, ihr ein Glas zu bringen. Dann sprach er - seine Stimme tief, rau, getränkt von Müdigkeit und Alkohol: „Du brauchst selbst jemanden, der dich aus diesem Leben herausholt… Dies ist kein Ort für dich. Geh nach Hause. Du bist noch jung - wie alt bist du? Achtzehn? Zwanzig? So etwas in der Art… Dies hier ist kein Ort für Mädchen deines Alters.“

Der Kellner brachte das Glas, füllte es mit Eiswürfeln, bevor er die dunkle Flasche hob und langsam einschenkte. Der Whiskey rann in einem schmalen, bernsteinfarbenen Strom hinab und zerschellte an den gläsernen Eiskanten. Dann griff er nach der Colaflasche, öffnete sie mit einer schnellen Bewegung. Ein leises Zischen entwich, kaum mehr als ein Hauch, wie der erste warme Wind eines Frühlingsmorgens am Meer. Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung rührte er die Mischung mit einem silbernen Löffel um. Dann schob er das Glas zu Souad und wandte sich anderen Gästen zu.

Marionetten auf der Bühne des Lebens

Souad nahm das Glas langsam auf, ließ es zwischen ihren Fingern kreisen und beobachtete die leichten Wellenbewegungen darin, in denen sich die Lichter des Cabarets spiegelten.

„Auf dein Wohl, Monsieur …“ Suleiman al-Ahmadi. Und du, wie heißt du?“ „Souad.“ „Souad …?“ „Ja, einfach nur Souad.“

Langsam hob Suleiman sein Glas, seine Augen ruhten auf ihren, als wollte er in sie eindringen, bis in jene dunklen Kammern, in denen Geheimnisse sich hinter Vorhängen aus Rauch und Schweigen verbargen. Auch Souad hob ihr Glas. Suleiman trank nicht nur seinen Whiskey, sondern auch ihren Schmerz. Er versuchte die Stille zwischen ihnen zu entziffern, das Geheimnis in ihrem Blick zu entschlüsseln. Sie aber spürte, dass es nicht die Kälte der Eiswürfel war, die ihre Finger erzittern ließ, sondern etwas Tieferes, Undefinierbares - etwas, das sich nicht mit einem einzigen Glas betäuben ließ.

„Auf dein Wohl“, murmelte er schließlich, kaum hörbar in der Dunkelheit des Raumes. Er trank langsam, schmeckte die brennende Wärme, die sich in ihm ausbreitete, während sich die Bitterkeit vergangener Jahre in seinem Mund auflöste. Jahre, die in jeder Faser seines Körpers nachwirkten, die ihn zu dem gemacht hatten, was er nun war: ein Mann von fünfzig, dessen Alter nicht nur eine Zahl war, sondern das Gewicht zahlloser Erfahrungen, die sich auf seiner Brust gestaut, sein Herz zerbrochen und sich in Schichten von Enttäuschung, Reue und Illusionen abgelagert hatten.

Jetzt versuchte er, sein vergangenes Leben in einer neuen Form zu zeichnen. Er war Jetzt in einem Raum, in dem das Alter keine Rolle spielte. Unaufhaltsam zog ihn die Erinnerung zurück. Bilder aus seiner Vergangenheit verfolgten ihn, umkreisten ihn. Szenen von Salma, ihr erstes Treffen, seine Reisen in die Ferne, seine Leinwände - zahllose, kühne Werke, seine Ausstellungen, seine rauschenden Nächte. Adil, der Freund, der ihn verriet. Die verhängnisvolle Nacht seiner Rückkehr aus Paris.

Suleiman al-Ahmadi trank weiter, ein Glas nach dem anderen. Dann hob er den Blick und sah Souad an. Wiederholte sich die Geschichte? Dasselbe Spiel, derselbe leise Sog, dieselbe unsichtbare Falle. Derselbe Abgrund, der ihn verschlingen würde, sollte er den Schritt wagen.

Dann stellte er ihr die Frage, die ihm auf der Seele brannte, seine Stimme rau, erstickt von einem Kloß im Hals: „Warum bist du hier?“ Souad schwieg. Ihre Augen funkelten - nicht vor Freude, sondern vor Zorn. Zorn und Tränen, die nicht mehr zurückzuhalten waren. Sie, das entwurzelte Mädchen, geflohen aus dem Haus ihres Vaters, verstoßen aus der Wohnung ihrer Tante, gedemütigt und unterworfen von Fahd, dem Mann, der über ihren Körper gebot. Sie hielt ihr Glas fest, als hielte sie ihr eigenes, zerbrechliches Schicksal in Händen, trank von ihrem Whiskey-Cola-Gemisch, als könnte sie die Bitterkeit der Realität mit der künstlichen Süße übertönen.

In diesem zeitlosen Augenblick hingen ihre Schicksale an demselben dünnen Faden. Zwei Marionetten auf der Bühne des Lebens, zwei verlorene Seelen - jede in ihrer eigenen Hölle. Jede auf dem Weg in ihr eigenes Ende.

Souad nahm einen tiefen Schluck, spürte, wie sich ihre Tränen mit dem Whiskey vermischten. Dann riss sie sich aus der Starre, griff entschlossen nach dem Mikrofon und vertrieb den volkstümlichen Sänger von der Bühne. Mit einer einzigen Geste forderte sie die Musiker auf, ihr zu folgen - ein Lied sollte entstehen, aus ihr heraus, aus ihrer Geschichte, aus all dem, was unausgesprochen geblieben war.

Zögernd, fast schüchtern, zupften die Finger des Gitarristen die ersten Saiten. Leise, unregelmäßige Tropfen, wie Regen, der auf eine verschlossene Fensterscheibe prasselte… Und dann kam ihre Stimme - schwebend, haltlos, als hätte die Zeit aufgehört zu existieren. Ein Klang, der nicht einfach nur erklang, sondern im Raum zerging, sich in die Seelen brannte, nicht verhallte, sondern im Innersten weiterlebte.

Ihre Stimme schnitt wie ein Dolch durch die lärmende Atmosphäre des Cabarets. Die Lichter wurden schwächer, das Lachen versiegte, das Gewirr der Gespräche verstummte. Ein ungreifbares Zittern breitete sich im Raum aus, als hätte sie etwas Unsichtbares berührt, das tief in den Zuhörern schlummerte.

 

Zwischen Licht und Schatten
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