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Flucht ohne Wiederkehr: Zwischen Angst und Freiheit - Im Schatten der Nacht

Seite 2 von 4: Im Schatten der Nacht

Beitragsanfang

Die Straße lag kalt und weit vor ihr, gesäumt von den Schatten der Nachtgestalten. Vor dem geschlossenen Restaurant „Al Asfour“, bekannt für seine knusprigen Ma’qoudas(*), lehnten Gestalten an den Mauern, während andere ziellos durch die Straßen taumelten, lachend, tanzend. Manche sprangen wie Affen auf die Fahrbahn, hielten Taxis an, irrten durch die Nacht, gestrandet zwischen Trunkenheit und Verlorenheit.

Souad blieb stehen. Ihr Blick haftete auf der dunklen Straßenseite, dort, wo das Stadtviertel Riad begann. Sie wagte nicht, weiterzugehen, aus Angst, dass jemand sie ansprechen könnte. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein kleines Taxi, das einige Meter entfernt anhielt. Es war nur einen Moment stehen geblieben, gerade lang genug, dass eine Frau um die vierzig mit zwei Kindern ausstieg, dann wendete der Wagen - und fuhr direkt auf sie zu.

Das Taxi näherte sich ihrem Aufenthaltsort und verringerte sein Tempo, als es auf das Restaurant „al-Asfour“ zusteuerte. Doch bevor es sein Ziel erreichte, traten zwei junge Männer auf die Fahrbahn und versperrten ihm den Weg. Mit einer Leidenschaft, die sich jeder Vernunft entzogen hatte, zwangen sie den Fahrer abrupt zum Anhalten.

Der Mann am Steuer war in den Fünfzigern, sein Gesicht von scharf geschnittenen Zügen und einer kantigen Mimik geprägt. Doch anstatt sich von der aufbrausenden Energie der beiden Burschen aus der Fassung bringen zu lassen, blieb er ruhig. Beinahe teilnahmslos saß er hinter dem Lenkrad, als wäre die Szene, die sich vor ihm entfaltete, nicht mehr als ein belangloser Moment in der unaufhörlichen Abfolge der Nacht.

Die beiden jungen Männer, getrieben von einem unbändigen inneren Drang, schrien und tobten. Sie traten mit wilder Entschlossenheit gegen die Front des Wagens, ihre Gesten schienen ein rohes Bedürfnis nach Dominanz und Kontrolle auszudrücken. Ihre Bewegungen zerrissen die Stille der Dunkelheit, ihr Lärm hallte wie ein trotziges Aufbäumen gegen die Ruhe der Nacht - ein Echo ihrer eigenen ruhelosen Seelen.

Souad fürchtete, dass, sollte einer von ihnen sie erblicken, ihre Zornesröte und Reizbarkeit sich in gewaltsamen Übergriff umwandeln könnten - mitten auf der „Sbata“-Straße... Eine Rückkehr zum Haus ihres Vaters war für sie keine Option mehr, und auch die Flucht in den Stadtteil Riad schien ihr undurchführbar. Sie zitterte vor Angst, obwohl sie das Leben der Nacht bestens kannte. Sie hatte viele Male den schleichenden Schatten dieser Stadt erlebt und war in die Gesellschaft von Menschen geraten, die in ihrer Hinterhältigkeit weit gefährlicher waren als die beiden, die ihr gerade gegenüberstanden.

Die Nacht - ein verrücktes Reich aus Körpern, die sich in jenen Bereichen aufhalten, die das Licht nie erreichen. Dort, im Dunkel, versteckt hinter den unsichtbaren Fäden des Nichts, verbringen die Wesen ihre Zeit, fern von den Blicken jener, die sich in der Sonne sonnen... Souad war wie diese Wesen: Sie flüchtete vor der Sonne, verabscheute die Helligkeit des Tages, mied das grelle Licht, das die Leere schonungslos entblößte. Sie war es gewohnt, die Straßen und Plätze der Stadt in der Dämmerung zu durchstreifen, ihren Körper in den Schatten des Nachtlebens zu tauchen, als wäre sie eine flüchtige Erinnerung im Raum. Die Nacht hatte für sie weder Anfang noch Ende. Sie war ein Teil dieses Strudels aus Vergessen, aus Körpern, die nach der schillernden Verführung des Andersartigen suchten, die sich im Rausch der Dunkelheit verloren.

Souad kannte die Abgründe dieser Nächte nur zu gut. Sie wusste, dass in dieser endlosen Dunkelheit die Welt zur Wildnis wurde, in der Menschen ihre tierische Natur auslebten. Sie wusste, dass sie, sobald die Dunkelheit sie umschloss, von Wölfen und Hunden, von Schweinen und Hyänen umgeben war - Kreaturen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, ihre dünne Haut mit Zähnen und Krallen zu zerreißen, ihr den letzten Funken von Unschuld zu entreißen, den sie ohnehin schon vor langer Zeit verloren hatte, als die Nacht ihr Schicksal besiegelte.

Nächte ohne Morgen

Aus ihrem Versteck heraus beobachtete Souad das Geschehen. Sie sah, wie zwei heruntergekommene Gestalten sich vor dem Taxi aufführten wie aufgeregte Affen, während der Fahrer sich am Lenkrad festklammerte, während in ihm der Mut heranwuchs. Dann, plötzlich, riss er die Tür auf und stieg aus - ein Riese, der aus seinem Käfig brach. Mit eisernem Griff packte er einen der beiden an der Schulter und schleuderte ihn auf die Motorhaube, brüllte ihn an, doch ohne Gewalt. Den anderen hielt er mit ausgestrecktem Arm auf Abstand, während dieser drohend eine Flasche schwenkte.

Souad wandte den Blick ab, suchte mit fahrigem Blick die Umgebung ab. Irgendwo zwischen den überquellenden Müllcontainern musste sich etwas Brauchbares finden lassen... Sie fand eine leere Bierflasche. Sie nahm sie eilig auf, trat mit entschlossenen Schritten auf den jungen Mann zu, der den Fahrer bedrohte. Mit einem schnellen Schlag traf sie ihn unvorbereitet am Kopf. Er stürzte zu Boden und krümmte sich vor Schmerz, während sie in das Taxi stieg, die Tür zuschlug und mit lautem Schrei befahl: „Fahr los, schnell, bitte!“ „Was hast du getan, meine Tochter?“, fragte der Fahrer, nachdem er den ersten jungen Mann beiseite geschubst und sich hastig ins Fahrzeug gesetzt hatte. Die Tür schloss sich, und er fuhr in Richtung des Stadtteils Riad.

„Ich wollte dir helfen“, antwortete sie.

„Ich bin es gewöhnt, mit diesen heruntergekommenen Gestalten unserer Gesellschaft zu leben“, sagte der Fahrer mit einem bitteren Lächeln. Ich bin der, der die Nacht als Lebensunterhalt gewählt hat, für mich und meine Kinder. Seit fünfundzwanzig Jahren fahre ich Taxi, und jedes Mal finde ich mich gezwungen, weiterzumachen, weil ich nichts anderes habe, womit ich mein tägliches Brot verdienen könnte.“

Er schwieg einen Moment, ließ seinen Blick durch den Rückspiegel gleiten. Dort saß Souad, versunken in ihren eigenen Gedanken, die Stirn in Sorgenfalten gelegt, den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Sie hörte ihm nicht zu. Ihre Gedanken irrten umher, gefangen in einem Strudel aus Fragen, die auf sie niederprasselten wie feurige Kieselsteine. Fragen, die die Schatten einer Kindheit aufwirbelten, die nie eine Chance hatte, sich zu entfalten. Ein Traum, der längst begraben lag - der Traum von einem Zuhause, das ihr Halt bot, ihr den rechten Weg wies und ihr half, die Gesetze des Dschungels zu verstehen, durch den sie sich jede Nacht schlug, ohne je einen sicheren Ausgang zu finden.

Der Fahrer musterte sie lange. Er kannte diesen Blick nur zu gut. Jede Nacht fuhren sie mit ihm - Mädchen wie sie. Er brachte sie an Orte, in denen die Stadt ihre Schatten sammelte, ließ sie in dunklen Straßen aussteigen, an den Türen von Bars, Nachtclubs, zwielichtigen Etablissements, die ihre Tore weit öffneten, um sie mit offenen Armen zu empfangen. Dort warteten Männer, ausgelaugt vom Alltag, gebrochen von Ehefrauen oder Vorgesetzten, getrieben von einer Sehnsucht nach Kontrolle. Männer, die für wenige Stunden die Illusion von Macht erkaufen wollten, die sich mit einem Fingerschnippen bedienen ließen und in einem abgedunkelten Eck ihrer eigenen Belanglosigkeit entkamen.

Er bog in Richtung L'Hdim ab, fuhr entlang des "Place Zouitina", einst eine Arena des Lebens. Hier hatte es vor Jahren noch geglänzt: Berittene Schützen, die bei Festen den Himmel mit Schießpulver erzittern ließen. Männer, die sich stolz in ihre Sättel warfen, um ihre Pferde mit donnernden Hufen durch eine Staubwolke der Geschichte zu treiben. Und im Ramadan? Da wurde Fußball gespielt. Teams traten gegeneinander an, und aus der ganzen Stadt strömten Menschen herbei, um nach dem Nachmittagsgebet die besten Spieler ihrer Viertel auf dem Platz zu sehen. Die Luft vibrierte vor Aufregung, für ein paar Stunden vergaß man das lange Fasten, den heißen Tag.

Doch heute? Heute lag ein lebloser Betonklotz dort, wo einst das Leben tobte. Seelenlose Gebäude, die niemand brauchte, von Planern entworfen, denen es nicht um Orte, sondern nur um Profit ging.

Souad bemerkte nicht einmal, dass das Taxi hielt. Sie saß gefangen in ihrer Vergangenheit, so dunkel wie die Gasse, in der sie nun standen. Hoffnungslos, reglos, als wäre sie aus Stein gemeißelt.

Der Fahrer räusperte sich. Zögernd fragte er: „Geht es dir gut, mein Kind?“

Keine Antwort.

Er fragte erneut. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Nichts.

Ihr Blick blieb auf einen Punkt gerichtet, den nur sie sehen konnte.

„Was ist nur mit ihr passiert?“, murmelte er schließlich und schüttelte den Kopf.

Im Abgrund der Nacht

Leise flüsterte der Mann, nachdem er jede Hoffnung auf eine Antwort verloren hatte. Dann, mit sichtlichem Bedauern auf seinem Gesicht, fügte er hinzu: „Brauchst du Hilfe? Soll ich dich in die Notaufnahme bringen?“ Seine Stimme wurde noch sanfter, fast flehend: „Meine Tochter, bitte, sprich mit mir … Gibt es Probleme bei dir zu Hause?“ Er wartete eine Weile, doch keine Antwort kam. Nur ein paar Tränen begannen langsam über ihre Wangen zu rollen. Noch einmal fragte er sie, mit ruhigem, warmem Ton: „Wohin …?“ Noch bevor er den Satz vollenden konnte, antwortete sie - ohne ihn anzusehen: „Die Grube.“

Er blickte sie einen Moment lang an, dann wandte er den Kopf ab und ließ den Motor seines Wagens aufheulen. Zielstrebig lenkte er das Fahrzeug in Richtung Neustadt, Hamria. Auf dem Weg passierten sie den berühmten Place El Hdim, jenen einst prachtvollen Platz, der nun von den Wunden rücksichtsloser Modernisierungen gezeichnet war.

Er fuhr los, doch sein Geist verweilte bei Souad - dieses junge Mädchen, von dem er nichts wusste, außer dem, was er in jener Szene im Stadtteil Sbata beobachtet hatte. Dort, wo sie einem jungen Mann die Bierflasche entrissen und ihn zu Boden gestoßen hatte, bevor sie in sein Auto stieg und in ihre Vergangenheit floh. Eine junge Frau, am Beginn ihres Lebens, mit annehmbarer Schönheit und schmaler Gestalt…

Er bog nun in Richtung Rouamzine ein, nahe den Ruinen des einstigen Cinéma Mondial, das mittlerweile einem Geschäft für Konfektionsware gewichen war. Zur Rechten lag Cinéma Atlas, von dem nichts geblieben war als die Erinnerungen an das Drängen der Menge an seinen Türen und die Vielzahl der Händler, die einst seine Seiten säumten - aus jener Zeit, da das Kino ein Zufluchtsort für jene, die sich in den Traum einer dunklen Halle versenken wollten, in der Welten entstanden, erschaffen von jenen, die Glück schenkten - bedingungslos und frei.

Seine Stimme wurde lauter, damit sie ihn hören konnte: „Lass uns zurück fahren. Das ist das Beste. Die Grube ist ein Friedhof für junge Menschen.“

„Ich sagte doch, die Grube. Ich bezahle dich für deine Dienste,“ antwortete sie ihm entschlossen, ihre Augen scharf wie die eines Steppenfalken. Sie hob den Kopf in Richtung Horizont. Der Himmel schimmerte im trüben Licht der traurigen Straßenlaternen. Sie erinnerte sich an ihre ersten Begegnungen mit der Nacht, als sie noch auf der Mittelschule von Borj Moulay Omar war. Damals war sie fünfzehn Jahre alt, und ihre Weiblichkeit erwachte langsam, behutsam, in einem Viertel, das von Männern beherrscht wurde. Ein Viertel, in dem jedes Mädchen auf dem Weg zur Schule entweder verspottet oder umgarnt wurde - oft beides zugleich.

Es war eine verlorene Generation, Männer ohne Hoffnung, die den Ritt auf dem Ross des Lebens längst aufgegeben hatten. Sie zogen es vor, sich in den trüben Gewässern der Unwissenheit zu ertränken, sich mit billigen Drogen zu betäuben, die für ein paar lumpige Dirhams in schmutzigen Kellern gebraut wurden - in Räumen mit feuchten, zerfallenden Wänden, wo gepanschter Alkohol in alten, fleckigen Flaschen abgefüllt wurde.

Und so taumelten sie durch die Gassen, mit hohlen Blicken, eingefallenen Gesichtern und ausgebrannten Körpern. Sie sprachen, lachten lautlos über ihr eigenes Elend und wussten nicht einmal, dass sie weinten.

Für sie gab es keinen Unterschied zwischen Souad, der fünfzehnjährigen Schülerin, und einer verheirateten Frau, die auf dem Markt ein Pfund Lammfleisch und ein paar Kartoffeln kaufte, um ihrem frisch angetrauten Ehemann ein Mittagessen zuzubereiten - einem Ehemann, der sich nur auf Wunsch seiner greisen Mutter dem Joch der Ehe gebeugt hatte. Eine Mutter, die darauf bestand, dass ihr Sohn endlich ein Mann werde, so wie die anderen Männer des Viertels - jene, die im Sumpf der Ehe versanken, erdrückt von endlosen Forderungen und unerfüllbaren Erwartungen.

In Vierteln wie diesem, in den vergessenen Ecken von Meknès, erlitten Frauen tagtäglich eine kostenlose Form der Belästigung. Ob auf dem Weg zur Schule, vor den Cafés und Friseursalons oder in den verkommenen öffentlichen Gärten - oder dem, was von ihnen übriggeblieben war.

Der Duft der verbotenen Blüte

Souad war damals wie eine Blume, deren Blüte sich zaghaft entfaltete, doch noch lange nicht zur Ernte bereit war. Und doch, ob sie es wollte oder nicht - ihr Duft schwebte unaufhaltsam über die engen Straßen, die zu ihrer Tante führten. Die hungrigen Nasen der jungen Männer fingen ihn auf, geweckt von ihren ungestümen Trieben, die sich in rohen, oft obszönen entluden - mal tierisch, mal unmissverständlich lüstern.

Anfangs ekelte sie sich davor. Sie empfand Abscheu und Groll, verfluchte in Gedanken die Ahnen jener Männer, ihre Mütter und Väter gleichermaßen. Sobald sie außer Reichweite war, spuckte sie auf den staubigen Boden, als wollte sie den bitteren Geschmack dieser Demütigung aus ihrem Mund vertreiben.

Doch die Zeit hatte ihre eigene Art, Dinge zu verändern. Mit den Wochen und Monaten, nach langen Nächten des Grübelns vor dem rissigen Spiegel im weitläufigen Badezimmer ihrer Tante, begann sich etwas in ihr zu wandeln.

Ein schüchternes Lächeln umspielte ihre Lippen, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie an den Wölfen der Straße vorbeigegangen war - wie sie ihre Rufe und Pfiffe gehört hatte. Und immer öfter strich sie mit ihrer Hand über ihren eigenen Körper, spürte ihre Formen, versank in Tagträumen, die sie in andere Welten führten.

Souads-Traum von Freiheit

In ihren Träumen fand Souad Trost. Vor dem beschlagenen Spiegel im weiten Badezimmer ihrer Tante konnte sie sich vergessen, konnte die Welt und ihre drückenden Blicke hinter sich lassen. Erst das harte Pochen an der Tür - grob, ungeduldig - riss sie aus ihrer Zuflucht.

Draußen wartete er: Der Mann, den sie verabscheute. Der kahlköpfige Trinker mit den buschigen Schnurrhaaren, dem aufgedunsenen Bauch und dem groben Gesicht, das jede Härte dieser Welt in sich zu tragen schien. Doch ihre Tante liebte ihn. Blind und bedingungslos. Nicht nur, weil sie ihn seit ihrer ersten Begegnung auf einer Hochzeit in al-Khmissat in den 90er Jahren nie hatte loslassen können, nicht nur, weil er seitdem an ihrer Seite spielte - auf Trommeln, in ihrem Leben, in ihren Nächten.

Manche nannten ihn „Sivamani“, eine Anlehnung an den berühmten indischen Meister des Rhythmus, weil sein Spiel auf der darbuka die Menge in Ekstase versetzen konnte. Doch sein Talent war nicht das, was ihre Tante an ihn fesselte. Es war etwas anderes - eine primitive Kraft, eine raue Männlichkeit, von der sie glaubte, dass es sie in der heutigen Zeit kaum noch gab. Wenn sie nach einer langen Nacht des Singens, in den Kabaretts von Meknès, Fès oder Tanger, benebelt vom billigem Rotwein nach Hause kam, war er es, der sie zum Lachen brachte. Und er war es, der sie beschützte - ihr persönlicher Leibwächter, ihr Manager, ihr Mann… Souad jedoch hasste ihn.

Er war derjenige gewesen, der sich nach dem Tod ihrer Mutter ihrer angenommen hatte. Der sie in die Schule geschickt hatte. Doch irgendwann hatte sie begriffen, dass seine Blicke zu lange an ihr hafteten - dieselben Blicke, die sie von den jungen Männern im Viertel kannte. Einmal hatte er sie auf seinen Schoß gezogen, seine rauen Hände über ihren Körper wandern lassen. Ihr Körper hatte sich verkrampft, ihre Haut gebrannt unter seiner Berührung. Von diesem Tag an vermied sie ihn. War sie mit ihm allein im Haus, verriegelte sie ihre Tür. Doch sie schwieg.

Sie wusste, dass ihre Tante ihr nicht glauben würde. Vielleicht würde sie ihr sogar vorwerfen, sich Dinge einzubilden, sie ermahnen, sich anständig zu benehmen. Vielleicht würde sie sie einfach fortschicken, zurück in das Haus ihres Vaters, nach Sbata - dorthin, wo sie nie wieder hinwollte.

Mit fünfzehn träumte Souad von einer anderen Welt. Jeden Tag wuchs in ihr die Sehnsucht nach Freiheit, nach einer Zukunft, die nichts mit dieser Familie, diesem Leben zu tun hatte. Sie wollte entkommen. Wollte nicht länger das Mädchen sein, das sich im Schatten duckte, das sich den gierigen Blicken nicht entziehen konnte.

Sie sah sich selbst als Rebellin, als Kämpferin - eine marokkanische Leïla, wie in Insoumise, dem Film von Jaouad Rhalib. Eine, die sich nicht beugen ließ. Eine, die aufbegehrte, die sich wehrte gegen die Rufe der Männer auf der Straße, gegen die lodernde Gier in ihren Augen. Eine, die das Recht hatte, in die Welt hinauszutreten, ohne sich zu fürchten. Doch noch war sie gefangen.

 

Das Tor zur Verdammnis
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