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Schleier des Vergessens oder die Farben des Schmerzes

In einem vielschichtigen Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzählt der Roman die Geschichte von Verlust, Verdrängung und der Kunst als letzter Zuflucht.

Schleier des Vergessens - ein Roman von  Driss Roukhe über die Zerbrechlichkeit der Liebe und den schmerzvollen Weg der Selbstvergebung.

 

Der Verrat

Als er sein Zimmer betrat, traf ihn der schmerzliche Anblick, seine geliebte Frau Salma in den Armen seines Freundes Murad zu finden. Sie lag nackt in seinem Bett, verzweifelt versuchend, sich unter die Decke zu verbergen. Es war ein Bild, das sein Innerstes in Stücke riss - er fühlte sich in seinem eigenen Zuhause, in seinem eigenen Leben, in seinem eigenen Herzen tief getroffen. Getroffen in seinen Träumen, in seiner Liebe, in jeder Stunde, die er der Reinheit seiner Absicht und dem Versprechen gewidmet hatte, das er ihr einst gab. Ein Versprechen, das er ihr bei der Bitte um ihre Hand gemacht hatte: ihr treu zu bleiben, sie zur einzigen Frau in seinem Leben zu machen und seine Liebe zu ihr bis über den Tod hinaus zu bewahren. Ein Gelübde, das er fünf Jahre lang in seiner Ehe ehrte, glücklich und in Harmonie mit sich selbst.

   

Im Zentrum steht der gefeierte Künstler Suleiman al-Ahmadi, dessen Leben von einem tiefen Verrat erschüttert wird: Seine Frau Salma, einst der Mittelpunkt seiner Welt, hat ihn mit seinem besten Freund betrogen. Dieser Moment reißt ihn aus seiner scheinbaren Gewissheit über die Liebe und stürzt ihn in eine existentielle Krise.

Die Erzählung beginnt in der Gegenwart, doch immer wieder durchbrechen Erinnerungen den Fluss der Handlung und ziehen den Leser in jene Zeit zurück, als Suleiman noch an die Unerschütterlichkeit der Liebe glaubte. Mit meisterhaftem Wechsel zwischen Zeiten und Räumen spiegelt der Roman die fragmentierte Natur des menschlichen Gedächtnisses wider. Die Sprache ist poetisch und melancholisch, durchzogen von einer fast musikalischen Rhythmik. Innere Monologe durchdringen den Text, lassen den Protagonisten mit seinen Erinnerungen ringen, sie leugnen und ihnen schließlich doch nicht entkommen. So entfaltet sich eine Erzählung, die Gedanken, Träume und reale Begegnungen miteinander verwebt - ein faszinierendes Spiel zwischen Realität und Fiktion, das den Leser unweigerlich in seinen Bann zieht.

Suleiman verfällt nach dem Verrat in eine tiefe Depression. Seine künstlerische Kreativität scheint versiegt, sein Körper ausgemergelt. Als er schließlich zusammenbricht und ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist es, als würde er an seiner eigenen Existenz scheitern. Hier beginnt seine Reise in die Vergangenheit, eine Reise, die ihn mit alten Wunden konfrontiert und ihn zwingt, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Meknès

Suleimans Kindheit in Meknès wird in Rückblenden lebendig. Er wuchs in einer armen Familie auf, seine Mutter arbeitete hart, um ihn und seine Geschwister durchzubringen. Diese Szenen sind von einer intensiven Emotionalität geprägt und lassen den Leser die Härte und gleichzeitig die Wärme dieser Vergangenheit spüren. Seine Mutter ist eine zentrale Figur, eine Frau, die trotz aller Widrigkeiten Würde und Stärke bewahrt. Ihr Tod markiert einen Wendepunkt in seinem Leben - eine weitere offene Wunde, die nie heilt.

Erst durch das Wiedersehen mit seiner Familie in Meknès beginnt Suleiman, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. Doch die Stadt hat sich verändert: Die Straßen, die einst voller Leben waren, erscheinen ihm nun fremd, die Orte seiner Kindheit sind von Verfall gezeichnet. Es ist ein Sinnbild für den eigenen Zerfall, den Suleiman durchlebt. Doch in dieser Reise liegt auch die Möglichkeit der Heilung.

Die unvollendete Leinwand

Ein zentrales Motiv des Romans ist eine Leinwand in Suleimans Atelier, auf der eine Frau dargestellt ist, die am Meer steht, den Rücken zum Betrachter gewandt. Die Farben sind sanft, die Umrisse verschwimmen - ein Spiegelbild seiner eigenen Unfähigkeit, sich von Salma zu lösen. Dieses Bild wird zu seinem größten inneren Kampf und gleichzeitig zu seinem einzigen Werkzeug, das Erlebte zu verarbeiten. Immer wieder kehrt er zu ihm zurück, verändert Details, verwischt Linien, fügt neue Farbschichten hinzu. Es ist ein symbolisches Ringen mit der Vergangenheit, ein verzweifelter Versuch, Kontrolle über das zu erlangen, was sich seiner Beherrschung entzieht.

Am Ende sieht sich Suleiman an einem Wendepunkt. Die Reise nach Meknès hat in ihm tiefe Erschütterungen ausgelöst, aber zugleich einen Prozess des Loslassens in Gang gesetzt. Zurück in seinem Atelier, steht er vor der Leinwand und vollzieht eine letzte, entscheidende Handlung: Er hüllt das Bild in ein weißes Tuch. Der Schleier des Vergessens - ist dies ein Akt der Befreiung oder ein letzter Versuch der Verdrängung? Der Autor bleibt schweigsam und lässt es dem Leser überlassen, eine Antwort zu finden.

Die Leinwand

In der Halle fand er eine Flasche irischen Whiskeys, den er zuvor nicht angerührt hatte. Lange hatte er jeglichen Alkohol gemieden, seitdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, um ein neues Leben zu beginnen. Doch nun schüttete er die Flasche, um in der Nacht zu versinken. Die Erinnerung an das, was war, drohte ihn zu erdrücken, und so ließ er sich von der Dunkelheit umarmen, bis der Schlaf ihn ergriff und die ersten Sonnenstrahlen des Morgens die Zeit vertrieben.

Er hatte sich vom gesellschaftlichen Leben zurückgezogen, sich ferngehalten von den feiernden Massen und den lauten Festen, die er einst geliebt hatte. Das Echo dieser alten Welt war für ihn nur noch eine ferne Erinnerung. Kein Gespräch mehr, keine Begegnung, keine Feier, nur die Stille, die ihn umhüllte. Selbst seine Mutter konnte ihn nicht mehr erreichen. Sie versuchte mehrmals, ihn anzurufen, doch er nahm nicht ab.

Als Salma erfuhr, dass Suleiman dem Tod auf wundersame Weise entkommen war, versuchte sie mehrmals, ihn zu erreichen - vergeblich. Er hatte sein Telefon abgeschaltet, eine kleine Wohnung in einem einfachen Viertel gemietet und war spurlos verschwunden.

Anfangs glaubten alle, er sei nach Frankreich oder Italien geflohen, um dem zu entkommen, was zwischen ihm und seiner Frau geschehen war. Denn Salma hatte einem seiner Freunde gestanden, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte. Eine alte Begierde hatte sie eingeholt - ein Schatten aus ihrer Vergangenheit, aus einer Zeit, in der der Körper ihre Währung war und sie sich in einem Studentenviertel mit Englischstudien über Wasser hielt.

Als sie heiratete, glaubte sie, dieses Leben hinter sich gelassen zu haben. Sie wollte treu sein, sich ganz Suleiman hingeben - vor allem in der Liebe, in der Leidenschaft. Doch seine langen Reisen, die ihn von einem Atelier zum nächsten führten, ließen eine Leere zurück, die sie nicht zu füllen wusste.

Epilog

Schleier des Vergessens ist weit mehr als eine Geschichte über Verrat und Verlust - es ist eine eindringliche Reflexion über die Zerbrechlichkeit der menschlichen Erinnerung und die Grenzen des Vergessens. Der Roman zeigt wie tiefgreifend ein einziger Moment des Verrats das Leben eines Menschen erschüttern kann.

Suleiman ringt mit der Frage, ob es möglich ist, sich von der Vergangenheit zu befreien oder ob Erinnerungen unweigerlich an uns haften bleiben. Sein Ringen mit der unvollendeten Leinwand spiegelt dieses innere Drama wider - jede Farbschicht ein Versuch, das Vergangene zu übermalen, jede verwischte Linie eine Spur seiner Unfähigkeit, endgültig loszulassen.

Driss Roukhe entwirft eine tiefgründige, poetische Erzählung, die sich dem Leser nicht nur als eine Geschichte über persönliche Tragödien, sondern als universelle Meditation über die Natur des Vergessens offenbart. Ist es ein Akt der Befreiung oder nur eine andere Form der Verdrängung? Der Roman bleibt ambivalent, lässt Raum für Interpretation und fordert den Leser auf, sich mit den eigenen Erinnerungen und der Kunst des Loslassens auseinanderzusetzen.

Am Ende bleibt Suleiman vor seiner verhüllten Leinwand zurück - ein Sinnbild für das, was wir vergessen wollen, aber nie ganz auslöschen können. Schleier des Vergessens ist eine literarische Reise in die Tiefen der Seele, die zeigt, dass Heilung oft nicht im Vergessen liegt, sondern in der Akzeptanz dessen, was war.

Das Schicksal

„Mein Los: Das Gewand der Erinnerungen zu tragen und die zartesten Augenblicke zu durchleben, die mir nie wirklich gehören werden. So hat das Schicksal mein Bild gezeichnet, ohne dass ich den Grund dafür verstehe. Ich bleibe gefangen in einem farbigen Gewebe aus Hoffnung, einem Mosaik aus flimmernden Fenstern, durch die ich nach einem Funken Zukunft spähe. Ich schreite einen Weg entlang, begegne Menschen, die mir fremd sind - sind sie real oder nur Trugbilder, Schatten aus einer anderen Welt?

Mir fehlt die Kraft, zwischen Wirklichkeit und Illusion zu unterscheiden. Bin ich noch da, oder bin ich bereits verschwunden? Ist dieses Leben, das ich jetzt führe, greifbar, oder ist es nur ein Echo der Vergangenheit, die mich einst in ihr Schneckenhaus zwang? War Salma wirklich meine Frau, meine Geliebte? Was ist mit all den Menschen, die ich kannte oder zu kennen glaubte? Waren sie je real - oder nur Druckwellen, die an meinem Verstand rütteln?

 

Siehe auch "Flucht ohne Wiederkehr: Zwischen Angst und Freiheit", ein Roman ebenfalls von Driss Roukhe über den Drang nach Freiheit junger Mädchen, die die Zwänge der Familie nicht mehr ertragen können... „Ich habe nichts zu verlieren, zur Hölle mit meinem Vater!“ Mit diesen Worten stürzte sich Souad, zwanzig Jahre jung, in die Arme der Nacht...