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Flucht ohne Wiederkehr: Zwischen Angst und Freiheit

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In der Stille der Nacht, als die Stadt in schwerem Schlaf versank, fasste Souad einen folgenschweren Entschluss. Ihr Leben, einst behütet von der warmen Zuneigung ihrer Tante, war nach der Rückkehr zum Vater in einen Käfig aus Zwängen und Lieblosigkeit verwandelt worden.

  Im Schatten der Nacht
  Das Tor zur Verdammnis
 NEU   Im Labyrinth der verlorenen Seelen
   

Nun, mit nichts als einer abgewetzten Handtasche und einer brennenden Sehnsucht nach Freiheit, verlässt sie das Haus, das einst ihr Zuhause war. Ihr Ziel? Ungewiss. Doch eines weiß sie mit Sicherheit - es gibt kein Zurück.

Auszüge aus dem Roman „الحفرة" von Driss Roukhe. (al-Hofra bedeutet "Loch" oder "Grube". Hier steht der Begriff für Disco oder Tanzbar, siehe Buchcover).

Zwischen Angst und Freiheit

„Ich habe nichts zu verlieren, zur Hölle mit meinem Vater!“ Mit diesen Worten stürzte sich Souad, zwanzig Frühlinge jung, in die Arme der Nacht. Lautlos verließ sie das Haus, schlich auf Zehenspitzen hinaus, bedacht darauf, keine Spur ihres Aufbruchs zu hinterlassen.

Es war ein Uhr morgens, als sie jenes karge Zimmer verließ - einen Raum, der von Wunden, Schreien und den bitteren Klagen eines Jahres durchdrungen war. Ein Jahr, das sie unter der strengen Herrschaft ihres Vaters und seiner zweiten Frau verbracht hatte. Diese Frau, einst eine Fremde, hatte sich längst zur unangefochtenen Herrin des Hauses aufgeschwungen.

Langsam, Schritt für Schritt, tastete sie sich aus dem zweiten Stock hinab. Zu dieser Stunde schlief das ganze Haus, umgeben von der unantastbaren Autorität des sechzigjährigen Haj Massoud. Niemand blieb nach elf Uhr wach. Dann, wenn er seine Runde durch das Haus beendet hatte, seine vier Kinder still atmend in ihren Betten vorgefunden, stieg er hinauf in den zweiten Stock. Dort nächtigte Souad, das Kind seiner ersten Frau. Er öffnete die Tür, vergewisserte sich, dass sie da war, zog sich dann in die Küche zurück, um - heimlich, im Dunkeln - eine Zigarette der Marke Marquise zu rauchen, eine Gewohnheit aus alten Tagen, als er in den achtziger Jahren Soldat in der königlichen Armee gewesen war.

Danach kehrte er ins Schlafzimmer zurück, wo seine Frau bereits auf ihn wartete. „Sind alle eingeschlafen?“ fragte sie mit jener schroffen Stimme, an die er sich gewöhnt hatte. „Ja.“, „Und Souad?“, „Schläft.“, „Gut. Schlaf auch du - morgen wartet ein neuer Tag.“ Dann legte sie ihren Kopf aufs Kissen und versank in einen tiefen Schlaf, der von einem kehligen Schnarchen begleitet wurde.

Souad aber lag Nacht für Nacht wach, ein Bündel aus Nerven und stiller Verzweiflung, gefangen in den Ketten, die ihr auferlegt worden waren, seit sie die Wärme und Liebe ihrer Tante al-Batoul verloren hatte. Sie fühlte sich wie ein Vogel im Käfig, und heute Nacht endlich öffnete sie die Tür. Sie wusste nicht, wohin ihre Flucht sie führen würde - doch vielleicht, vielleicht würde das Schicksal ihr das Lächeln zurückgeben, das sie schon lange verloren glaubte.

Mit nichts als einer billigen braunen Lederhandtasche, von zweifelhafter Herkunft, verließ sie das Haus. Sie trug eine zerrissene weiße Jeans, ein knappes T-Shirt in den Farben des Regenbogens, das eng an ihrem schmalen Körper lag und ihre mageren Rippen freigab. Über ihre rechte Hüfte spannte sich ein Tattoo, das im flackernden Licht der Straßenlaternen aufblitzte.

Ihr schmaler Körper wiegte sich durch die engen Gassen von Sbata [Stadtteil in Meknès], dem Viertel ihrer Kindheit. Hier war sie geboren, hatte die ersten Schuljahre verbracht, bis man sie fortgeschickt hatte - fort zu Tante al-Batoul in den fernen Stadtteil Borj Moulay Omar [Stadtteil im Herzen von Meknès. Dieses Viertel, das auf das frühe 18. Jahrhundert zurückgeht, bietet eine Mischung aus historischen und modernen Immobilien]. Fünfzehn Jahre war sie dort geblieben, und dann, eines Tages, war sie zurückgekehrt - zurück in jenes Haus, in dem ihre Mutter starb, als sie kaum fünf Jahre alt war.

Damals hatte sie noch nicht gewusst, was Trennung bedeutet, was Verlust ist, was es heißt, den einzigen Menschen zu verlieren, der einen mit viel Liebe umfängt. Doch heute wusste sie es. Und heute entschied sie sich, alles hinter sich zu lassen. Keine Koffer, keine Kleider, keine Erinnerungen - nur ihren unbändigen Willen, dem zu entkommen, was sie zerstört hatte.

 

Im Schatten der Nacht
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