Wellen der Stille: Zwischen Magie, Mythos und Wüste - Die Schatzsuche
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Der ersehnte Tag war gekommen. Der Scheich verkündete, dass er eine Reise tief in die Wüste unternehmen würde, um entfernte Verwandte zu besuchen - Menschen, die sich bewusst für ein isoliertes Dasein entschieden hatten, um ihre Sitten und Traditionen vor jeglicher Veränderung zu bewahren. Er erklärte zudem, dass er mich zu diesem Zweck mitnehmen würde, da meine Reise auch eine heilende Bestimmung hätte. Niemand widersprach ihm, vielmehr segneten alle seine Unternehmung. So begannen die Vorbereitungen für eine Fahrt, die Stunden in Anspruch nehmen würde und uns erst am späten Nachmittag an unser Ziel bringen sollte. Als Begleiter für diese Reise wählte der Scheich den jungen Hussein.
Mit besonderer Sorgfalt belud der Scheich eigenhändig sein Kamel, während er Hussein anwies, sich um meine Vorbereitung zu kümmern und mir beim Besteigen meines Reittieres behilflich zu sein. Schließlich setzte sich unser kleiner Zug in Bewegung: drei Kamele und ein Esel, den der Scheich mit allem Notwendigen für seine Mission beladen hatte. So zogen wir dahin - der Scheich an der Spitze, ich auf meinem Kamel hinter ihm, gefolgt von Hussein, während der Esel mit seiner Last gemächlich den Abschluss der Karawane bildete und sich im Gleichklang der Kamelhufe vorwärtsbewegte. Der ruhige Rhythmus der Reise und die Weite der Wüste ließen uns eins werden mit der unermesslichen Stille, die uns umgab.
Die Wüste erstreckte sich wie ein endloser Teppich, dessen ferne Konturen sich in scheinbarer Gleichförmigkeit verloren. Doch wer sich ihr näherte, dessen Blick wandelte sich - und mit ihm die Wahrnehmung. Jeder Flecken Erde, den die Hufe der Tiere berührten, trug seine eigenen, unverwechselbaren Merkmale, die sich dem offenbarten, der mit wachsamer Aufmerksamkeit hinsah. Diese unendliche Weite zog mich in ihren Bann, und ich spürte, dass sich die Landschaft langsam, aber sicher in meinem Inneren festsetzte.
Wir setzten unseren Weg über eine lange Strecke fort, bis Scheich al-Ghali schließlich anordnete, eine Rast einzulegen. Wir lenkten unsere Tiere zu einem Ort, an dem zwei oder drei Palmen wuchsen, und der Scheich entschied, dass wir in deren Nähe verweilen sollten. Die Kamele knieten nieder, Hussein lud die Traglast des Esels ab, und wir suchten den Schatten der drei Palmen auf. Der Moment der Pause schien mir wie eine Oase inmitten der Wüste des Geistes, ein seltener Augenblick des Innehaltens.
Der Scheich sprach: „Ganz in der Nähe gibt es eine Quelle, zu der die wilden Tiere zum Trinken kommen. Ihr solltet also achtsam sein. Doch ihr könnt euch für einen kurzen Moment der Ruhe hingeben, bevor wir unseren Weg fortsetzen.“ Wir rasteten für eine Weile, dann brachen wir wieder auf, unter dem unermesslichen blauen Firmament, über den endlosen, golden schimmernden Sandboden. Die Wüste schien mit jedem Schritt lebendiger zu werden, und ich fragte mich, was uns noch bevorstand.
Nach einem langen Marsch erreichten wir schließlich unser Ziel. Der Ort war wenig bemerkenswert und schien geradezu gewöhnlich, was wohl ein Teil seiner Geheimnisse und der Geheimnisse des Scheichs al-Ghali war. Der Platz war geschickt getarnt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das einzige Erkennungsmerkmal war ein verlassener Brunnen, den die Kamele mit Erschrecken betrachteten, als sie sich ihm näherten. Sie vermochten es nicht, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, die sie von ihm trennte. Der Scheich wusste davon und teilte mir das mit. Dieser scheinbar unscheinbare Ort war jedoch der Schlüssel zu etwas Größerem, das ich noch nicht begreifen konnte. So ließen wir die Kamele zurück und setzten unseren Weg zu Fuß fort, dem Ziel entgegen.
Der Scheich zog ein verwittertes, farbloses Blatt hervor, auf dem kaum etwas zu entziffern war, und breitete es vor uns aus. Ich konnte den Inhalt nicht verstehen. Dann begann er, Schritte zu zählen, und als er eine bestimmte Anzahl erreicht hatte, bog er nach rechts ab. Dann wiederholte er denselben Vorgang, und wir - sowohl ich als auch der junge Hussein - beobachteten ihn, stumm und mit offenem Mund. Keiner von uns konnte ein Wort hervorbringen, wir folgten nur seinen Bewegungen in völliger Stille. Die Anspannung in der Luft war greifbar, und ich spürte, wie sich die Bedeutung dieses Augenblicks langsam entfaltete.
Schließlich hielt der Scheich an, schaute in alle Richtungen, als suche er nach etwas Bestimmtem. Plötzlich traten menschliche Züge in sein Gesicht, als hätte er sein Ziel gefunden. Er rief mich zu sich, und ich eilte zu ihm. Dann sagte er: „Siehst du die Palme dort drüben?“ Er deutete auf eine einsame Palme und fuhr fort: „Dort, in ihrer Nähe, ist der Schatz vergraben.“ Ich war völlig perplex. Was sollte dieser Schatz sein? Ein magischer Fund? Eine Offenbarung?
Ich war von dem, was er tat, vollkommen verblüfft und in Gedanken versunken. Er wiederholte seine Worte, und ich verstand nicht ganz, was er mir damit sagen wollte. Wollte er, dass ich etwas Bestimmtes tat, oder teilte er mir lediglich mit, was er entdeckt hatte? In diesem Moment fragte ich ihn: „Was soll ich tun?“ Er antwortete: „Nichts. Ich werde alles tun. Du gehst mit Hussein und bereitest das Frühstück vor.“ In meiner Verwirrung war ich froh, etwas tun zu können, dass mich von meinen Gedanken ablenkte.
Ich und der junge Hussein begaben uns zu dem Ort, an dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, während der Scheich al-Ghali sich in Richtung des von ihm bezeichneten Ortes bewegte.
Dort setzte er sich auf den Sand und begann, Verse aus dem heiligen Koran zu rezitieren. Seine Worte vermischten sich mit dem Wind, als ob sie den Hauch der Wüste selbst in sich trugen. Während wir im Lager mit den Vorbereitungen für das Fastenbrechen beschäftigt waren, schweiften unsere Blicke immer wieder zu ihm hinüber.
Zunächst schien es, als sei er ganz in seine Gebete vertieft. Doch dann bemerkten wir, wie er langsam aufstand, als würde ihn eine unsichtbare Kraft rufen. Sein langer Umhang flatterte leicht im Abendwind…
Alle wussten, warum er sich zurückgezogen hatte. An genau dieser Stelle vermutete er den verborgenen Schatz, von dem nur wenige wussten. Mit einem alten, vergilbten Pergament in der Hand bewegte er sich langsam, seine Schritte bedächtig, als horchte er auf Zeichen, die nur er verstehen konnte.
Mein Blick blieb auf den Scheich gerichtet. Ich sah, wie er den Boden mit der Spitze seines Dolches bearbeitete, eine Handvoll Sand aufhob und ihn mit einem leisen Murmeln durch die Finger rieseln ließ. Die Szene hatte etwas Magisches, als sei der Scheich dabei, mit der Wüste selbst zu sprechen.
Dann geschah es.
Ein Zittern ging durch den Boden. Es war kaum spürbar, mehr eine Empfindung als ein echtes Beben. Die Luft, eben noch warm von der Hitze des Tages, wurde mit einem Mal eisig. Der Wind, der sanft durch das Lager gestrichen war, heulte plötzlich in kurzen, geisterhaften Stößen über die Dünen hinweg.
Die Männer verstummten.
Ich kniff die Augen zusammen. Der Scheich hatte sich aufgerichtet und starrte in die Dunkelheit, als lauschte er einer Stimme, die nur er hören konnte. Dann fiel sein Schatten auf den Sand - ein Schatten, der nicht allein war.
Alle sahen es. Neben dem Scheich zeichnete sich eine zweite Silhouette ab. Doch niemand war dort.
Plötzlich wirbelte der Sand um ihn herum auf, als würden unsichtbare Hände daran rütteln. Der Scheich machte einen schnellen Schritt zurück, hielt inne - und dann geschah das Unglaubliche: Der Wind kam völlig zum Stillstand. Kein Laut, kein Flüstern. Eine unnatürliche Stille legte sich über die Wüste.
Der Scheich rührte sich nicht. Minuten vergingen. Dann hob er erneut eine Handvoll Sand, ließ ihn langsam durch die Finger gleiten - und verneigte sich leicht. Es war, als habe er eine unausgesprochene Botschaft erhalten.
Er wandte sich um und kam mit ruhigen, bedächtigen Schritten zurück zum Lager. Niemand sprach, bis er schließlich ans Feuer trat, den Männern ins Gesicht sah und mit ernster Stimme sagte: „Wir brechen ab.“
Die Enttäuschung war groß - besonders bei Hussein, der fest daran glaubte, dass wir heute etwas Großes finden würden. Doch niemand widersprach dem Scheich. Wir alle hatten das Gefühl, einem Unheil entkommen zu sein.
Ein leiser Windhauch zog durch das Lager, als würde er seine Worte bestätigen.
„Aber eines Tages…“, fuhr der Scheich fort und sah mich direkt an, „wird die Zeit kommen. Und dann werde ich dich rufen.“. Ich nickte nur, denn mein Herz war noch immer erfüllt von den unheimlichen Geschehnissen der letzten Stunden.
Die Wüste hatte ihr Geheimnis bewahrt. Doch sie hatte auch eine Verheißung hinterlassen… So verließen wir den geheimnisvollen Ort. Die Wüste nahm uns wieder auf, als wäre nichts geschehen.
Über Mustapha Laghtiri
Übersetzung aus dem Arabischen
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