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Wellen der Stille: Zwischen Magie, Mythos und Wüste - Das Vermächtnis der Wüste

Seite 4 von 6: Das Vermächtnis der Wüste

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Hussein und Mustapha laufen durch die Wüste

Nach dem Nachtgebet rief mich der Scheich zu sich. Der Bote, ein junger Mann namens Hussein, trat mit ehrerbietiger Haltung an mich heran und sagte: „Der große Scheich begehrt dich zu sprechen.“ Ich ließ mir Zeit, um mich für die Kälte zu wappnen, die sich - trotz des schützenden Zelts - in meine Knochen fraß. Der junge Mann, der mir die Nachricht überbracht hatte, verschwand, hinterließ jedoch ein Lächeln in der Dunkelheit, das noch fortbestand, als er längst gegangen war.

Ich zog mich warm an. Einen Mantel, den ich mitgenommen hatte auf dringlichen Rat meines Kollegen, der mir mit Nachdruck eingeschärft hatte: „Die Kälte der Wüste ist tückisch. Man darf sie nicht unterschätzen, selbst wenn die Luft noch mild erscheint.“

Ich verließ das mir zugewiesene Gästezelt und machte mich auf den Weg zur großen Versammlungsstätte, jenem Ort, an dem ich unmittelbar nach meiner Ankunft empfangen wurde. Doch der Scheich war nicht dort. Stattdessen trat der junge Hussein auf mich zu und sagte mit gedämpfter Stimme: „Der Scheich erwartet dich an einem besonderen Ort. Eine Einsiedelei, sein Rückzugsort.“ Dann fügte er mit einem Anflug von Feierlichkeit hinzu: „Wir begegnen seiner Einsiedelei mit derselben Ehrfurcht wie einer Moschee.“ Ich erwiderte nichts, verstand jedoch sofort, worauf er hinauswollte: Ich sollte diesen Ort mit Respekt betreten. Ein Rat, den ich nicht brauchte - und doch gefiel mir Husseins Sorgfalt, seine leise Mahnung.

Wir durchquerten das Lager, ließen die Zelte hinter uns und glitten in eine Senke hinab - eine Oase, die sich erst aus der Nähe als solche zu erkennen gab. Von Weitem hatte sie nur wie ein dunkler, dichter Fleck gewirkt, fast wie ein Loch in der Landschaft. Erst als Hussein das Wort „Oase“ aussprach, verstand ich, wohin er mich führte. „Der Scheich hat diesen Ort für seine Zurückgezogenheit erwählt,“ erklärte Hussein. „Er liebt den Duft der Dattelpalmen, sucht ihre Nähe, wenn er sich bestimmten Dingen widmet.“

Der Pfad fiel steil ab, und der Boden unter unseren Füßen war tückisch. Hussein warnte mich leise vor dem Ausrutschen. Doch bald wurde der Untergrund fester, der Weg eben, und ich spürte, dass wir nun tatsächlich die Oase erreicht hatten. Der sandige Boden gab nach, doch nicht zu sehr - ein sicherer Halt für den, der seine Schritte bedacht setzte. Dann endlich, in der Dämmerung eines flackernden Lichts, hielten wir inne. „Wir sind da“, sprach Hussein und sah mich an. „Wenn du umkehren willst, werde ich hier warten und dir den Weg weisen.“

Das Geheimnis der Wüste

Der Eingang des Lehmhauses war niedrig. Ich zog meine Schuhe aus, so wie man es vor einem Tempel oder Mausoleum tun würde. Der Scheich empfing mich mit großer Herzlichkeit. Er erhob sich, bat mich, Platz zu nehmen, und entschuldigte sich für die bescheidene Einrichtung seiner Einsiedelei. Ich erwiderte die Geste, entschuldigte mich gleichfalls dafür, seine Zurückgezogenheit gestört zu haben. Doch wir verloren uns nicht lange in dieser Höflichkeitszeremonie.

Bald begann der Scheich zu erzählen, weitläufig, als wollte er sich Zeit lassen, als tastete er sich langsam an das Eigentliche heran. Oder prüfte er mich? Wollte er erst wissen, was für einer ich sei, ehe er mich in sein Inneres einließ?

Ich hörte ihm aufmerksam zu, sparsam mit meinen Reaktionen, einzig unterbrochen von Gesten der Höflichkeit und Zeichen des Respekts. Ich bemühte mich, den Eindruck eines Zuhörers zu erwecken, der nicht plaudert, nicht ausplaudert. Der bewahrt, was ihm anvertraut wird.

Der Scheich fragte mich: „Weißt du etwas über die Geschichte der Wüste?“ Ich antwortete, nicht ohne ein wenig Zurückhaltung: „Ja, ich kenne die allgemein verbreiteten Informationen darüber.“

Er nutzte die Gelegenheit, mir von seinem eigenen Erbe zu erzählen: „Es ist mir eine Ehre, dir mitzuteilen, dass mein Urgroßvater ein Kämpfer war. Er war einer der treuen Gefolgsleute des Freiheitskämpfers Ma' al-ʿAinain (ماء العينين), der sowohl gegen die Spanier als auch gegen die Franzosen kämpfte, die das Land von Nordmarokko bis nach Senegal unter sich aufteilten.“

Ich lächelte ihm zu und sagte: „Ja, ich kenne Scheich Ma' al-ʿAinain, aber mein Wissen über ihn ist begrenzt, es reicht nicht aus, um das Bild zu vervollständigen.“

Der Scheich sah dies als Gelegenheit, mich weiter mit Informationen zu versorgen. Er fuhr fort: „Scheich Ma' al-ʿAinain - sein eigentlicher Name war Mustapha ibn Scheich Muhammad al-Fadel - war nicht nur ein Freiheitskämpfer, sondern auch ein hochgelehrter Mann. Sein Name ist besonders mit der Stadt Smara verbunden, die er zu einem Zentrum des Wissens und des Widerstandes gegen die spanische Besatzung machte. Doch seine größte Tätigkeit fand in der Region Ouad Noun statt. Er pflegte enge Verbindungen zu den Herrschern in Fès, und mein Urgroßvater war einer seiner treuen Anhänger und Soldaten. Tatsächlich gehörte er zu den Delegierten, die dem Sultan in Fès die Treue schworen. Ma' al-ʿAinain hinterließ ein großes Erbe an mündlichem und schriftlichem Wissen. Unter seinen Schriften ist das Werk „Der Wegweiser der Gefährten zur Sonne der Eintracht" (دليل الرفاق على شمس الاتفاق) besonders bekannt. Er starb im Jahr 1910 unserer Zeitrechnung in der Stadt Tiznit.“

Als der ehrwürdige Scheich al-Ghali (الشيخ الغالي) über den kämpfenden Scheich Ma' al-ʿAinain sprach, beobachtete ich sein Gesicht mit großem Interesse, um zu erkennen, in welchem Maß ich bei ihm Akzeptanz gefunden hatte. Ich hegte die größte Hoffnung, dass die Fäden des Vertrauens zwischen uns gespannt werden und meine Reise erfolgreich sein möge.

Mit größter Sorgfalt wählte ich meine Worte: „Was ich bislang vernahm, hat meine Neugier geweckt, besonders in Bezug auf Ihre Person - vor allem im Hinblick auf die Wendepunkte in Ihrem Leben und Ihre Faszination für die verborgenen Schätze.“ In diesem Moment spürte ich, wie sich das Herz des Scheichs zu öffnen begann, ein echtes, ungekünsteltes Lächeln seine Züge erhellte. Es war, als hätte ich einen zarten Faden in seiner Seele berührt, und im nächsten Augenblick begann er, ohne auf den Lauf der Zeit Rücksicht zu nehmen, von sich selbst zu berichten.

„Ich bin in der Steppe aufgewachsen, nicht weit von der Stadt Laâyoune entfernt. Meine Leidenschaft für das Lernen trieb mich sowohl in städtische Zentren als auch in entlegene Gegenden. Laâyoune, als nächstgelegene Stadt, war mir stets besonders ans Herz gewachsen. Nach dem Ereignis der ‚Grünen Marsch‘ kamen viele Gelehrte zu uns, die aus Schenget [Dieser Name wurde früher als Synonym für das gesamte Gebiet des heutigen Mauretaniens verwendet, insbesondere in Bezug auf seine islamische Gelehrsamkeit und kulturelle Bedeutung.] und Tiznit stammten. So wurde Laâyoune zu einem Magneten für Wissensdurstige wie mich. Ich zog von den Gelehrten so viel wie möglich an Wissen, aber ich begnügte mich nicht damit, obwohl man mir nachsagte, ich sei nach dem Studium bei meinen Lehrmeistern besonders hervorgetreten. Ich strebte danach, all das Wissen zu erlangen, das mir zugänglich war, oder wenigstens einen kleinen Anteil davon.

Das Erbe der Wüste

Es war mein Glück, einen Gelehrten aus Sous zu treffen, dessen äußere Erscheinung sich von seinem Inneren unterschied. Er zeigte der Welt eine große Leidenschaft für alte Bücher, besonders für Manuskripte, doch in seinem Inneren suchte er nach etwas Bestimmtem. Er war überzeugt, dass sich dieses Etwas in den Bibliotheken der Wüste befand, verborgen in den weiten, unberührten Wüstenlandschaften. Manuskripte, die von der Zeit vergessen worden waren, die von keinem menschlichen Auge berührt worden waren.

Ich hatte ein tiefes Vertrauen zu ihm, wie er es auch zu mir hatte. Mein Lehrer benötigte jemanden, der ihn in den Weiten der Wüste begleitete. Einen vertrauenswürdigen, gelehrten Menschen, der sich in den Wegen der alten Zellen und Schreine auskannte. Denn er war sicher, dass sich dort wertvolle Informationen befanden - eine Karte, die den Weg zu verborgenen Schätzen wies, die von Kriegern, Räubern und Karawanenführern in der Wüste vergraben worden waren, als die Reisebedingungen zu schwer und die Straßen von Banditen gesperrt waren.

Diese Männer und Frauen hatten ihre Geheimnisse nur wenigen, ausgewählten Gelehrten und Geistlichen anvertraut, die diese aufzeichneten. Sie beschrieben den Ort, an dem sie ihre Schätze vergruben, in der Hoffnung, eines Tages dorthin zurückzukehren. Doch aus verschiedenen Gründen kehrten sie nie wieder zurück. Mit der Zeit übernahmen die Geister der Wüste die vergrabenen Reichtümer und bewachten sie. Nur diejenigen, die in der Lage waren, bestimmte Gebete und Zauber aus den heiligen Schriften zu rezitieren - wie die mystischen Formeln des Königs Suleiman (سليمان, Salomo) -, konnten die Wächter vertreiben und die Schätze heben.

Die Jahre, die ich an der Seite des Gelehrten aus Sous verbrachte, waren eine Zeit tiefgehender Erkenntnisse und wertvoller Einblicke. Unter seiner Anleitung erlernte ich verborgene Künste, uralte Rituale und geheime Praktiken, die es mir ermöglichten, Geister zu vertreiben und jene Schätze zu bergen, die seit unzähligen Jahren in der Tiefe der Erde ruhten - eingeschlossen in der dunklen Stille des Wüstensandes.

Der Scheich, dieser weise Mann aus Sous, zeichnete sich vor allem durch seine große Vorsicht aus - eine Eigenschaft, die mich bereits bei unserer ersten Begegnung beeindruckte. Sein Leben und seine Lehren waren von Zurückhaltung und Bedachtsamkeit geprägt, und oft mahnte er mich mit ernster Stimme: „Vertraue auf das Verborgene und bewahre dein Wissen für dich.“ Seine Worte, ebenso wie seine Taten, vermittelten mir stets das Bild eines Mannes, der bewusst im Schatten wirkte. Und so lernte auch ich, mich dieser Haltung anzunehmen - eine Lehre, die sich mir allmählich unauslöschlich einprägte.

Doch dann kam ein Moment, der mich fast verrückt machte: eines Morgens, als ich nach ihm suchte, fand ich ihn nicht. Keine Spur. Keine Antwort auf meine Fragen. Und was mich noch mehr beunruhigte: Niemand fragte nach ihm. Keiner schien überrascht zu sein, dass er verschwunden war. Stattdessen begannen die Leute, mich bei seinem Namen zu nennen, als wäre ich er und er wäre ich. Als wäre er in mir aufgegangen, als wäre mein Körper nur ein Schattenspiel von ihm. Ich verstand die Welt nicht mehr. Doch anstatt den Fehler zu korrigieren, ließ ich sie in diesem Glauben, denn vielleicht war es ja ein Teil dieses seltsamen Übergangs von Wissen und Wesen.

Was mich betrifft, so war ich nicht in Eile, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich fühlte, dass ich noch nicht reif genug war, dass mir noch ein Teil des Wissens und der Erfahrung fehlte, um den richtigen Schritt zu tun. So entschied ich mich, in aller Langsamkeit zu gehen, Schritt für Schritt, bis sowohl mein Inneres als auch mein Herz bereit waren, die Wahrheit zu empfangen. Die Suche nach dem, was mir bestimmt war, fand schließlich ihren Ort in der Wüste von Merzouga, diesem abgelegenen Fleck Erde, den ich in einer Vision so klar vor Augen hatte. Eine Vision, die immer wiederkam, und die, so schien es mir, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischte.

  Moulay Ali al-Sharif (um 1589–1659) war der Begründer der Alawiden-Dynastie, die bis heute in Marokko herrscht. Seine Abstammung wird auf den Propheten zurückgeführt. Im 17. Jahrhundert gelang es ihm, verschiedene Berber- und Araberstämme zu vereinen. Sein Sohn Moulay Mohammed al-Sharif setzte sein Werk fort und eroberte Marrakesch, wodurch die Alawiden zur dominierenden Dynastie wurden.

n meiner Vision sah ich den Scheich, wie er sich mir näherte, mit einem Lächeln auf den Lippen, und dann deutete er nach oben und zeigte mir mit seiner Hand gen Norden. Meine Augen folgten seinem Finger und landeten auf einem Grab, das mit einem grünen Tuch bedeckt war und von Dattelpalmen umgeben war. Als ich diese Vision einigen Weisen erzählte, wiesen sie mir den Weg zu diesem Grab, es war das von Moulay Ali al-Sharif in der Stadt Rissani. Ich war fest entschlossen, ihm nahe zu sein. Doch tief in mir wusste ich, dass mein Herz sich nur der Wüste hingab. So wählte ich diesen Ort, diesen Teil der Wüste, der die Stille meines Geistes und die Ruhe meines Herzens trug.

Die Nacht verging und wir sprachen über viele Themen. Ich entnahm seinem Reden, dass Scheich al-Ghali nichts gegen meine Begleitung einzuwenden hatte, doch das Vorhaben, wie er mir erklärte, war nicht einfach. Es war von vielen Komplikationen umgeben, und es musste im Geheimen geschehen. Ich sollte mich an bestimmte Rituale halten, die mich in die Welt seiner Überzeugungen einführten - eine Welt, die ich bisher nur aus der Ferne betrachtet hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich von heute auf morgen ein Teil dieser Welt sein würde. Zudem bemerkte ich, dass der Scheich sich Sorgen um meine Sicherheit machte. Er befürchtete, dass ich Schaden nehmen könnte, wenn ich nicht rein im Herzen und aufrichtig im Glauben war.

In Wahrheit war mein Herz rein, doch mein Glaube galt der Wissenschaft, die ich ausübte, und dieser forderte von mir Neutralität gegenüber den Überzeugungen der Menschen, die sich meinen Beobachtungen oder Studien unterzogen. Ich war mir dessen voll bewusst, doch ich deutete dem Scheich an, dass ich in allem, was er sich wünschte, großzügig teilnehmen würde. Ich versprach ihm, mich voll und ganz an das zu halten, was er verlangte, und dass er von mir nur das erleben würde, was ihm behagen und seine Aufgabe erleichtern würde. So verließ ich sein Rückzugsort erst, als wir uns über alles einig geworden waren.

Ich verabschiedete mich vom Scheich, der mir mitteilte, dass er die Nacht mit Gebeten und dem Rezitieren des Korans verbringen würde, und dass er dies in seiner Abgeschiedenheit tat. Doch bevor ich ihn nach dem jungen Hussein fragte, tauchte der Junge aus dem Nichts auf, und rief mir zu: „Ich bin hier, Doktor, ich warte auf dich.“

Ich schlich hinaus in die Dunkelheit der Nacht und sah, wie Hussein seine elektrische Lampe anzündete, deren Licht mir den Weg wies und mich zu dem Ort führte, an dem ich meine erste Nacht in der Umarmung der Wüste verbringen würde.

 

Auf dem Weg nach Erfoud
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