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Marokkos Anspruch auf die Westsahara - Rechtsgeschichtliche Entwicklung

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Rechtsgeschichtliche Entwicklung

Bis zum Beginn des Kolonialzeitalters gehörte die Westsahara - ebenso wie der saharische Westen der heutigen Republik Algerien und das gesamte Gebiet der heutigen Republik Mauretanien - unstreitig zu Marokko, dessen Südgrenze damals am Senegal-Fluss lag. Das stand auch später nicht nur auf dem Papier. Die marokkanische Herrschaft wurde auch faktisch ausgeübt. Die Sultane ernannten Kaids (Verwaltungsbeamte) und Kadis (Richter) für die Westsahara, stationierten fallweise dort Militär, erteilten Anweisungen und erhielten Berichte. Dafür gibt es bis heute eine Vielzahl urkundlicher Beweise. Im 17. und 19. Jahrhundert haben marokkanische Sultane (Moulay Ismael und Moulay Hassan) die saharischen Gebiete sogar persönlich bereist und inspiziert.

Die legitime Herrschaft der Sultane in der Westsahara gründete sich - und beruht auch heute noch - auf der “Baya”, dem Huldigungseid der einheimischen Bevölkerung. Nach islamischem Rechtsverständnis ist die “Baya” nicht nur eine religiöse Zeremonie, mit der ein Sultan als “Führer der Gläubigen” anerkannt wird, sondern auch ein juristisches Gelöbnis, durch das weltlich-staatlicher Gehorsam versprochen wird. Diese Doppelbedeutung der “Baya” gemäß der Scharia-Auslegung ist in Europa vielfach verkannt worden, indem man sie auf ihre geistlich-theologische Funktion verkürzte.

Tatsächlich haben die westsaharischen Volksstämme den marokkanischen Sultanen kontinuierlich die Baya” geleistet und sich damit als Untertanen deren Souveränität unterstellt.

An dieser Rechtslage änderte sich nichts, als die europäischen Mächte, hier vor allem Frankreich und Spanien, sich um die Herrschaftsgebiete in Nord- und Westafrika bemühten. Die Sultane erteilten ausländischen Wirtschaftsagenten, Fischern und Händlern zwar gewisse Nutzungs- und Niederlassungsrechte an der westsaharischen Küste, traten aber keineswegs die eigene Territorialhoheit an fremde Mächte ab. In marokkanischen Handelsverträgen mit den USA (1786) und Großbritannien (1856) wurde die Souveränität der Sultane über die Westsahara ausdrücklich von den beteiligten Staaten anerkannt.

Selbst in einem Geheimabkommen von 1904 zwischen Frankreich und Spanien, in dem beide Staaten “Einflusszonen” in Marokko vereinbarten und die Westsahara Spanien zuwiesen, war festgehalten, daß die “Integrität Marokkos unter der Souveränität des Sultans” respektiert werden sollte. Übrigens hat Marokko diesen Vertrag, der ohne seine Beteiligung zu seinen Lasten von Dritten geschlossen wurde (“res inter alios acta”) niemals als für sich verbindlich betrachtet. Da aber die Macht der Sultane damals durch Stammesfehden geschwächt und der Staat inzwischen schon auf allen Landseiten von französischen Kolonien umgeben war, so konnte man sich praktisch kaum gegen die schwerwiegenden Folgen des französisch-spanischen Einvernehmens und Zusammenwirkens zur Wehr setzen.

Diese Folgen traten ein, als Sultan Moulay Hafid die Akte von Algeciras (1906) und dann den Vertrag von Fes ( 1912) unterschreiben musste. Die Inhalte sind bekannt: Die Stadt Tanger wurde internationaler Verwaltung unterstellt; der mittelmeerische Küstenstreifen des Rif, die Stadt Ifni und die Provinz Tarfaya wurden spanische Schutzgebiete, und das gesamte übrige Sultanat hatte sich dem französischen Protektorat zu unterwerfen.

Auf der Grundlage dieser Machtverteilung konnten Frankreich und Spanien nun, noch im Jahr 1912, einen glatten Völkerrechtsbruch begehen. Sie vereinbarten, daß die Westsahara als Kolonie an Spanien fallen sollte. Das war ein Verstoß nicht nur gegen international anerkannte Regeln des “jus gentium”, sondern auch gegen den französisch-marokkanischen Protektoratsvertrag. Denn die Westsahara gehörte nach wie vor zu Marokko, das zwar seine Souveränität verloren hatte, aber doch ein autonomer Staat geblieben war und dem französisch-spanischen Abkommen keineswegs zustimmte, auch diesmal überhaupt nicht konsultiert worden war. Frankreich aber konnte als bloßer Protektor Marokkos nicht mehr Rechte übertragen als ihm selbst zustanden. Es hatte durchaus nicht die Befugnis, einen Teil des von ihm protegierten, weiterhin als Völkerrechtssubjekt bestehenden Staates an einen Drittstaat, schlicht “abzutreten”.

Die Proteste des Sultans blieben ohnmächtig, und die folgenden Jahrzehnte erlebte die Westsahara in kolonialer Abhängigkeit von Spanien - das für die Entwicklung des Territoriums so gut wie nichts leistete, selbst die Verwaltung von den vorgelagerten Kanarischen Inseln aus betrieb, und das Gebiet eigentlich nur als Pufferzone zum Schutz dieser Inselgruppe betrachtete. Die “Baya”, die den marokkanischen Sultanen wiederholt insgeheim dargeboten wurde, galt nun als Hochverrat gegen die Kolonialmacht, und in den Jahren der Franco-Ära flüchteten tausende Saharauis nach Marokko, das sie als ihr Vaterland ansahen.

Internationaler Schiedsspruch
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