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Suq as-Sagha und Atay: die Biografie eines Geschmacks

Zwischen Läden, Funduq und Brunnen wird am Suq as-Sagha sichtbar, wie der Markt sich von Gold- und Münzhandwerk hin zum Tee- und Zuckerhandel gewandelt hat. Idriss Al-Jay nimmt diesen Markt als Fokus und zeigt, wie Atay - der marokkanische Minztee - vom höfischen Geschenk zum Alltagsritual wurde.

Suq as-Sagha. Im Vordergrund links der Brunnen, Foto Said Amimi

Suq as-Sagha. Im Vordergrund links der Brunnen, Foto Said AmimiIdriss Al-Jay gelingt mit seinem Artikel ein seltenes Kunststück: Er zeigt, wie man von einem konkreten Ort - dem Suq as-Sagha - aus die große Erzählung einer Kultur entfaltet, ohne in Folklore oder bloße Aufzählungen zu verfallen. Der Einstieg in die Topografie des Marktes ist kein dekorativer Auftakt, sondern die kluge Setzung eines Rahmens: Hier kreuzen sich Waren, Wege und Worte. Von dieser Bühne aus führt Al-Jay in die Geschichte des Atay, des marokkanischen Minztees - präzise, anschaulich und stets mit Sinn für soziale Bedeutungen.

Besonders überzeugend ist die historische Tiefe. Al-Jay verankert den Tee dort, wo er in Marokko ankam: im höfischen Kontext, als Geschenk europäischer Gesandter. Von dort verfolgt er seine Wanderung in die Häuser der lokalen Eliten und angesehenen Bürger, auf die Märkte und in den Alltag. Er verschweigt die Debatten nicht: Gelehrte rangen um Erlaubnis und Reinheit; ein Sufi-Gelehrter warnte vor ökonomischer Abhängigkeit; der Staat ließ Zuckerfabriken prüfen. So entsteht keine glatte Herkunftserzählung, sondern eine Geschichte, die Widersprüche nicht scheut.

Stark ist auch, wie der Text das Wie des Tees sichtbar macht: der erste kurze Aufguss zum Spülen der Blätter, das wiederholte Kosten, die Kräuter (Minze, Wermut und Eisenkraut), das Einschenken in kleine Gläser - drei Runden, ein geteiltes Zeitmaß. Dass Al-Jay die höfische Etikette (Herr des Minztees) und ihre bürgerliche Entsprechung (Herr des Teetabletts) mitdenkt, macht den Aufstieg des Atay zum Ritual der Gastfreundschaft greifbar.

Am Ende hat man mehr verstanden als den Weg eines Getränks. Man begreift, warum ein Markt zum Resonanzraum einer Stadt werden kann - und wie ein Glas Tee Gemeinschaft stiftet, Unterschiede überbrückt, Identität formt. Dieser Text ist nicht nur informativ; er macht Lust, genauer hinzusehen, langsamer einzuschenken und die Kultur im Kleinen ernst zu nehmen.

 


Suq as-Sagha und die marokkanische Teekultur

as-Sagha gesehen von Diwan, Foto Said Amimi

Tablett mit MinzteeDieser Markt besitzt viele Gesichter und Geschichten, die tief in die marokkanische - nicht nur die Fassi - Geschichte zurückreichen. Er bildet daspulsierende Zentrum, das den Strom des Handels zwischen den Märkten der alten Medina in Bewegung hält.

Seine beiden Ausgänge, die sich nach einigen Windungen gegenüberliegen, öffnen sich auf geschäftige Orte voller Vielfalt und widersprüchlicher Handelswelten. Der westliche Ausgang führt rechterhand in eine Gasse (Smat Qbib an-Naqes) voller kleiner Läden mit einfachen Speisen für die ärmere Bevölkerung, und linkerhand in den Markt der Gemüse-, Fleisch-, Obst- und Fischhändler der sogenannten Jotea, des volkstümlichen Marktes. Der östliche Ausgang wiederum führt rechterhand in das pulsierende Handelsherz von Fès in drei Viertel (ad-Diwan, ar-Riyad, Juha und Raḥbat al-Qays). Diese Märkte, zusammen mit dem Gewürzmarkt Attarin und dem großen Handelskomplex al-Qissariya, bildeten einst die eigentliche Börse für Ein- und Ausfuhren. Hier befanden sich die Vertretungen ausländischer Handelshäuser, die Sitze der großen Handelsfamilien sowie die Filialen nationaler und staatlicher Banken. Zur Linken dieses östlichen Ausgangs öffnet sich der Goldmarkt (Suq ad-Dahban) -, der später in Suq ad-Debban genannt wurde, Markt der Fliegen, da dort kein Gold mehr verkauft wurde. In diesem Markt befindet sich eine historische Moschee aus der Zeit der Almoraviden (1056 - 1147). Dort unterrichtete einst einer der großen Gelehrten des Islam, Qadi Ayad während seines Aufenthalts in Fès, 1083 - 1149, wo er im Zqaq al-Ḥajar wohnte. Kein Haus in Marokko war ohne sein Werk „Die Heilung durch die Erkenntnis der Rechte des Auserwählten“ - das nach dem Koran als das meistgeschätzte Buch galt.

Zwischen Gold und Geist - vom Markt zur Symbolik des Handels

Der Goldschmiedemarkt, dessen Ursprünge - wie Dr. Mohammed at-Tazi Saoud berichtet - „auf die Zeit vor der Herrschaft der Meriniden (1244 - 1465)“ zurückgehen, hat seinen alten Namen bis heute bewahrt. Einst galt er als einer der reichsten Märkte Nordafrikas. Er war spezialisiert auf die Prägung von Münzen sowie auf die Kunst der Gold- und Silberschmiedekunst, deren Erzeugnisse unmittelbar im benachbarten Goldmarkt (Suq ad-Dahab) verkauft wurden.

Diese Handwerkskunst war nahezu ausschließlich in den Händen der jüdischen Gemeinschaft, deren Wohnviertel sich nördlich des Goldschmiedemarktes befanden - etwa Derb Salma am Ende des Viertels der Kräuterhändler, das Judenherbergsviertel (Ḥay Funduq al-Yahudi), sowie im Süden das Ḥay al-Blida. Erst später wurden die jüdischen Bewohner in das erste eigens errichtete jüdische Viertel Marokkos verlegt - in den Mellah (Judenviertel), zwischen den Jahren 1438 und 1465. Damit verlagerte sich auch das Handwerk der Goldschmiedekunst und der Münzprägung vom Goldschmiedemarkt in den Messer- und Klingenschmiedemarkt am nördlichen Eingang des Mellah.

Die unmittelbare Nachbarschaft des Goldschmiedemarktes und des Goldmarktes zu den großen Handelsplätzen von Fès - jenen Zentren des Warenaustauschs zwischen Afrika und Europa - bezeugt seit jeher die enge Verbindung der jüdischen Gemeinschaft mit Handel und Finanzwesen, eine Beziehung, die weit über die Grenzen Marokkos hinaus bis in alle Welt reichte.

Ein Markt mit zwei Gesichtern

as-Sagha gesehen von Ksakssiyin, Foto Said AmimiSuq as-Sagha bewahrt in seiner architektonischen Anlage noch immer das Zeugnis seiner glanzvollen Handelsstellung und seines städtischen Wohlstands: Weitläufige Läden und Warenhäuser reihen sich aneinander, angeführt von dem großen Funduq, der später, im Jahr 1750, errichtet - oder „nur“ erneuert - wurde. Seine as-Saqqaya (Brunnenanlage) ist von einem schönen, eigenständigen Stil, der sich von sämtlichen Brunnen der Altstadt abhebt.

Die historische und wirtschaftliche Bedeutung dieses Marktes zeigt sich in seiner späteren Verbindung mit wichtigen Gütern, die zentrale Elemente der Kultur der Geselligkeit, der gehobenen Lebensfreude und der nordafrikanischen Küche bildeten und bis heute bilden: Tee, Zucker und Couscous.

Bis in die 1970er Jahre war der Markt in zwei Teile gegliedert: Der westliche, kleinere Teil war dem Verkauf von Couscous, Hülsenfrüchten und Gewürzen vorbehalten und trug den Namen „al-Kassakissiyin“ (die Couscoushändler). Der größere Teil des Goldschmiedemarktes hingegen war - bis in die ersten Jahre nach der Unabhängigkeit - ausgesprochen rege im Großhandel mit Tee und Zucker tätig. Die führenden Kaufleute bezogen ihre Waren aus Europa, den Tee aus England und den Zucker aus Frankreich. Einige Händler setzten den Großverkauf von Tee und Zucker bis gegen Ende der siebziger Jahre fort.

Zwischen Ritual und Erkenntnis - der Tee als kulturelles Symbol

Die Geschichte dieses Marktes und die Wandlungen, die sein Handel im Lauf der Jahrhunderte erfahren hat - insbesondere die Ära des Teegeschäfts - führen uns zu einer Frage, die viele Liebhaber dieses Getränks beschäftigt, das längst untrennbar mit der marokkanischen Esskultur verbunden ist. Der Tee ist nicht nur ein Symbol des guten Geschmacks, sondern zu einem festen Bestandteil der marokkanischen Gastfreundschaft geworden - ein Zeichen, das sowohl von westlichen als auch von östlichen Besuchern als Ausdruck kultivierter Geselligkeit geschätzt wird: der marokkanische Minztee.

Seit wann also trinken die Marokkaner Tee und machen ihn zu einer Brücke menschlicher Nähe und gesellschaftlicher Begegnung? Die allgemeine Antwort lautet meist: „Der Tee ist uralt - er gehört zu uns seit Anbeginn.“ Doch tatsächlich ist der Teegenuss in Marokko keineswegs so alt, wie man gemeinhin glaubt. Obwohl dieses Getränk, das bald zum beliebtesten der Bevölkerung und schließlich zum „Nationalgetränk“ wurde, seine Liebhaber rasch fand, war seine Einführung in Städten und auf dem Land von heftigen religiösen Kontroversen begleitet. Die Rechtsgelehrten des Landes diskutierten ausführlich über die Zulässigkeit des Teetrinkens - zwischen Verbot und Erlaubnis, zwischen Strenge und Nachsicht.

Viele Gedichte wurden über Tee und Zucker verfasst - von Bewunderern wie von Gegnern. Der Gelehrte Ḥamdun Ibn al-Ḥaj schrieb etwa: „Wir tranken den Tee, alt und erlesen, ein erlaubtes Getränk - kein Rausch, kein Wein.“

Andere, wie der Dichter al-Baamarani Ikhlaf, sahen darin den Niedergang guter Sitten und dichteten spöttisch: „Sie haben die Liebe verloren und lösten sie im Wasser auf, der Tee verdarb uns die guten Taten und den Sinn des Gebens.“

Einige Rechtsgelehrte gingen so weit, den Teegenuss dem Wein gleichzustellen und erklärten ihn für ebenso verboten. Andere, darunter der Gelehrte und Sufi-Meister Muḥammad Ben Abd al-Kabir al-Kettani (1873-1909), untersagten ihren Schülern den Teekonsum ausdrücklich. Sein Verbot entsprang weniger einer moralischen Strenge als vielmehr einem patriotischen Widerstand gegen die koloniale Einflussnahme, die sich - unter dem Deckmantel des Handels - über den Import von Tee und Zucker in die marokkanische Gesellschaft einzuschleichen versuchte. Al-Kettani sah in dieser Handelsausweitung ein Mittel wirtschaftlicher Abhängigkeit und rief dazu auf, die dafür aufgewendeten Mittel lieber zur Unterstützung der Kämpfer gegen die fremden Mächte zu verwenden. Er selbst besuchte eine Zuckerfabrik in Frankreich, doch auch diese Reise änderte nichts an seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Konsum von Tee und Zucker.

Wie der Tee blieb auch sein treuer Begleiter, der Zucker, nicht von Kritik und religiösen Einwänden verschont. Nach dem Zusammenbruch der Zuckerproduktion am Ende der Saadier-Dynastie (1510-1659), als Marokko noch zu den größten Zuckerexporteuren der Welt zählte, kursierten in Gelehrtenkreisen wie unter dem Volk Gerüchte, dass bei der Zuckerherstellung Schweinefett oder Tierknochen verwendet würden. Dies veranlasste den marokkanischen Staat, Delegationen nach Frankreich zu entsenden, um in den dortigen Zuckerfabriken die Reinheit und rituelle Zulässigkeit des Produkts zu überprüfen.

Tee als höfische Kunst und politische Geste

Unter Historikern herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Tee in der Zeit Sultan Moulay Ismails - also zu Beginn des 18. Jahrhunderts - nach Marokko gelangte. Der Sultan erhielt ihn als Geschenk europäischer Gesandter. Zunächst wurde Tee ausschließlich zu medizinischen Zwecken verwendet, bevor er etwa ein Jahrhundert später allmählich zum täglichen Getränk wurde. In dieser frühen Phase blieb der Teegenuss den Kreisen des Hofes und den wohlhabenden Eliten vorbehalten. Tee, Zucker und das dazugehörige Geschirr gehörten zu den begehrtesten Gaben, die ausländische Diplomaten und Gesandte dem Sultan und seinem Gefolge darbrachten - neben edlen Stoffen, Wanduhren und anderen erlesenen Kostbarkeiten.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann sich das Teetrinken auch auf dem Land zu verbreiten, zunächst jedoch in den Häusern der Qiyad, der lokalen Eliten und angesehenen Bürger - sowie der wohlhabenden Großbauern. Der Tee erhielt dort eigene Rituale der Zubereitung und des Genusses, die sich deutlich von den heutigen unterschieden.

Einen lebendigen Eindruck dieser frühen Teezeremonien vermittelt der deutsche Reisende Gerhard Rohlfs in seinem Werk „Mein erster Aufenthalt nach Marokko“. Als er im Jahr 1861 den Sufi-Scheich und Führer des Wazzaniya-Bruderschaft (Tariqa al-Wazzaniya), al-Ḥaj Abd as-Salam, auf dessen Landgut außerhalb der Stadt Wazzan besuchte, schildert er die Szene folgendermaßen: „Auf ein Zeichen meines Herrn brachte sofort ein kleiner schwarzer Junge, in Uniform gekleidet und mit Namen Samba, ein silbernes Tablett herbei; darauf standen eine silberne Teekanne, ein Teller mit großen Stücken Zucker, eine Teedose, außerdem sechs gewöhnliche Teegläser und ein Becher, aus dem Sidi seinen Tee zu trinken pflegte. All dies wurde vor dem Scharif abgestellt, der neben Sidi saß - ein wirklich betagter Mann namens Sid al-Haj Abdullah -, und dann begann die Zubereitung des Tees.

Al-Haj Abdullah nahm eine reiche Handvoll grünen Tees und warf sie in die Kanne, während ein weiterer kleiner schwarzer Junge, Salim, bereitstand und kochend heißes Wasser bereithielt. Der erste kurze Ausguss diente ausschließlich dazu, die Blätter kurz zu reinigen. Danach wurde eine reichliche Menge Zucker in die Kanne gegeben, und nun wurde diese mit heißem Wasser gefüllt. Unterdessen hatte der al-Haj auch einige duftende Kräuter vorbereitet - Minze, Schiba (Wermut) und „Luisa (Eisenkraut)“ -, die obenauf hinzugefügt wurden. Nach einer Weile wurde ein Becher für Sidi gefüllt, doch erst, nachdem al-Haj Abdullah den Tee mehrfach gekostet und sich vergewissert hatte, dass der Tee hinreichend süß war, wurden die übrigen sechs Gläser gefüllt und von den beiden kleinen Dienern den Gästen gereicht.

Da die Anwesenden gewiss an die dreißig Personen waren - ganz abgesehen von den zahlreichen Besuchern, die kamen und gingen -, und die meisten außerdem, wie es der Brauch verlangt, drei Gläser tranken, lässt sich leicht vorstellen, dass dies relativ lange dauern würde, zumal nur sechs Gläser zur Verfügung standen. Es versteht sich von selbst, dass die Teekanne viele Male wieder aufgefüllt wurde.“

Dieses Ritual, das der deutsche Reisende schildert, war keineswegs nur dem Scharif und seiner Gefolgschaft vorbehalten. Selbst beim Pascha von Fès, Ben Tayeb, zurzeit Sultan Moulay Mouḥammed IV. Ben Abd ar-Raḥman (1858 - 1873), wurde der Tee nach ähnlichem Zeremoniell gereicht: „Nachdem wir gegessen hatten, wurden auch wir in den Salon eingeladen und erhielten die Erlaubnis, am Teetrinken teilzunehmen. Der Tee wurde ausschließlich in kleinen Kristallgläsern serviert.“

Nach und nach verdrängte der Tee den Kaffee, der zuvor das bevorzugte Getränk der gehobenen Gesellschaft gewesen war. Diese Entwicklung hatte nicht nur geschmackliche, sondern auch politische Gründe. Die marokkanische Monarchie war bestrebt, sich deutlich vom Osmanischen Reich abzugrenzen, in dem der Kaffeegenuss vorherrschte. So wurde die Verbreitung des Tees auch zu einem bewussten Akt kultureller Selbstbehauptung. An der Grenze zum osmanischen Einflussbereich endete der Vormarsch des Kaffees - und begann die Ära des marokkanischen Tees.

Von höfischem Ritual zu sozialem Symbol

Wenn auch die Chinesen bis heute ihren Tee ohne Zucker trinken und ihn in Porzellangefäßen servieren, so waren es die Engländer, die als Erste ihren Tee süßten und silberne Teekannen und Tabletts verwendeten. Die Marokkaner übernahmen später diese Vorliebe für süßen Tee und silberfarbenes Geschirr und machten daraus eine eigene Kunst. Die Zubereitung des Tees folgte bald festen Regeln und Ritualen. In Marokko durften nur ausgewählte Personen sie ausführen - es entstand eine regelrechte Berufung. Im königlichen Palast etwa war eine eigene Dienerschaft mit der Teezubereitung betraut. Auch in wohlhabenden Familien gab es eigens dafür zuständige Personen.

Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der Tee schließlich eine politische Rolle an: Er wurde zu einem Instrument der Verführung und der Einflussnahme. Die Sultane nutzten ihn, um Gegner zu besänftigen oder sich ihre Gunst zu sichern - durch Geschenke aus Tee, Zuckerhut und kunstvoll gearbeiteten Teekannen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts galt das Teeservice als eine der bedeutendsten Gaben bei Hochzeiten, Beschneidungsfeiern, Trauerzeremonien und offiziellen Besuchen. Dieses Ritual des Schenkens verbreitete sich in allen Regionen des Landes - in Städten, Dörfern und bis in die Weiten der Sahara.

Die Zucker-Maqama

Die Leidenschaft für Tee und die übermäßige Liebe zum Zucker hatten in der marokkanischen Stammesgesellschaft eine solche Tiefe erreicht, dass die Identität eines Stammes geradezu durch die Größe der Zuckerhut bestimmt wurde, die er konsumierte. Die Forscher Abd al-Aḥad as-Sebti und Abd ar-Raḥman al-Khṣṣasṣi berichten in ihrem Buch „Vom Schay zum Atay“, dass es in den Jahren 1904 - 1905 im Westen Marokkos zu einem heftigen Streit zwischen den Stämmen Ḥariz und Amzab kam - ein Konflikt, der beinahe in einen offenen Stammeskrieg ausgeartet wäre. Der Auslöser war banal und zugleich symbolisch: Ein Mann aus dem Stamm der Ḥariz wollte auf dem Markt Zucker kaufen und bat den Händler um einen Zuckerhut. Zu jener Zeit wurde Zucker in zwei Größen verkauft - in kleinen und in großen Kegeln. Der Händler reichte ihm einen kleinen, worauf der Mann spöttisch sagte: „Das ist ein kleiner Amzabi-Kegel! Ich will einen großen, einen Ḥarizi-Kegel!“ - ein Ausdruck seines Stammesstolzes und zugleich eine spitze Bemerkung gegen den Nachbarstamm. Unter den Käufern befand sich auch ein Angehöriger der Amzab, der die Ehre seines Stammes verteidigen wollte und erwiderte: „Nein, der große Kegel ist Amzabi - der kleine ist Ḥarizi!“ Ein Wort gab das andere, die Auseinandersetzung drohte zu eskalieren, bis vernünftige Männer dazwischen gingen und den Streit beilegten. Doch als die Nachricht den Stamm der Amzab erreichte, sah man darin eine öffentliche Kränkung - eine Schmach, die nur mit Blut gesühnt werden könne. Man beschloss, die Beleidigung zu tilgen, selbst wenn es Krieg bedeutete. Gemeinsam fasste man den Entschluss, die Ḥariz anzugreifen, um sie zu zwingen, öffentlich zu bekennen, dass der große Zuckerhut Amzabi sei und der kleine Ḥarizi.

Daraufhin wandten sie sich an Duwar ar-Riyaḥi, einen reichen und angesehenen Mann der Ḥariz, der, um Frieden zu stiften, zugab, der kleine Kegel sei tatsächlich Ḥarizi und der große Amzabi. Doch dieser Alleingang erzürnte die Ḥariz, die den Kompromiss ablehnten, weil er ohne ihre Zustimmung geschlossen worden war. Sie erklärten, die Schande nur mit Waffengewalt bereinigen zu können, und begannen, die Amzab zu provozieren, indem sie deren Handelskarawanen auf dem Weg zu den Märkten von Casablanca anhielten und „Zollgebühren“ verlangten. Daraufhin berieten sich auch die Amzab über eine Vergeltung und beschlossen ihrerseits einen Angriff. Nur das Eingreifen weitsichtiger Stammesältester konnte sie zurückhalten - sie erinnerten an den Zorn des Sultans, sollte Blutvergießen ausbrechen. Der Streit wurde schließlich dem Stellvertreter des Sultans in Casablanca vorgetragen, der die Angelegenheit an den Sultan selbst weiterleitete. Dieser beendete den absurden Konflikt mit einem Schiedsspruch: Er verhängte einen Waffenstillstand zwischen den beiden Stämmen und verbot jede Feindseligkeit.

Das Gleichnis vom verwundeten Tee - Weisheit und Würde

Die zweite Begebenheit, die as-Sabti und al-Khassassi in derselben Quelle anführen, lautet: Der berüchtigte, despotische Qaid Issa Ben Omar hatte einen Mann aus einem der Stämme von Abda zu Gefängnis verurteilt. Nach einigen Tagen seiner Haft kam eine Abordnung aus dem Stamm des Gefangenen und bat den Qaid, den Mann freizulassen. Als der Qaid sie nach dem Grund fragte, warum man einen Mann freilassen solle, der eine Übertretung begangen habe, sagten sie: „Seit der Verhaftung dieses Mannes haben wir keinen Tee mehr getrunken, denn er ist der Einzige, der die Teezubereitung wirklich beherrscht.“ Der Qaid bewirtete die Stammesabordnung großzügig, und nach dem Essen ließ er den Gefangenen in gepflegtem Zustand und ordentlicher Kleidung vorführen und stellte ihm die Utensilien für die Teezubereitung bereit. Gleichwohl wies der Qaid einen seiner Diener an: „Sobald das Wasser zu kochen beginnt, gib einen Becher kaltes Wasser hinzu.“ Nachdem der Gefangene den Tee bereitet und ihn mehrfach gekostet hatte, zeigte sich keinerlei Zufriedenheit in seinem Gesicht. Das Getränk war fertig, doch er reichte es niemandem. Der Qaid wurde des Wartens müde und fragte den Teebereiter: „Worauf wartest du? Schenk uns den Tee ein!“ Der Teebereiter antwortete: „Der Tee ist im Innersten verwundet; er darf euch, Herr, nicht vorgesetzt werden.“ Da sagte der Qaid: „Geht mit eurem Bruder; ich habe ihm verziehen.“

Tee, Zucker und die Poetik der marokkanischen Identität

Einige europäische Reisende, die Fès in der Mitte des 19. Jahrhunderts besuchten, berichteten von Läden, in denen Tee und Zucker auch im großen Handelskomplex der Qissariya verkauft wurden. Doch der eigentliche Ort des Großhandels blieb der Suq as-Sagha: Dort wurden Tee und Zucker in großen Holzkisten feilgeboten, importiert über verschiedene Zwischenstationen zwischen Marokko und China - vor allem aus Großbritannien, das damals noch Kolonien in Asien besaß, wie Hongkong, oder über Indien, wo der Tee-Anbau eigens eingeführt worden war, um die chinesische Vorherrschaft zu brechen.

Suq as-Sagha war damit weit mehr als ein Ort des Handels. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Tees in allen Schichten der marokkanischen Gesellschaft und belebte zugleich eine Vielzahl von Handwerken, die mit dem Teegenuss verbunden waren - die Herstellung von Teekannen und Silber-Tabletts, von Behältern von Zucker und Minze, Gläsern, Samowaren, gestickten Abdeckungen und Griffverzierungen sowie das Handwerk der Kaffee- und die Tätigkeit des Cafébetreibers al-Qahwaiji.

Suq as-Sagha wurde zur Pilgerstätte für Händler, die Tee und Zucker im Einzelhandel in allen Vierteln von Fès und Umgebung vertrieben. Aufgrund des stetig wachsenden Konsums nach der Unabhängigkeit gründete die marokkanische Regierung 1958 - zwei Jahre nach Erlangung der Souveränität - unter der Regierung von Abdullah Ibrahim die Tee-Anstalt, die eine Reihe bekannter Teemarken schuf. Diese kamen in Papierverpackungen unterschiedlicher Qualität auf den Markt kamen, wie al-Koutoubia, as-Scha‘ra, al-Qafila, Ṣsauma-at Hassan, al-Manara und as-Sulṭan - alles Marken, die vom Nationalen Amt für Tee und Zucker vertrieben wurden.

Heute, auch wenn aus dem Suq as-Sagha die Goldschmiedekunst, der Tee- und Zuckerhandel und selbst der exklusive Couscous-Markt verschwunden sind, bleibt er doch ein pulsierendes Zentrum der alten Medina - ein Kreuzungspunkt, von dem die Wege zu Märkten mit unzähligen, vielfältigen Waren führen, und ein lebendiges Zeugnis der Geschichte von Fès.