Die Pfade des "Mellah" und die historischen Rätsel
Bis Ende der 1960er Jahre glich der Gang durch Mellah (Siehe das YouTube-Video von Jawla Vlog) einer Durchquerung eines geheimnisvollen Tunnels, eingetaucht in Fremdartigkeit, begleitet von Respekt und großen Erwartungen. Eine Welt voller Geheimnisse, in sich verschlossen und mit wagen Vorstellungen verbunden.
Die Hüterin des MellahBis zum Ende der Achtzigerjahre, wenn du Mellah von der Seite des des Semmarin-Tor*3 betratst, trafst du an der rechten Ecke hinter dem Eingang die treue Hüterin ihres Erbes, Sulaika. Sie saß wie ein lebendes Denkmal, unbeeindruckt von den kulturellen Umwälzungen und den Verlockungen der Zukunft. Sulaika besaß einen Laden, in dem sie Eisenwaren wie Nägel, Ketten, Zangen etc. verkaufte. Groß gewachsen, weit über vierzig Jahre alt, hatte sie doch ein Großteil ihrer Schönheit verlassen, ihre Muskeln waren aber immer noch gut entwickelt, bestimmt wegen ihrer Arbeit mit Eisenwaren. Sie saß immer draußen vor ihrem Laden in leichter Kleidung, ein Bein über das andere geschlagen, mit einem kurzen Rock, der ihre langen Beine bis zum Oberschenkel freilegte. Sie rauchte Zigaretten und sprach immer in einer Mischung aus Arabisch und Französisch mit einem starken Fassi jüdischen Akzent. Um sie herum waren ihre Handelsnachbarn und Bewunderer, deren Blicke tiefes Verlangen nach dieser erfahrenen Frau ausdrückten. Sie war marokkanisch in ihrer Tiefe, jüdisch von Geburt und blieb die einzige Jüdin, die an ihrem Laden und am Mellah festhielt, als andere Juden nach dem Bau der modernen französischen Stadt Fès, den Mellah verließen. |
Doch diese Welt der Widersprüche war je nach Blickwinkel gleichzeitig verschlossen und offen. Hier verschmolzen Heimlichkeit und Öffentlichkeit, rätselhafte Beschreibungen und Urteile, gehüllt in Schleier, wie ein Durchreisender in einem Geheimversteck oder ein magischer Krug, in dem man verloren geht und außerhalb davon wieder geboren wird.
Als Kinder stellten wir uns "Mellah" als eine Welt voller Magie und großen Zauberern vor, eine Welt von ewigem Fluch, Sünde, in der Gassen und Pfade mit dem Duft von "Mahya", dem Wasser des Lebens, und den Gedichten der Initiation*1 gefüllt waren. Eine Welt, die mit Phantasie und Legenden, Reichtum und Macht, doppelten Gefühlen von Liebe und Hass schwang. Mit diesen Vorstellungen sind wir aufgewachsen, begleiteten uns durch die Jahrzehnte, und wurden von Volksweisheiten und Sprichwörtern umgeben, die um diese Welt und ihre Bewohner kreisten:
Die Erinnerungen an die jahrzehntelange Begegnung mit den Juden in Fès sind reich an Volkssprüchen und überlieferten Aussagen über sie und ihre Umgebung, sei es als sie mit Muslimen in der Altstadt lebten oder nach ihrem Umzug in ihrem eigenen Viertel, Mellah. Ebenso gibt es Dutzende von Volkssprüchen und Aussagen der Juden über die Muslime.
Man kann nicht über Fès-Jdid*2, das „neue Fès“, sprechen, ohne über Mellah zu sprechen. Sein Betreten war mit Regeln verbunden, die von dem, was man über Mellah an Aberglauben und Teufelei hörte, vorausgingen. Dahinter suchten diejenigen, die nach uneingeschränktem Vergnügen Ausschau hielten, die Welten der Magie und Zauberer auf, die von überall herkamen, um Heilung von einer Krankheit zu suchen oder eine Lösung für ein Problem durch Amulette und Zauberformeln zu finden. Die im Koran beschriebenen Szenen der Duelle zwischen Moses und den Magiern des Pharaos waren hier allgegenwärtig.
Die Wege des Mellah erschienen größtenteils dunkel, voller Rätsel und geheimer Geschichten. Sie waren von dicken, schattigen Mauern umgeben, versteckt in der Dunkelheit und verborgen hinter schwachem Licht. Der Zugang zum Mellah für diejenigen, die aus der Altstadt kamen, erfolgte entweder über Fès-Jdid oder über die Straße, die zwischen den Mauern der Mellah-Häuser verlief.
Man wird beim Betreten des östlichen Zugangs zum Mellah von den weiten Balkonen der Häuser überrascht, die sich auf beiden Seiten der Straße erstrecken, die heute zwischen Mellah und Fès-Jdid“, genannt "Boulkhsissat", liegt. Es öffnet sich zum äußeren Raum dieser Straße, wo die jüdischen Frauen in der Vergangenheit mit offenem Gesicht standen und Wäsche aufhängten, sich unterhielten oder ihre Hausarbeiten mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit erledigten. Dieser Lebensstil und Alltagsverhalten waren den Frauen in den Häusern und Wohnungen der Altstadt (Medina) völlig unbekannt.
Siehe hierzu die Bildergalerie von Eberhard Hahne zum Thema "Mellah, das jüdische Viertel von Fes"
Bilder von der Restaurierung von Boulkhsissat