Marrakesch, einzigartige Melodien der Sehnsüchte und Hoffnungen - Nun fahre ich wieder nach Marrakesch
Ich denke, ich fahre wieder zu mir selbst hin, zu meiner Seele, zu meinem Herzen - beide Fahrten sind wohl noch nicht abgeschlossen. Und nun gilt es, die Zeichen auf der nächsten Reise zu erkennen und diese wie in einem großen Puzzle zusammenzusetzen.
Die Zeichen werden immer stärker. Noch vor einigen Tagen hatte ich wieder so ein Erlebnis.
Eine 63-jährige Patientin mit einer schweren und sehr seltenen Krebserkrankung kam zu mir in die Kliniksprechstunde. Sie wurde von Ihrem Mann begleitet, der ebenfalls Arzt war. Beide waren guter Dinge, und die Patientin, aber auch der Ehemann, waren sehr stolz darauf, mir sagen zu können, wie gut sie sich fühlte und wie aktiv sie wieder war, und das nach der letzten Chemotherapie vor gerade zwei Monaten. Leider musste ich ihr mitteilen, dass der Tumor wiedergekommen war und erneut klar sein musste, dass die Krebserkrankung sie nie wieder verlassen und sie daran sterben würde. Eine Behandlung war möglich, würde aber diese Gegebenheiten nicht entscheidend verändern können. Normalerweise antworten die Frauen und ihre Partner in dieser Situation, dass sie umgehend eine neue Behandlung beginnen wollen, und das trotz der "Unheilbarkeit". Diese Patientin bat aber, erst in Urlaub fahren zu können. Ich antwortete ihr, dass dies aus meiner Sicht absolut möglich wäre und die Prognose sicher nicht negativ beeinflussen würde. Wir verabredeten uns für nach dem Urlaub zur Festlegung der weiteren Behandlung. An der bereits geöffneten Tür fragte ich sie, wohin sie fahren wollte. Sie schaute ihren Mann kurz an, als ob sie ihm ein Geheimnis beichten müsste: "Das wissen wir noch nicht, aber ich würde so gerne nach Marrakesch fahren." Ich sagte zu ihrem Mann, dass er ihr das doch bitte ermöglichen solle. Große Tränen sammelten sich in den Augen der Patientin, aber irgendwie wirkte sie befreit.
Vor Kurzem traf ich sie wieder und fragte sie, wie es in Marrakesch gewesen sei. Ich war so traurig – sie war nicht nach Marrakesch gefahren, die 40 Grad waren ihr im Sommer zu heiß. Sie waren in Wien gewesen. Sie merkte mir meine Enttäuschung an. "Ich verspreche Ihnen, ich fahre Ostern hin", sagte sie zu mir.
Ich antwortete, dass sie das Versprechen nicht mir, sondern sich selbst geben sollte. Sie erzählte weiter, dass sie aber inzwischen noch mehr über Marrakesch und Marokko gelesen habe und dass ihre Sehnsucht dorthin noch stärker geworden sei. Ich freute mich sehr – sie war ja doch nach Marrakesch gereist, denn eine Reise beginnt nicht mit der körperlichen Präsenz eines Menschen an einem Ort oder bei einem Menschen, sondern mit dem ersten Gedanken, dem ersten Gefühl und mit dem ersten Kraftakt zu seinem Ziel. Sie las die Bücher und träumte von Marrakesch und machte damit die ersten und vielleicht wichtigsten Schritte ihrer Reise.
Wie sagt doch Mahi Binebine in seiner Geschichte "Hinter den Mauern von Marrakesch": "Ja, so ist Marrakesch nun mal, mein Herz. Eine alte Hexe, deren Seele sich mit den Zeitläufen wandelt. Weltoffen und doch verschlossen, betörend und beängstigend zugleich. Eine Stadt wie diese gibt es kein zweites Mal.“
Tage später erinnerte ich mich an eine Begebenheit von vor etwa 15 Jahren. Eine Psychologin, die an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung litt, hatte trotz aktueller Fieberschübe und Fortschreiten der Erkrankung den Wunsch, nach Marrakesch zu reisen. Dass sie bald sterben würde, war ihr bewusst. Dennoch wollte sie sich den Wunsch, den sie schon lange in sich trug, endlich verwirklichen. Medizinische Gründe sprachen gegen die Reise; ihre Sehnsucht nach Marrakesch überzeugte mich aber davon, dass ihre Entscheidung für diese wahrscheinlich letzte Reise richtig war. Ich packte ihr einen Koffer mit Medikamenten zusammen, und sie fuhr in das Abenteuer, vor dessen Ausgang sie keine Angst hatte. Ich wusste nicht, ob sie wiederkommen würde. Etwa zwei Wochen später brachte sie mir eine große Tüte mit großen, sehr schmackhaften Datteln aus Marrakesch.
In Marrakesch findet man alle 38 Dattelsorten, von der schwarzbraunen Aywa über die rötliche Khenaizy bis zur gelben Rushodia und der klassisch braunen Wannana. Sie hatte es vollbracht. Wenige Tage später starb sie auf unserer Krankenstation. Wer weiß, wie lange sie sich hätte quälen müssen, wenn sie nicht nach Marrakesch gefahren wäre. Marrakesch half ihr loszulassen, Marrakesch half ihr Abschied zu nehmen. Auch sie musste erst nach Marrakesch, um ihren Frieden zu finden. Sie musste sich erst von Marrakesch verabschieden, erst dann konnte sie Abschied von ihrem eigenen Herzen nehmen.