Zimt auf deiner Haut
Die Stille war berauschend. Karima war fast alleine im Dom und stand vor dem Hochaltar, ihr Diplom des Instituts für Geologie der Universität zu Köln in der Hand. Sie floh vor dem Rummel der Entlassungsfeier. Sie suchte die Ruhe, denn sie musste nachdenken.
Leseprobe
Die Handlung und die Namen der Personen sind zum Teil frei erfunden. Der Inhalt ist angelehnt an eine Erfahrung des Autors in einem anderen Land.
Kapitel 1 und 2: KARIMA
Die Stille war berauschend. Karima war fast alleine im Dom und stand vor dem Hochaltar, ihr Diplom des Instituts für Geologie der Universität zu Köln in der Hand. Sie floh vor dem Rummel der Entlassungsfeier. Sie suchte die Ruhe, denn sie musste nachdenken. Ihre Gedanken wirbelten nur so herum, Bilder ihrer Jugend und ihres Zuhauses in Marrakesch mischten sich mit dem Erlebten während ihrer Studienzeit in Deutschland. Karima stellte schnell fest, dass sie wohl zu sehr vom erfolgreichen Abschluss ergriffen sei, um mit Besonnenheit Gedanken zu fassen und insbesondere wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen.
Den Rummel um das Bestehen und die Entlassungsfeier wollte sie aber umgehen. Ihre Eltern drängten sie, nach dem erfolgreichen Studium erst einmal eine Pause einzulegen und einige Zeit zu Hause zu verbringen. Sie sollte zunächst ausspannen. Auch von Marokko aus könnte sie per Internet auf Jobsuche gehen und ihre Bewerbungen per E-Mail versenden.
Karima eilte zu einem Reisebüro und buchte den nächstmöglichen Billigflug nach Marrakesch. Sie hatte noch einige Tage, um alle behördlichen Formalitäten zu erledigen, einen Nachmieter für ihr möbliertes Zimmer zu finden und insbesondere Abschied von Silvia zu nehmen. Beide hatten sich zu Beginn des Studiums kennen gelernt und angefreundet. Silvia war fasziniert von ihrer Freundin Karima und rühmte sich, eine nur in Marokko aufgewachsene und fließend Arabisch sprechende deutsche
Freundin mit arabischem Vornamen zu haben. Karimas Eltern hatten als erste deutsche Unternehmer aus der Textil- und Lederbranche in Marrakesch Fuß gefasst. Sie achteten darauf, dass ihre kurze Zeit nach Fertigstellung und Inbetriebnahme aller Produktionshallen geborene Tochter zwar eine europäische Erziehung erhielt, aber auch die arabische Sprache erlernte und pflegte. Karima war ein Einzelkind, von ihrer Mutter wohl umsorgt. Die deutsche Kultur war ihr nicht fremd, verbrachte sie doch die langen Sommerferien stets bei ihren intellektuellen Großeltern in Deutschland. Mit 17 machte sie ihr Abitur am französischen Gymnasium in Marrakesch. Mit 17 begann sie ihr Studium in Köln.
Karima schlief sehr lange aus. Die ganze Nacht hatte sie mit ihren Eltern über den nun abgeschlossenen Lebensabschnitt gesprochen, von ihren zahlreichen Erkenntnissen und Erlebnissen erzählt. Immer wieder umarmte sie ihre Mutter und ihren Vater, glücklich doch wieder zu Hause zu sein. Sie hörte aber auch ihren Eltern aufmerksam zu, als diese über das heutige Leben in Marrakesch und in Marokko berichteten. So habe sich vieles in den paar Jahren ihrer Abwesenheit verändert, ob nun die Menschen oder der Lebensablauf als solcher. Vieles sei nicht mehr ganz so einfach wie früher und man müsse aufpassen, was man wem sage. Der politische Boden sei wegen der religiös-radikalen Auswüchse unruhiger geworden, die „kleine“ Wirtschaft leide unter den Globalisierungsfolgen. Viele neue Ansprüche insbesondere der dominierenden und bestimmenden Arrivierten seien der Grund, alte und gut bewährte Rechte abzuschaffen. Die Kapitalinvestitionen seien stark zurückgegangen.
Nach dem Duschen betrachtete sich Karima vor dem Spiegel, der eine ganze Wand des Badezimmers einnahm. Sie war mit sich und ihren 175 cm sehr zufrieden. Ihre langen dunkelblonden Haare und ihre schmale Silhouette rundeten das Gesamtbild einer attraktiven jungen Frau mit bildhübschem Gesicht ab.
Am Abend fuhr sie mit ihrer Mutter Lebensmittel einkaufen. Es sollte auch noch ein kurzer Abstecher zum Platz Djemâa el Fna, dem Platz der Gehenkten, werden, denn Karima vermisste die unvergesslichen Bilder der Geschichtenerzähler, der vielen Schlangenbeschwörer, Wasserverkäufer und jugendlichen Akrobaten.
Während der Rückfahrt war Karima still, sehr still. Ihre Mutter sah sie von der Seite diskret an und bemerkte, wie angestrengt Karima in Gedanken war. Irgendetwas muss sie sehr berührt haben. Jetzt bei der Autofahrt wollte sie sie nicht fragen. Bei der gemeinsamen Vorbereitung des Abendessens würde sich sicherlich eine passende Gelegenheit geben.
»Liebling, was war mit dir vorhin auf dem Platz und bei der Rückfahrt los? Du warst so still.«
»Ich weiß es nicht, Mama! Die Atmosphäre war so bedrückend und die Menschen auf dem Platz scheinen, ja wie soll ich es sagen, mir fällt kein besseres Wort als Nonchalance ein, ihre Nonchalance verloren zu haben. In den Gesichtern war kein Leben, keine Zufriedenheit zu sehen. Wenn sich die Leute unbeobachtet fühlten und offenbar sinnierten, sahen ihre Gesichter wie versteinert aus.«
Auch beim Abendessen waren Karimas Eindrücke das Gesprächsthema. Ihr Vater pflichtete ihr im Grundsatz bei und meinte die Ursachen ihrer Feststellungen seien darin zu sehen, dass in den letzten Jahren auch in Marokko das Leben teuer, sehr teuer geworden sei. Die Preise seien erheblich gestiegen, die Modernisierung und Industrialisierung seien insbesondere für die Landbevölkerung zu schnell vorangegangen und letztlich habe die äußerst starke Intensivierung des Islamglaubens zur Nachdenklichkeit der Bevölkerung beigetragen. Das Einkommen eines Tagelöhners oder einfachen Marktverkäufers könne heute keine Familie mehr ernähren und zugleich medizinisch versorgen, geschweige denn Rücklagen für das Alter bilden.
Noch lange unterhielten sie sich, insbesondere über die Reichen, die Mittelschicht, die Armen in Marokko und über die sich stets weiter öffnende Schere zwischen sehr Reich und sehr Arm auf allen Kontinenten, die Auseinandersetzungen der Menschen mit den ungerechten Auswirkungen der Globalisierung, die spürbaren Klimaturbulenzen, die Kriege und die Glaubensfeldzüge einiger nicht weniger Fanatiker, ihr Gesprächsstoff war unendlich in dieser Nacht.
Am nächsten Morgen plagte sich Karima mit Kopf- und Bauchschmerzen. Ob nun die zum Teil kontrovers geführten Diskussionen oder der Rotwein hierfür verantwortlich waren, sie nahm sich vor, den Tag nicht so enden zu lassen, wie er sich anschickte zu beginnen. Sie stand stöhnend auf, musste über sich lachen und begab sich ins Bad. Nach einem spartanischen Frühstück mit ihrer Mutter, ihr Vater war bereits unterwegs, entschied sie sich, einen ausgiebigen Sparziergang zu unternehmen. Die Schale mit Café au Lait und die zwei Croissants waren schnell vertilgt, Laufschuhe, enge Jeans und eine Bluse schnell angezogen.
Karima ging durch die Straßen, nichts war ihr neu. Vom Villenviertel erreichte sie nach gut zwei Stunden die Altstadt. Auch hier erkannte sie alle Gassen wieder, die Geschäfte, in denen sie mit ihren Eltern eingekauft hatte, und einige wenige Geschäftsinhaber und Verkäufer, die sie herzlich begrüßten. Schnell zog sie den Vergleich mit Deutschland: Frauen waren als Dienstleisterinnen in der Öffentlichkeit nicht zu sehen. Dies war bei den Muslimen verpönt. Und die Männer schienen nicht sich zu schämen. In einem Straßencafé trank sie einen Pfefferminztee. Die Geister kehrten langsam wieder zurück, die Kopfschmerzen hatten sich fast aufgelöst. Nur der Bauch meldete sich noch ab und zu energisch. Karima bezahlte und freute sich, dass die ersten Gespräche mit den Einheimischen ihr wieder das Selbstvertrauen gaben, das sie vor ihrer Abreise nach Deutschland so stark machte. Ihr Arabisch hatte durch die vierjährige Abwesenheit nicht gelitten. Die Überraschung der Araber, eine dunkelblonde junge Frau mit blauen Augen, Arabisch sprechend wie sie selbst, zu sehen und zu hören, törnte sie an. Sie wäre eine von ihnen gewesen, würde man vom Äußeren absehen.
Sie schlenderte noch eine ganze Weile durch die Gassen des Souks, als sie auf einen Hammam zuging, vor dem eine alte Marokkanerin dösend hockte. Es war ein Hammam nur für Frauen. Nie hatte Karima zuvor einen Hammam betreten, sie wusste nur, dass es sich um eine Art Dampfbad handelt, in dem sich Frauen der eigenen Körperpflege widmeten. Die alte Marokkanerin wachte aus ihrem Halbschlaf auf und winkte ihr zu.
»Komm, mein Kind, komm! Hier gehst du rein und kommst noch viel schöner raus. Komm, mein Kind, komm herein«, krächzte die Alte und fiel sofort wieder in ihren Halbschlaf.
Karima ging hinein und wurde gleich von einer jungen Marokkanerin im weißen Kittel empfangen. Diese gab ihr ein langes Handtuch und führte sie in eine Umkleidekabine. Sie sollte sich ganz ausziehen, das Handtuch um ihren Körper wickeln und in den nächsten Raum gehen. Karima war erstaunt über den großen Raum aus Marmor und buntem Granit, von dem kleine Nischen ausgingen. Ein Wohlbehagen überkam sie, die Ruhe krönte die von den Parfümen der Öle ausgehende sinnliche Stimmung.
Sie wurde von einem jungen, nur mit einem Lendenschurz bekleideten Mädchen gefragt, ob sie denn mit dem Kiss oder mit Sisal abgerieben werden wollte. Das junge Mädchen zeigte ihr dabei den Kiss, diesen rauen Handschuh, von dem sie schon gehört hatte. Sie entschied sich für den Kiss, und das junge Mädchen nahm ihr das Handtuch ab. Das sehr diskrete, aber dennoch hörbare Lächeln ließ Karima aufhorchen, und sie sah, wie das junge Mädchen sich die Hand vor den Mund und die andere Hand vor die Augen hielt, als dürfte sie nichts sagen und nichts sehen.
»Was ist los und wie heißt du?«, fragte Karima.
»Du sprichst Arabisch, als ob du eine von uns bist. Aber du, mit deinen blonden Haaren und blauen Augen und deiner hellen Haut, du bist keine von uns! Ich heiße Zaïda und bin eine Marokkanerin.«
»Ich bin keine von euch? Was soll das heißen? Wie meinst du das?«, fragte Karima ein wenig genervt. Karimas innere Ruhe drohte in Unruhe umzuschwappen.
»Kennst du denn die Fitra nicht, obwohl du fließend Arabisch sprichst?«, fragte die junge Marokkanerin verwundert.
»Nein, was ist das denn und warum siehst du mich so an?«, antwortete Karima neugierig fragend.
»Das sind die Inhalte der gottgewollten Veränderungen am Körper eines Mannes und einer Frau. Wir Muslime müssen uns streng nach den Reinlichkeitsregeln des Islam regelmäßig enthaaren, die Frauen immer nach der Menstruation. Nur die Kopfhaare dürfen bleiben. Alles andere muss rasiert werden. Das ist aber auch hygienischer, gerade auch bei den heißen Temperaturen draußen. Du bist aber nicht rasiert. Das geht hier nicht!«
Karima wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte. Es kamen zwei weitere Marokkanerinnen rein, die sich gleich duschten. Karima sah, dass beide offenbar die Fitra umgesetzt hatten. Was sollte es? Warum nicht? Das Argument mit der Hitze und Hygiene ist sicherlich richtig, dachte sie und willigte ein.
Zaïda ging sehr behutsam und langsam vor, und Karima spürte ein leichtes inneres Vibrieren. Sodann wurde sie vom Kopf an beginnend am ganzen Körper eingeölt. Das junge Mädchen goss ihr Öl über die Stirn und Haare und massierte lange das Gesicht und die Kopfhaut. Karima entspannte total und genoss mit geschlossenen Augen die kreisenden, in Öl gebadeten Hände auf ihrer Haut. Zaïda massierte eher streichelnd und begoss sie immer wieder mit verschieden duftenden Ölen. Die doch hartnäckigen Bauchschmerzen wandelten sich schnell in Glücksgefühle, und diese lähmten ihre Ansätze, sich irgendwie der flinken Hände ihrer Masseurin wehren zu wollen. Nach ein paar Minuten Ruhezeit rieb Zaïda sie mit dem Kiss ab, bevor sie mit ihr ins Dampfbad ging. Dort unterhielten sie sich über das Schminken und über Henna als Haarfärbemittel, das den Haaren einen schönen, seichten rötlichen Schimmer gibt. Nach einer ausgiebigen Dusche verteilte Zaïda streichelnd Arganöl und Zimtpuder über ihren ganzen Körper.
»Zimt auf deiner Haut. Das ist gut und verzückt den Mann, der deinen Körper riecht.«, betonte Zaïda mit einem verschmitzten Lächeln.
Sie verließ den Hammam nachdenklich. Sie hatte dort nicht nur Befriedigung und Ausgleich gefunden. Dieses Hammam-Erlebnis hatte sie irgendwie von all den angestauten Verspannungen erlöst. In Deutschland hatte sie nur zwei Freunde gehabt, die aber wie sie noch sehr unerfahren in der Liebeskunst und der Verteilung von Zärtlichkeit waren. Oft wurde sie zu Partys oder anderen gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen, rühmten sich doch einige Gastgeber, eine junge hübsche Deutsche zu kennen, die in Marokko groß geworden ist und fließend Arabisch spricht. Sie ließ aber stets alle Annäherungsversuche abblitzen, hatte sie doch zu der Zeit einen Freund oder eben keine Lust, eine kurze Bekanntschaft mit beabsichtigten Weiterungen einzugehen. Seitdem sie wieder in Marrakesch war, hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, einen netten jungen Mann kennen zu lernen, und so entschied sie sich, solange dieser Zustand anhielt, ein- bis zweimal die Woche die junge Marokkanerin Zaïda im Hammam aufzusuchen.
Auf dem Rückweg kehrte sie noch in ein Teehaus ein und trank eine ganze Flasche Mineralwasser. Dort hatte man ihr zunächst keine Beachtung geschenkt und sie nicht bedient. Kaum hatte sie auf Arabisch dem jungen Kellner hinter der Theke klargemacht, dass er sich mit dem Servieren beeilen solle, wurde sie vom Inhaber selbst bedient. Auf seine neugierige Frage, woher sie denn komme, sagte sie ganz frech, dass es sicherlich vom Himmel sei. Und sie hatte Ruhe!