Karan und Bardeh! Oujda, ich komme - Lange Rückreise nach Marrakesch
Lange Rückreise nach Marrakesch
Im Sommer 1994 fand mein letzter Besuch in Algerien bzw. meine Durchreise durch Oujda statt. Das lag daran, dass die Grenzen einige Wochen danach geschlossen wurden. Ich hatte damals mein ganzes Geld für das Reisen im Osten und in den verschiedenen Städten Algeriens ausgegeben. Am Bahnhof in Oujda wurde mir meine Lage erst bewusst. Außer der Fahrkarte hatte ich nur noch ein paar Dirhams. Und vor mir lag eine lange Rückreise nach Marrakesch. Für die 660 Km brauchte der Zug bei seinen unzähligen Haltestationen eine Ewigkeit. […] So beschloss ich so viel "Karan und kalt" zu essen, wie ich mir noch leisten konnte. … Der Straßenverkäufer am Bahnhof wird sich damals nicht wenig gewundert haben! Ich stieg mit vollem Bauch in den Zug und bewahrte während der gesamten Zeit Ruhe, um kein Hungergefühl aufkommen zu lassen [...]
Anfang der neunziger Jahre war Algerien mein favorisiertes Ziel für die Sommerferien. Meine erste Reise trat ich 1991 an. In Marokko war ich noch unbekannt. Im selben Jahr gewann ich in Algerien einen Preis für meine Gedichte Diese Auszeichnung machte mich dort bekannt, lange Zeit bevor man von mir in Marokko hörte.
In den Jahren, in denen ich Algerien bereiste und die Hauptstadt besuchte, stieg ich in den verschiedensten Hotels ab. Manchmal zog ich bei Taher Wattar im Stadtviertel Hydra ein, und begleitete ihn zum Meer zu der Stelle, wo er sich dem Schreiben oder dem Fischfang widmete. Ich war auch häufig bei Bouzid Harzullah in Daly Ibrahim, der mir erzählte, dass der in der Zwischenzeit verstorbene Taher Wattar und Gründer des Vereins "Al-Jahida" in Algerien, der mir die Auszeichnung verlieh, in seinen Treffen mit Abdel-Hamid Aqar, Najeeb Al-Awfi, seinen marokkanischen Freunden und anderen stets sagte "Yassin Adnan gehört auch zu uns"
Zu Beginn des „dunklen“ Jahrzehnts in Algerien, Anfang der neunziger Jahre, war ich Student an der Fakultät für Literatur und Philosophie in Marrakesch. Zu dieser Zeit begann auch meine journalistische Karriere, mehr in Algerien, da ich meine Artikel an die Zeitungen „Al Salam“ (Frieden) und „Al Schuruk“ (Sonnenaufgang) schickte. Mein Ziel war es immer, die marokkanische Literatur und Kunst den Lesern in Algerien zu vermitteln.
Zu der Zeit war der algerische Dinar sehr wenig wert. Ich bat daher beide Zeitungen, mein Honorar in Algerien für mich aufzubewahren. Das Geld brauchte ich dann, wenn ich da war, um mit Freunden an Poesiefestivals und ähnlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Ich bereiste das Land immer wieder kreuz und quer. Ich war sozusagen der stets verfügbare marokkanische Freund!
In dem besagten Jahr 1994 war ich mit dem Dichter Bouzid Harzallah in seinem Auto auf dem Weg von Oran nach Algier. Wir waren zu Besuch bei unserem lieben Freund Bakhti Ben Odeh. Kurz vor der Hauptstadt gerieten sind wir in eine Straßensperre geraten. Es war eine Falle. Es waren vier bewaffnete Terroristen. Sie trugen Turnschuhe, Jeans und Militärjacken, wie es sie die in Marokko in Second-Hand-Shops zu kaufen gab... Sie hielten uns an und fragen uns nach unseren Ausweisen. Ich zeigte einem von ihnen meinen marokkanischen Pass. Er überprüfte ihn und sagte freundlich: „Marroki, Bruder“ Ich antwortete mit schwacher Stimme: „Ja“. Er schaute die anderen an und drehte sich zu mir, um mir zu sagen: „das sind die liebsten und gütigsten Menschen, die ich kenne … Fahrt bitte in Frieden weiter“
Bouzid Harzallah konnte kaum glauben, was gerade passiert war, zumal dies die Zeit war, in der viele Schriftsteller und Journalisten ermordet wurden. [...] Ich war mir damals sicher, dass alle Algerier, auch die Schurken unter ihnen, besondere Gefühle für die Menschen in Marokko hegten.
Einige Wochen nach meiner letzten Durchreise durch Oujda, auf dem Wege nach Marrakesch, ereignete sich der bekannte Terroranschlag im Café Atlas Asni, am Jamaa Elfna. Sofort wurden die Landesgrenzen geschlossen. Einige Monate später wurde mein Freund Bakhti ben Odeh mit neun Schüssen ermordet. Auch sämtliche Beziehungen beider Staaten brachen ab: Eine Tragik ohne Gleichen.
Wie kann man Oujda besuchen, ohne dass man Algerien besucht? Wie gewohnt ging ich zum Bahnhof, angetrieben von der Nostalgie. Die Bahnhöfe in Marokko sind ausnahmslos modernisiert worden, zum Glück aber nicht der Bahnhof von Oujda. Er ist immer noch so, wie er immer war. Man baut wohl an anderer Stelle einen größeren und moderneren Bahnhof. Dieser hier ist nur ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt.
Ich stellte mich vor eines der alten Kolonialgebäude, zog mein Smartphone und schoss einige Fotos. Plötzlich hielt mich ein Polizist an, der in Begleitung von einer kleinen winkenden Person war. Ich war gut gelaunt und ging ihnen frohen Mutes entgegen: "Was ist los?" sagte ich. Der Polizist schaute mich an und sagte „Du hast Fotos gemacht?" und fügte hinzu: "Haben Sie eine Lizenz?" Ich erwiderte: "Ich habe ein Telefon und ich denke, es reicht aus." Sichtlich verdutzt sagte: "Dann komm mit uns zum Bahnhof. Der Bahnhofsverantwortliche hat Dich nun beim Fotografieren erwischt. Das Fotografieren und Filmen ist, wie du weißt, strengstens verboten." Ich kam aus dem Staunen nicht raus. Wieso soll in Oujda das Fotografiren verboten sein?!!l Eine Erklärung gab es wohl nicht. […]
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