Karan und Bardeh! Oujda, ich komme
Ich bin heute Morgen in Oujda angekommen und bekam bei meiner Ankunft das Gefühl, die Stadt zum ersten Mal zu besuchen. Meine erste Nacht verbrachte ich im Ibis-Hotel mit dem Namenszusatz „Hotel des Reisenden". Das ist genau das Hotel, das meine Anforderungen erfüllt, nicht zuletzt, da es direkt am Bahnhof liegt, der Bahnhof, von dem ich im Sommer 1994 den Zug nach Marrakesch nahm. An diesem Bahnhof stieg ich immer um auf meinen Weg nach oder aus Algerien.
Noch heute bietet Oujda mit der Buchmesse „Der Maghreb für Verlagswesen und Bücher“ allen teilnehmenden Schriftstellern eine Art „Zwischenstation“ auf ihrem Weg nach Algerien oder Tunesien (bzw. den Maghrebstaaten). Deshalb fand ich damals in Oujda stets etwas von der Seele Algeriens, wobei ich sagen muss, dass die Stadt nicht so schön und sauber war, wie sie heute ist.
Der Melilla-Markt war voller Algerier, die Landesgrenzen waren offen und die Gasthäuser voll von unseren Brüdern aus dem algerischen Westen, die denselben Dialekt sprechen. Einen Wajdi (aus Oujda) wird man von einem Al-Wahrani (aus Oran) daher kaum unterscheiden können.
Ich begnügte mich mit einem kleinen Spaziergang in der Nähe des Bahnhofs und dem Schlendern über den Melilla-Markt, um anschließend über die marokkanisch-algerische Grenze nach Maghnia und von da aus weiter nach Oran zu reisen.
Oujda war in meiner Erinnerung eine Mischung aus Hitze und Staub, Hitze des Augustes und Staub des Melilla-Marktes.
Als ich gestern durch die Stadt wanderte, wunderte ich mich über die Veränderungen. Es ist nun eine saubere, gut strukturierte Stadt, mit breiten, gepflasterten Straßen und vielen grünen Bäumen. … Um das schöne Wetter auszunutzen, ging ich auf Erkundungstour quer durch die Stadt.
Ich fragte nach dem Melillia-Markt. Man sagte mir, ich solle die Marrakesch-Straße nehmen, die eigentlich eher einem Einkaufzentrum als Straße ähnelt. Es ist ein Markt, der sich in die Länge zieht mit einer unüberschaubaren Menge an ausgestellten Waren. Man sieht überall Kunden, Besucher und Menschen, die nur zum Bummeln diesen Ort aufsuchen. Man gelangt von hier aus auf weitere moderne Märkte, wie Al-Quds-Markt, Al-Falah-Markt, den Tanger-Markt, Bab Sidi Abdel Wahab-Markt und den Melilla-Markt.
Ich erinnerte mich an den alten „Souk“ und ging voller Erwartung darauf zu, um festzustellen, dass nun eine Reihe Hochhäuser dort steht. Es hat sich doch viel mehr verändert, als ich dachte. …
Ich ging in den zweiten Stock eines der Supermärkte, um mich etwas zu erholen. Als ich auf die Straße schaute, entdeckte ich einen Platz, ähnlich dem Platz Djamaa Elfna in Marrakesch mit einem Märchenerzähler, der scheinbar einiges zu berichten hatte und einer anscheinend in der Region sehr bekannten Gruppe "Al-Shuyoukh", die Lieder aus alten Zeiten sang. Im Übrigen auch die Musikrichtung Rai entstand aus diesen ausgewogenen Texten und Melodien. [...]
Die Menschen im Osten sind bescheiden. Ihre Einfachheit wird durch ihre Lebensweise sichtbar. Sie sind keine Angeber und stellen ihr Schaffen nicht offensichtlich zur Schau. Hier ist es angenehm anders. Man redet leiser und bedächtiger. […]
Ich erinnere mich an einen Schüler, der Mitte des Schuljahres aus Oujda zu uns kam und sich in Marrakesch in unsere Mittelschulklasse aufgenommen wurde. Er war sehr zurückhaltend und still. Wenn wir ihr ansprachen, antwortete er uns stets mit dem Wort "Wah“, was so viel bedeutet wie „Ja" Und wir „freche Jungs“ hatten nichts Besseres zu tun, als ihn immer wieder mit „Wah Wah“ anzustacheln, bis er eines Tages uns keines Blickes mehr würdigte und nur noch schwieg.
Wie ich damals die Welt wahrnahm, wurde mir langsam bewusst. Vertieft in meinen Gedanken, fiel mir plötzlich "Karan und kalt" ein, eine Art Mahlzeit für Arme. Sie besteht aus Kichererbsenmehl, Eiern, Öl mit dazugehörigem erfrischendem Zitronensaft. Ich beschloss, nicht im Hotelrestaurant zu speisen. Ich begab mich unverzüglich wieder auf die Straße. Ich ging auch an alle benachbarten Restaurants vorbei und suchte den nächsten Stand für "Karan und kalt" auf. "Karan und kalt" gibt es übrigens nur bei Straßenverkäufern. So aß ich am Nachmittag an einer Straßenecke zu Mittag.
Das Essen war köstlich. Ich muss jedoch sagen, dass es in meinen Erinnerungen noch köstlicher schmeckte. So schloss ich meine Augen und katapultierte mich in meine Gedanken Jahrzehnte zurück und siehe da, ich hatte das Gefühl, es schmeckte wieder wie damals. Für eine Portion zahlte ich ganze fünf Dirham, ein Mehrfaches von dem, was es damals kostete.
Lange Rückreise nach Marrakesch
Im Sommer 1994 fand mein letzter Besuch in Algerien bzw. meine Durchreise durch Oujda statt. Das lag daran, dass die Grenzen einige Wochen danach geschlossen wurden. Ich hatte damals mein ganzes Geld für das Reisen im Osten und in den verschiedenen Städten Algeriens ausgegeben. Am Bahnhof in Oujda wurde mir meine Lage erst bewusst. Außer der Fahrkarte hatte ich nur noch ein paar Dirhams. Und vor mir lag eine lange Rückreise nach Marrakesch. Für die 660 Km brauchte der Zug bei seinen unzähligen Haltestationen eine Ewigkeit. […] So beschloss ich so viel "Karan und kalt" zu essen, wie ich mir noch leisten konnte. … Der Straßenverkäufer am Bahnhof wird sich damals nicht wenig gewundert haben! Ich stieg mit vollem Bauch in den Zug und bewahrte während der gesamten Zeit Ruhe, um kein Hungergefühl aufkommen zu lassen [...]
Anfang der neunziger Jahre war Algerien mein favorisiertes Ziel für die Sommerferien. Meine erste Reise trat ich 1991 an. In Marokko war ich noch unbekannt. Im selben Jahr gewann ich in Algerien einen Preis für meine Gedichte Diese Auszeichnung machte mich dort bekannt, lange Zeit bevor man von mir in Marokko hörte.
In den Jahren, in denen ich Algerien bereiste und die Hauptstadt besuchte, stieg ich in den verschiedensten Hotels ab. Manchmal zog ich bei Taher Wattar im Stadtviertel Hydra ein, und begleitete ihn zum Meer zu der Stelle, wo er sich dem Schreiben oder dem Fischfang widmete. Ich war auch häufig bei Bouzid Harzullah in Daly Ibrahim, der mir erzählte, dass der in der Zwischenzeit verstorbene Taher Wattar und Gründer des Vereins "Al-Jahida" in Algerien, der mir die Auszeichnung verlieh, in seinen Treffen mit Abdel-Hamid Aqar, Najeeb Al-Awfi, seinen marokkanischen Freunden und anderen stets sagte "Yassin Adnan gehört auch zu uns"
Zu Beginn des „dunklen“ Jahrzehnts in Algerien, Anfang der neunziger Jahre, war ich Student an der Fakultät für Literatur und Philosophie in Marrakesch. Zu dieser Zeit begann auch meine journalistische Karriere, mehr in Algerien, da ich meine Artikel an die Zeitungen „Al Salam“ (Frieden) und „Al Schuruk“ (Sonnenaufgang) schickte. Mein Ziel war es immer, die marokkanische Literatur und Kunst den Lesern in Algerien zu vermitteln.
Zu der Zeit war der algerische Dinar sehr wenig wert. Ich bat daher beide Zeitungen, mein Honorar in Algerien für mich aufzubewahren. Das Geld brauchte ich dann, wenn ich da war, um mit Freunden an Poesiefestivals und ähnlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Ich bereiste das Land immer wieder kreuz und quer. Ich war sozusagen der stets verfügbare marokkanische Freund!
In dem besagten Jahr 1994 war ich mit dem Dichter Bouzid Harzallah in seinem Auto auf dem Weg von Oran nach Algier. Wir waren zu Besuch bei unserem lieben Freund Bakhti Ben Odeh. Kurz vor der Hauptstadt gerieten sind wir in eine Straßensperre geraten. Es war eine Falle. Es waren vier bewaffnete Terroristen. Sie trugen Turnschuhe, Jeans und Militärjacken, wie es sie die in Marokko in Second-Hand-Shops zu kaufen gab... Sie hielten uns an und fragen uns nach unseren Ausweisen. Ich zeigte einem von ihnen meinen marokkanischen Pass. Er überprüfte ihn und sagte freundlich: „Marroki, Bruder“ Ich antwortete mit schwacher Stimme: „Ja“. Er schaute die anderen an und drehte sich zu mir, um mir zu sagen: „das sind die liebsten und gütigsten Menschen, die ich kenne … Fahrt bitte in Frieden weiter“
Bouzid Harzallah konnte kaum glauben, was gerade passiert war, zumal dies die Zeit war, in der viele Schriftsteller und Journalisten ermordet wurden. [...] Ich war mir damals sicher, dass alle Algerier, auch die Schurken unter ihnen, besondere Gefühle für die Menschen in Marokko hegten.
Einige Wochen nach meiner letzten Durchreise durch Oujda, auf dem Wege nach Marrakesch, ereignete sich der bekannte Terroranschlag im Café Atlas Asni, am Jamaa Elfna. Sofort wurden die Landesgrenzen geschlossen. Einige Monate später wurde mein Freund Bakhti ben Odeh mit neun Schüssen ermordet. Auch sämtliche Beziehungen beider Staaten brachen ab: Eine Tragik ohne Gleichen.
Wie kann man Oujda besuchen, ohne dass man Algerien besucht? Wie gewohnt ging ich zum Bahnhof, angetrieben von der Nostalgie. Die Bahnhöfe in Marokko sind ausnahmslos modernisiert worden, zum Glück aber nicht der Bahnhof von Oujda. Er ist immer noch so, wie er immer war. Man baut wohl an anderer Stelle einen größeren und moderneren Bahnhof. Dieser hier ist nur ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt.
Ich stellte mich vor eines der alten Kolonialgebäude, zog mein Smartphone und schoss einige Fotos. Plötzlich hielt mich ein Polizist an, der in Begleitung von einer kleinen winkenden Person war. Ich war gut gelaunt und ging ihnen frohen Mutes entgegen: "Was ist los?" sagte ich. Der Polizist schaute mich an und sagte „Du hast Fotos gemacht?" und fügte hinzu: "Haben Sie eine Lizenz?" Ich erwiderte: "Ich habe ein Telefon und ich denke, es reicht aus." Sichtlich verdutzt sagte: "Dann komm mit uns zum Bahnhof. Der Bahnhofsverantwortliche hat Dich nun beim Fotografieren erwischt. Das Fotografieren und Filmen ist, wie du weißt, strengstens verboten." Ich kam aus dem Staunen nicht raus. Wieso soll in Oujda das Fotografiren verboten sein?!!l Eine Erklärung gab es wohl nicht. […]