Die Lehmburgen von Ait Benhaddou
Abdoul, »Le Chakal« wie er sich nennt, trägt die weiße Kappe frommer Muslim, Badeschlappen, ein zu großes Jackett und grinst uns zahnlos entgegen. Der EndSiebziger führt uns durch den alten Ksar von Ait Benhaddou etwa 35 km nordwestlich von Ouarzazate. Sein Deutsch ist nur schwer verständlich, dafür haben wir bei der Führung aber umso mehr Spaß. Vom großen Complexe Touristique La Kasbah mit Pool und Busparkplatz im neuen Ortsteil an der Teerstraße steigen wir eine kleine Gasse bergab ins Flussbett.
An manchen Stellen blitzt es weiß unter der Lehmverputzung hervor
Wenn der Fluss Wasser führt, geht es über Sandsäcke oder auf dem Rücken eines Esels auf die andere Seite. Von der Straße nicht sichtbar thront der beeindruckende, mächtige Lehmkomplex am gegenüberliegenden Flussufer vor uns: Türme mit Zinnen und Schmuckornamenten, hohe Mauern, Torbögen, Dattelpalmen und grüne Oasengärten in der ansonsten kargen, steinigen Umgebung. Wir nähern uns und stehen vor einem großen - vermeintlich gut erhaltenen - Tor. Doch an manchen Stellen blitzt es weiß unter der Lehmverputzung hervor - Styropor, eine Attrappe für einen Kinofilm. Die für Europäer und Amerikaner surreale, exotische Kulisse von Ait Benhaddou wurde bereits für mehr als 60 Hollywood-Filme genutzt: Szenen aus »Sodom und Gomorrha« (1962), »Lawrence von Arabien« (1962), »The jewel of the nile« (1985), »Die letzte Versuchung Jesu« (1988), »Der Gladiator« (2000), »Alexander« (2004) und »Königreich der Himmel« (2005) spielten hier.
Ait Benhaddou wird inzwischen von etwa 130.000 Touristen jährlich besucht und hat sich entsprechend entwickelt. Souvenirläden mit Schmuck, Keramiken und Teppichen an jeder Ecke, diverse Hotels und Restaurants im neuen Ortsteil und zahllose offizielle und falsche Touristenführer hoffen auf Kundschaft. Der Grund für diesen Zustrom liegt auf der Hand: Ait Benhaddou ist ein wunderschönes Beispiel für die Berberarchitektur des marokkanischen Südens.
Ein Ksar umfasst die Wohnbauten einer bis mehrerer Hundert Großfamilien, umgeben von einer rechteckigen Lehmmauer mit Ecktürmen. Es gibt ein Eingangstor mit einer Moschee nebenan. Die Einzelbauten aus Lehm, die Tighremts oder Kasbahs, besitzen ebenfalls Ecktürme, haben einen quadratischen Grundriss und normalerweise zwei, z.T. aber auch mehrere, Stockwerke. Das Erdgeschoss mit Innenhof beherbergte traditionell das Vieh, während die Räume der oberen Geschosse und auf der Dachterrasse zum Wohnen genutzt wurden. Typisch für die Türme sind die verzierten Zinnen, die das leicht überstehende Dach aus Zweigen beschweren. Der obere Teil der Mauern und Türme ist verziert mit geometrischen Mustern: Rauten, Linien und Schachbrettmustern. Ein Ksar diente zur Verteidigung gegen verfeindete Stämme der bis ins 19. Jahrhundert ständig im Krieg miteinander stehenden Berbergruppen. Die Gebäude bestehen aus ungebranntem Lehm, der in Holzverschalungen unter der Beimischung von Stroh festgestampft und getrocknet wird.
Diese fertigen Mauerteile werden mit dazwischenliegenden Querstreben übereinandergeschichtet. Beim Entfernen der Querpfähle bleiben die charakteristischen regelmäßigen Löcher im Lehm, wie sie im gesamten Süden an Stadt- und Gebäudemauern zu sehen sind. Dem klimatischen Vorteil der Lehmbauten - im Sommer bleibt es angenehm kühl im Inneren, im Winter halten sie die Wärme - steht der Nachteil der ständigen Instandhaltung entgegen. Werden die Mauern nicht regelmäßig nach Regenfällen restauriert, so zerrinnt das Gebäude im wahrsten Sinne des Wortes innerhalb weniger Jahre.
Heute sind die meisten Ksour dem Verfall preisgegeben: Familien, die es sich leisten können, ziehen in moderne Wohnbauten in einem neu errichteten Dorfteil und kümmern sich nicht mehr um die Instandhaltung der alten Lehmbauten. Erst mit dem erstarkenden Tourismus setzte in den letzten Jahren ein neues Bewusstsein für dieses kulturelle und architektonische Erbe ein und viele der beeindruckenden Kasbahs werden als Museen oder Gästehäuser wiederbelebt. Auch in Ait Benhaddou kann man eine renovierte Familienkasbah gegen geringen Eintritt besichtigen, sich die Bauweise, die Räume und verschiedene Gebrauchsgegenstände erklären lassen. Die meisten Häuser des alten Ait Benhaddou verfallen dennoch, wenn nicht zumindest das Untergeschoss als Souvenirladen genutzt wird. Auch die Ernennung Ait Benhaddous zum UNESCO-Weltkulturerbe im Jahr 1987 brachte keine Verbesserung.
Durch ein Labyrinth aus ineinander verschachtelten Lehmruinen mit niedrigen Durchgängen und Türmen mit Storchennestern wandern wir den Hügel durch schmale Gassen und über Steintreppen bergauf. Flink wie eine Gazelle springt Abdoul vorneweg. Dabei vergisst er nicht, einer älteren Touristin, seiner »Fatima«, helfend die Hand zu reichen, 100 Kamele Brautpreis für eine junge Blondine zu bieten und einem bärtigen Gruppenmitglied scherzhaft den Namen »Alibaba« zu verpassen. Als ein Esel um die Ecke schaut, ruft er nach dem »Berbertaxi«. Abdoul lebte 35 Jahre in einer Kasbah im alten Dorf, bevor auch er in den neuen Ortsteil umzog und nur noch in Vergangenheitsform vom traditionellen Wohnen zwischen Lehmwänden berichtet.
Bis ganz an die Spitze des Hügels steigen wir in der heißer werdenden Sonne. Oben befinden sich noch die Ruinen einer alten Speicherburg, eines Agadirs, wo Lebensmittel und Waren für die Gemeinschaft gelagert wurden. Hier bietet sich ein fantastischer Blick auf das grüne Band des Flusses, die braunen Steinhügel und Siedlungen der Umgebung. Auf dem Friedhof auf der anderen Hangseite markieren niedrige Steine am Kopf- und am Fußende die Gräber der mit dem Gesicht nach Mekka ausgerichteten Verstorbenen. Beeindruckt von den rotbraunen Festungen, deren Türme in den stahlblauen Himmel streben, steigen wir wieder hinunter und genießen einen frisch gepressten Orangensaft auf der Dachterrasse eines Cafés von der gegenüberliegenden Flussseite. Wir waren früh genug dran: Erst jetzt kommen die Busse voller Touristen in das Dorf und zum alten Ksar geströmt.
Nur wenige Kilometer weiter auf der Teerstraße folgt das Dorf Tamdakht. Auch hier thront eine mächtige Kasbah am Fluss. Sie war einst eine der vielen Burgen des mächtigen Berberfürsten Thami el Glaoui im 19. Jh. Lange verfielen die Lehmmauern. Ein Teil wurde in den letzten Jahren renoviert und 2006 von einer italienischen Produktionsfirma für eine Reality-Show genutzt, in der die Teilnehmer mehrere Monate in der Kasbah leben mussten. Den größten Teil des Komplexes besiedeln heute jedoch Tauben, Falken, Blauracken, Eulen und Störche mit ihren Nestern auf den zinnenbewehrten Türmen.
Um einmal das Leben in einer Lehmburg zu testen, muss man jedoch nicht erst an einer Fernsehshow teilnehmen. Denn direkt neben dem Komplex befindet sich die Kasbah Ellouze unter Führung des gastfreundlichen französischen Paares Michel und Colette Guillen. Sie verliebten sich bei ihrem ersten Besuch in diesen malerischen, ruhigen Ort und beschlossen, ein traditionelles Lehmhaus zu kaufen und aufwändig als Hotel zu renovieren. Neun sehr hübsche, große Zimmer im rustikalen Berberstil mit Balkon, Bad und Klimaanlage bieten den nötigen Komfort. Von den Dachterrassen und Zimmern eröffnet sich eine herrliche Aussicht auf die Kasbah Tamdakht, das Oued und die Storchennester. Kühle, heimelige Salons im Erdgeschoss eignen sich bestens zum Verschnaufen nach einem heißen Rundgang durch den Ksar. Hier kann man sich mit Vollpension rundum Verwöhnen lassen und dennoch ein Stück authentisches Oasenleben mitverfolgen. Für Aktive sind in der Umgebung wunderschöne Wanderungen zu Fuß, mit dem Muli oder Kamel möglich.
Mehr über Astrid Därr erfahren Sie hier