Von der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis
Zu oft beruht unser Missverstehen allein darauf, dass wir verschiedenen Namen für dieselbe Wirklichkeit geben. Doch wenn diese Wirklichkeit in ihrer vollen Gestalt erscheint - mehr noch, wenn sie mit Herz und Seele erfahren wird -, dann schwinden die Trugbilder des Streits von selbst. So sprach Rābi‘a al-'Adawiyya (*1): „Wer kostet, der weiß. Wer nur beschreibt, der entfernt sich von dem, was ist.“
Im Folgenden 2 Geschichten, die dies verdeutlichen. Die Namen der Weintraube und Der Elefant im Dunkeln. Beide Erzählungen laden uns ein, über die Grenzen der Sprache hinauszublicken und die tiefer liegende Einheit aller Dinge zu erkennen.
Die Namen der Weintraube
Aus der Geschichtensammlung "Weisheiten, und Witz von Joha" von Prof.Dr. Faouzi Skali.
Es trug sich zu, dass ein Mann ein Goldstück an vier Wanderer gab. Der erste sprach: „Eilet, lasset uns Engur erwerben!“ Doch der zweite, ein Araber, rief: „Nein, kein Engur - ich verlange nach Ineb!“ Der dritte, ein Grieche, widersprach sogleich: „Ich begehre Istaphil!“ Und der vierte, ein Türke, entgegnete: „Mir aber gelüstet nach Uzum!“
So entbrannte ein hitziger Streit unter ihnen, denn ein jeder hielt an seinem Wort fest, unwissend, dass sie alle dasselbe begehrten. Wäre ein Weiser zugegen gewesen, so hätte er gesprochen: „O Torheit der Menschen! Ihr streitet über Worte, da euch die Wahrheit entgeht. Für euch sind Namen Anlass zum Zwist, doch für mich führen sie zur Eintracht. Denn wisset: Ihr alle verlangt nach ein und demselben – nach der süßen Frucht des Weinstocks, die ihr nur mit verschiedenen Zungen benennt!“
Diese Begebenheit, führt nicht zuletzt der große Dschalal ad-Din Rumi, Mystiker des 13. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk Mathnawi (*2) an. Er berichtet, dass diese jener von dem Elefanten im Dunkeln gleiche.
Der Elefant im Dunkeln
Man fragte Joha(*3), weshalb die Menschen unaufhörlich disputierten, ein jeder in der Überzeugung, einzig er besitze die Wahrheit, während alle anderen im Irrtum verharrten. Da erzählte er die Geschichte vom Elefanten im Dunkeln.
Mehrere Gelehrte führte man in eine finstere Kammer, in deren Mitte ein Elefant stand. Man forderte jeden auf, durch bloße Berührung zu bestimmen, was sich darin befinde. Der erste, der den breiten Rücken des Tieres betastete, schloss daraus, es müsse sich um einen Baldachin handeln. Ein anderer, der den Rüssel umfasste, hielt ihn für eine Röhre. Ein dritter, der die mächtigen Beine berührte, wähnte sie als lederne Säulen. So ersann jeder eine eigene Theorie, und ein jeder war von seiner Wahrheit überzeugt.
Da führte Joha eine kleine Kerze in den Raum. Und siehe, keiner hatte gänzlich unrecht, doch ebenso wenig hatte einer allein die ganze Wahrheit erkannt. „Euer Fehltritt“, sprach Joha, „liegt nicht im Irrtum eurer Wahrnehmung, sondern darin, dass ihr das Einzelne für das Ganze haltet, dass ihr das Maß eurer Einsicht zum Maß aller Dinge erklärt.“
Diese Erzählung, so alt wie die Weisheit selbst, findet sich in Indien, in China, im alten Persien und in der arabischen Welt. Dschalal ad-Din Rumi führt sie in seinem Hauptwerk Mathnawi an. Baudelaire sah in der menschlichen Kommunikation nicht mehr als ein tiefes Missverständnis. Rumi erkannte in den Philosophien, Ideologien, Religionen und Wissenschaften eine Kakophonie widerstreitender Stimmen, die, einer jeder auf seinem Standpunkt beharrend, nur Bruchstücke der Wahrheit erfassen.
Denn was ist des Menschen Erkenntnis anderes als ein schmaler Streifen Licht inmitten unendlicher Dunkelheit? Die erste Weisheit liegt darin, zu begreifen, dass die Wahrheit sich nicht in einem einzigen Bilde erschöpft, sondern in mannigfaltiger Gestalt erscheint. Jede Suche nach ihr ist nicht mehr und nicht weniger als ein beständiges Weiten des Geistes, ein fortgesetztes Streben nach tieferem Verstehen.
Doch es gibt eine andere Weise, sich der Wahrheit zu nähern – nicht durch Trennendes Zergliedern, sondern durch unmittelbares Erleben. Sie bedarf keiner umständlichen Beweisführung, keiner mühsam errungenen Theorie. Joha, wie auch die Weisen aller Zeiten, lehrten uns: Man muss nur eine Kerze entzünden.
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(*1) Rābiʿa al-ʿAdawiyya (ca. 717–801) war eine der bedeutendsten Sufi-Mystikerinnen und gilt als eine der ersten, die die bedingungslose Liebe zu Gott (maḥabba) ins Zentrum ihrer spirituellen Lehre stellte. Sie wurde in Basra (heutiges Irak) geboren und lebte in asketischer Zurückgezogenheit, widmete ihr Leben jedoch ganz der Gottesliebe und der Suche nach spiritueller Reinheit. Ihre Lehren betonten die uneigennützige Hingabe an Gott – nicht aus Furcht vor der Hölle oder Hoffnung auf das Paradies, sondern allein aus Liebe. In zahlreichen Anekdoten wird berichtet, wie sie mit einer Fackel und einem Eimer Wasser durch die Straßen zog, um sinnbildlich Himmel und Hölle zu zerstören und die Menschen zur reinen Liebe Gottes zu führen. Rābiʿa hinterließ keine schriftlichen Werke, doch ihre Gedanken wurden von späteren Sufis überliefert und beeinflussten die islamische Mystik tiefgreifend. Ihr Vermächtnis lebt in der Dichtung und Spiritualität weiter und inspiriert bis heute die Sufi-Tradition.
(*2) Mathnawi ist eine umfassende Theodizee (Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels und des Leids in der Welt) und tiefgründigste esoterische Kommentar zum Koran. Es versteht sich als ein Weg der Seele zu Gott – einer Seele, die sich aus ihrem geistigen Heimatland verbannt fühlt und, im Einklang mit dem gesamten Universum in einem geheiligten Kosmos, ihre Suche nach dem Absoluten fortsetzt.
(*3) Joha (auch bekannt als Djuha, Juha oder Nasreddin Hodscha) ist eine legendäre Figur der volkstümlichen Erzähltradition in der arabischen, persischen und türkischen Welt. Er erscheint in zahlreichen Anekdoten und Fabeln, die oft eine humorvolle, aber tiefgründige Weisheit vermitteln. Seine Geschichten, die teils schelmisch, teils philosophisch sind, dienen häufig der satirischen Kritik an menschlichen Schwächen, gesellschaftlichen Normen oder intellektueller Engstirnigkeit. Besonders in der islamischen Welt und auf dem Balkan ist Joha eine bekannte Gestalt, vergleichbar mit Till Eulenspiegel im deutschen Kulturkreis oder dem jüdischen Herschele Ostropoler. In manchen Traditionen wird Joha mit Nasreddin Hodscha gleichgesetzt, in anderen gelten sie als unterschiedliche Figuren mit ähnlichen Charakterzügen – weise, aber zugleich spitzbübisch und gelegentlich ironisch.
Infos über Faouzi Skali* finden Sie hier
Übersetzung aus dem Französischen