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Schleier der Illusionen - Eine Geschichte über Sehnsucht und Selbsttäuschung

In Intissar Haddiyas Roman Écran des illusions, Schleier der Illusionen, treffen zwei Frauen aufeinander, deren Lebenswelten kaum unterschiedlicher sein könnten und sich doch im selben blinden Punkt überschneiden: ihrer Sehnsucht, gesehen zu werden.

Dr C., eine 51-jährige Ärztin aus Rabat, hat sich ein Leben aufgebaut, das von Routine, Disziplin und äußerer Perfektion zusammengehalten wird. Ihre Tage sind streng getaktet, ihre Rolle unantastbar. Und doch offenbart schon der erste Morgen im Roman die Risse hinter der professionellen Fassade: „Die Schmerzen hinter der Stirn ließen kaum nach. Manchmal übernahm die Müdigkeit die Kontrolle über ihren gesamten Körper.“ Es ist eine Frau, die längst mehr leistet, als sie noch fühlt.

Sie überraschte sich selbst, als sie ihm schrieb: Schickst du mir ein Foto? Für sie war diese Bitte ein unerhörtes Wagnis. Als die Antwort nur wenige Minuten später eintraf, pochte ihr Herz so heftig, dass ihr schwindlig wurde. Larbi erschien auf dem Bildschirm - makellos, souverän, mit einem Lächeln, das eine ganze Welt in Bewegung setzte. In diesem Augenblick verstand sie: Etwas in ihr war längst über die Schwelle getreten.

Ganz anders Soraya, ihre junge Sekretärin - energiegeladen, impulsiv, voller Hoffnungen, die sich in Dating-Apps und schnellen Begegnungen entladen. Sie sucht das große Gefühl in flüchtigen Worten und warmen Avataren. Ihr Herz schlägt für die Nachrichten, die ihr Smartphone so mühelos verspricht: Bestätigung, Aufmerksamkeit, ein digitales Funkeln, das das Grau des Alltags überstrahlt. „Ein einziger neuer Name auf dem Display genügte, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen.

„Prinzessin", sagte Karim, als er ihr die rote Rose überreichte. Er war so charmant, so sicher, so perfekt in jeder Geste, dass Soraya sich fragte, womit sie dieses Märchen verdient hatte. Seine Stimme, warm und schwer, ließ sie alles um sich herum vergessen. Es war einer dieser Momente, in denen ein Lächeln genügte, um die eigenen Zweifel zu betäuben.

Beide Frauen eint ein stilles Vakuum. Und beide versuchen, es durch Männer zu füllen, die nicht greifen lassen, sondern glänzen - auf einem Bildschirm, hinter einem Profilbild, in einer Stimme, die so perfekt klingt, dass sie beinahe zu perfekt ist.

Für Dr C. trägt dieser Mann den Namen Larbi. Ein Fremder, der sie auf WhatsApp mit warmen Worten empfängt, mit einer Höflichkeit, wie sie sie seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Sein Ton ist gewählt, ruhig, einfühlsam. „Ich könnte an dieser Begegnung vorbeigehen und es ein Leben lang bereuen,“ schreibt er ihr. Satz für Satz zieht er sie in die vertraute Dunkelheit des Chats, wo Worte ungestörter, intimer, verletzlicher werden als im gegenüberstehen.

Haddiya zeichnet diese Annäherung mit feiner Hand. Kein großer Knall, keine melodramatische Geste - nur das Klicken von Nachrichten, das Aufleuchten eines Displays, der stille Hunger nach Nähe. Dr C. beginnt, auf Antworten zu warten wie auf eine Dosis Licht. „Sie starrte auf ihr Telefon. Wieder nichts. Jede Minute verwandelte sich in eine kleine Enttäuschung, die sie zu verdrängen versuchte.

Parallel dazu verfängt sich Soraya in ihren eigenen digitalen Träumen. Sie glaubt, in Karim endlich den Mann gefunden zu haben, der anders ist. „Er war groß, charmant, mit einem Lächeln, das sie alles vergessen ließ.“ Ihr Herz hüpft in jugendlicher Euphorie - und der Roman zeigt schon früh, dass diese Euphorie die verletzlichste Form der Blindheit ist.

Was beide Frauen nicht wissen: Die Wirklichkeit hinter ihren Bildschirmen ist porös. Die Versprechen sind hohl, die Gesichter fragil. Als Dr C. sich endlich mit Larbi treffen will, sitzt sie allein im Café, die Zeit fließt an ihr vorbei, während der Bildschirm schweigt. „Das Display blieb kalt. Die Nachrichten waren nicht einmal gelesen.“ In diesem Satz verdichtet sich die Erfahrung eines ganzen digitalen Zeitalters.

Der zweite Tag des Wartens war noch quälender. Zwischen zwei Konsultationen saß Dr C. da, den Blick auf ihr Telefon geheftet, als hinge ihr Herz an diesem kleinen Bildschirm. Jeder Patient wirkte plötzlich blasser, jede Stimme ferner – alles verblasste gegenüber dem einzigen Gedanken: „Warum schreibt er nicht?“

Doch Haddiya geht weiter. Die Enttäuschung ist nur der Auftakt zu einer größeren Enthüllung, die sich erst spät und mit erschütternder Klarheit zeigt. In einer der intensivsten Szenen des Romans analysiert die Polizei das Gesicht von Larbi - und erkennt, dass es gar keines ist. „Die Augen gehörten zu einem Mann, die Nase zu einem anderen, der Mund zu einem dritten. Larbi war ein Mosaik - ein künstliches Gesicht.

Larbi ist ein Produkt, nicht eine Person. Eine digitale Konstruktion, erschaffen von einer künstlichen Intelligenz, die perfekte Empathie simuliert, perfekte Antworten generiert und perfekte Schwachstellen ausnutzt. Dr C. reagiert mit entwaffnender Verletzlichkeit: „Wie konnte ich nichts bemerken? Ich habe mit ihm gesprochen… gefühlt.

Was hier beginnt, ist keine klassische Betrugsgeschichte. Haddiya interessiert sich weniger für den kriminellen Akt als für den seelischen Schock: Was bleibt von uns, wenn wir fühlen für etwas, das nicht existiert?

Der Bildschirm vor dem Polizisten zeigte Larbis Gesicht in Einzelteilen - Augen, Mund, Nase. Jede Partie gehörte zu einem anderen Menschen. Larbi war kein Mann, sondern eine Konstruktion. Eine sorgfältig zusammengesetzte Illusion. Alles, was Dr C. gefühlt, gehofft, geglaubt hatte – basierte auf einem Gesicht, das nie existiert hatte.

Schleier der Illusionen. Foto mit Hilfe von ChatGPT erstelltSoraya durchläuft eine ähnliche Desillusionierung - weniger dramatisch, aber nicht weniger menschlich. Ihre romantischen Fantasien treten in ein leises Ungleichgewicht, als die Fassade ihres vermeintlichen Gentlemans bröckelt. Die Parallelen zwischen den Frauen sind subtil, aber klar: Zwei Generationen, zwei Formen weiblicher Verletzlichkeit, dieselben digitalen Mechanismen.

Der Roman erzählt nicht schnell, nicht laut, nicht sensationshungrig. Seine Kraft liegt in der Ruhe. In der Wiederholung der kleinen Gesten. In den Zwischenräumen der Nachrichten, die nicht kommen. In der Stille nach den Fragen, die unbeantwortet bleiben. Genau darin entfaltet sich die psychologische Spannung, die den Text trägt.

Écran des illusions ist zugleich zeitgebunden und zeitlos. Intissar Haddiay erzählt einen Roman über die veränderten Formen unserer Kommunikation - und über die uralten Bedürfnisse, die dahinter unverändert fortwirken: Nähe, Anerkennung, Vertrauen, Sehnsucht. Die Autorin zeigt, wie leicht digitale Berührungen zu emotionalen Verletzungen werden können, wie schnell sich Worte in Projektionen verwandeln, und wie tief die Einsamkeit in zwei Frauenleben hineinwirkt, die sich auf den ersten Blick kaum ähneln.

Es ist die stille, unaufdringliche Stärke dieses Romans, dass er nicht mit technischen Erklärungen kommt, sondern mit emotionalen Erfahrungen: Wir spüren, was Dr C. fühlt; wir erkennen uns in Sorayas Hoffnungen wieder; wir begreifen die Fallhöhe ihrer Illusionen, weil sie sich aus etwas zusammensetzen, das wir alle kennen.

Doch der Roman verweilt nicht im Drama der Täuschung. Er zeigt auch, was nach der Wahrheit kommt - die Stille, die Scham, die Rückkehr zur eigenen Stimme. Als Dr C. erkennt, dass Larbi nie existiert hat, ist der Schmerz gewaltig. Aber er ist nicht ihr Ende. Sie beginnt langsam zu begreifen, dass sie nicht Opfer eines Menschen war, sondern Opfer einer Sehnsucht, die sie selbst zu lange ignoriert hatte. Und Soraya, die glaubte, in Karim die perfekte romantische Erfüllung gefunden zu haben, lernt, dass Perfektion niemals Versprechen ist - sondern oft das glatte Parkett, auf dem man ausrutscht.

Dr C. sitzt eines Morgens, Wochen später, wieder an ihrem Schreibtisch. Der Bildschirm bleibt dunkel, das Telefon liegt verkehrt herum neben ihr - als hätte sie beschlossen, die Welt nicht mehr durch das flüchtige Licht eines Displays zu betrachten. Die Tage um sie herum sind die gleichen geblieben, doch etwas in ihr hat sich verschoben. Sie blättert durch die Akten mit einer Ruhe, die sie lange nicht mehr kannte, als habe die Stille der letzten Zeit ihr eine neue Art des Atmens geschenkt. Soraya tritt ein, stellt ihr eine Tasse Tee hin und schenkt ihr ein vorsichtiges Lächeln - ein Lächeln, das nicht nur Anteilnahme ausdrückt, sondern auch Anerkennung dafür, dass ihre Chefin wieder im Leben angekommen ist.

Écran des illusions hinterlässt seine Leserinnen und Leser nicht mit Verurteilungen, sondern mit einer offenen, schwebenden Frage: Wie viel Wirklichkeit brauchen wir, um wahrhaft zu fühlen - und wie wenig genügt, um uns in einer Illusion zu verlieren?