Kalila wa Dimna: Ein ewiges Elixier der Weisheit - Die Löwin, die Zäune und der Schaghbar
In den reichen Gefilden der arabischen Literatur findet sich ein meisterhaftes Allegoriebild, das in der Fabel „Die Löwin, die Zäune und der Schaghbar“ (Schaghbar, als synonym für Schakal) - zum Ausdruck kommt. Dieses Werk, das tief in der Tradition didaktischer Erzählungen verwurzelt ist, entfaltet in kunstvoll verwobenen Tiergestalten zeitlose Lehren über Gerechtigkeit, Selbstreflexion und das unbedingte Abwägen der Konsequenzen menschlichen Handelns.
Die Erzählung bringt in symbolträchtigen Bildern die Tragweite unbedachter Taten und den Preis, den Unachtsamkeit und Ignoranz mit sich bringen können, zum Vorschein. Die Löwin, als Verkörperung von Stärke, Fürsorge und zugleich Verletzlichkeit, trifft auf die unerbittliche Macht der „Zäune“ - ein Sinnbild für die unüberwindbaren Grenzen des Schicksals und der Gesellschaft - und den Schaghbar, der als listiger Beobachter und Mahner zugleich erscheint.
Durch diesen vielschichtigen Dialog zwischen den Protagonisten wird nicht nur die Dynamik zwischen Täter und Opfer, sondern auch das Prinzip von Ursache und Wirkung eindrucksvoll illustriert.
Der Text fordert den Leser auf, über die eigenen Handlungen und deren weitreichende Konsequenzen nachzudenken. Gleichzeitig entlockt er uns einerseits feinsinnige moralische Erkenntnisse und andererseits einen literarischen Genuss, der in der eleganten Sprache und den bildhaften Darstellungen der Szene seinen Ausdruck findet. Diese Fabel ist somit nicht nur ein Spiegel der menschlichen Natur, sondern auch ein Plädoyer für Besonnenheit und Gerechtigkeit im Miteinander.
Im Folgenden wird der vollständige Text dieser faszinierenden Erzählung präsentiert - ein Werk, das, ohne gekürzt oder in seiner sprachlichen Schönheit beeinträchtigt zu werden, den Leser in eine Welt entführt, in der Weisheit und Warnung, Poesie und Mahnung untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Löwin, die Zäune und der Schaghbar
Direkte Übersetzung aus dem Original in Arabischer Sprache von ibn Muqaffa
König Dibschlim (دبشليم) wandte sich an Bidpai, den Philosophen, und sprach: „Ich habe dieses Sprichwort vernommen. Gib mir ein Beispiel für jemanden, der zulässt, dass anderen Schaden zugefügt wird, obwohl er in der Lage wäre, sie davor zu bewahren - jemand, der zugleich als Mahner und Tadler herabsteigt, um andere von Unrecht und Feindschaft abzuhalten.“
Bidpai erwiderte: „Nur die Unwissenden, die Toren und jene, die den Blick für die Konsequenzen in den Belangen dieser Welt und des Jenseits verloren haben, handeln derart. Ihnen mangelt es an Erkenntnis über die Rache, die ihnen zuteilwerden könnte, und an Einsicht in die Folgen ihres Erwerbens, das ihr begrenzter Verstand nicht zu fassen vermag. Selbst wenn es manchen gelingt, sich vor dem Schaden anderer zu schützen - indem sie andeuten, was ihre Taten nach sich ziehen - so wird derjenige, der nicht über die Konsequenzen nachdenkt, niemals vor dem Unheil bringenden Folgen bewahrt sein. Wahrlich, niemand entgeht den Angriffen, und vielleicht ermahnt der Unwissende durch das erlittene Unheil und erwägt, was ihm an Schaden durch andere widerfuhr. So nimmt er Abstand davon, jemandem solch ein Unrecht und eine derartige Aggression anzutun, und letztlich erntet er den Nutzen, den es bringt, den Schaden, den er andern zugefügt hätte, zu unterlassen. Ein derartiges Beispiel findet sich in der Erzählung von der Löwin, den Zäunen und dem Schaghbar.“
Der König fragte: „Und wie geschah dies?“
Der Philosoph berichtete: „Man behauptet, eine Löwin habe sich in einer misslichen Lage befunden und zwei Jungtiere gehabt. Sie begab sich auf die Jagd und ließ ihre Jungen in ihrer Höhle zurück. Als diese an den Zäunen vorbeizogen, wurden sie von diesen erfasst, niedergestürzt und getötet; ihre Häute wurden abgezogen und von den Zäunen zerkratzt, und man brachte sie daraufhin zum Haus.
Nachdem die Löwin zurückgekehrt war und das entsetzliche Schicksal ihrer Jungen erblickt hatte, senkte sie ihren Rücken in Richtung des Bauches, brach in lautes Weinen und Jammern aus - und neben ihr war der Schaghbar, als synonym für Schakal. Als dieser ihr Wehklagen vernahm, fragte er sie: „Was tust du? Was ist mit dir geschehen? Erzähl es mir!“
Die Löwin antwortete: „Meine Jungtiere wurden von den Zäunen erfasst, sie wurden getötet, ihre Häute abgezogen und von den Zäunen zerkratzt.“
Da sprach der Schaghbar zu ihr: „Weine nicht und räume in deinem Inneren auf. Wisse, dass dieser Schaden durch die Zäune dir nichts Neues bringt, denn du hast solches bereits an anderen verübt, und es wird dir auch an anderen widerfahren - bei jenen, die dir nahestehen und für die dein Verhalten ebenso schmerzhaft ist, wie du es an deinen Jungtieren erlebst. Sei geduldig mit dem Tun anderer, so wie andere geduldig mit deinem gewesen sind; denn es heißt: Wie du säst, so wirst du ernten. Jede Tat trägt ihre Frucht des Lohns und der Strafe, in dem Maße, wie der Ertrag des Saatguts bei der Ernte bemessen wird.“
Die Löwin bat ihn: „Erkläre mir, was du sagst, und enthülle mir den Sinn deiner Worte.“
Da fragte der Schaghbar: „Wie alt bist du?“. „Hundert Jahre“, antwortete die Löwin. „Und was war deine Nahrung?“ „Wildfleisch“, erwiderte sie. „Wer ernährte dich damit?“. „Ich jagte das Wild und verzehrte es“, sagte sie. „Hast du je bemerkt, dass das Wild, das du isst, auch Eltern hatte?“. „Ja“, gestand sie. „Warum höre und sehe ich dann bei diesen Eltern nicht das gleiche Aufsehen und Getöse, das ich bei dir höre und sehe? Es hat dich nur heimgesucht, weil du die Konsequenzen nicht bedacht hast, weil du zu wenig darüber nachgedacht und in deiner Unwissenheit den dir zugefügten Schaden nicht erkannt hast.“
Als die Löwin diese Worte des Schakals vernahm, erkannte sie, dass sie sich selbst Unheil zugefügt und Unrecht begangen hatte. Daraufhin legte sie die Jagd nieder, verzichtete auf den Fleischgenuss und wandte sich fortan den Früchten, rituellen Handlungen und der Anbetung zu.
Als dann Warschan (ورشان) - der Besitzer jener weiten, ungeschützten Gefilde, in denen sich ein Vogel, der einer Taube ähnelt, sowie seine weibliche Gefährtin und ihre Gefolgsleute aufhielten, deren Lebensunterhalt von den Früchten abhing - dies bemerkte, sprach er zu ihr: „Ich hatte angenommen, dass der allgemeine Baum in unserem Gebiet aufgrund des Wassermangels keine Früchte trug. Doch als ich dich sah, wie du von den Früchten aßt, obwohl du auch Fleisch verzehrst, hast du deinen Lebensunterhalt, dein Essen und das, was Gott dir zugeteilt hat, aufgegeben und bist zu dem Lebensunterhalt anderer übergewechselt - ihn dir angeeignet und in Anspruch genommen. Du hast erkannt, dass der Baum ebenso Früchte trägt wie vor diesem Tag, und doch bringst du selbst nur wenig Frucht hervor. Wehe dem Baum, wehe den Früchten, wehe dem, der von ihnen lebt! Wie rasch wird ihr Untergang eintreten, wenn jene, die keinen Anteil daran haben und es nicht gewohnt sind, sie zu essen, von ihnen überwältigt werden!“
Als die Löwin diese Worte von Warschan hörte, hörte sie auf, die Früchte zu essen, und wandte sich stattdessen dem Verzehr von Kräutern sowie der Anbetung zu.
„Ich habe dir dieses Gleichnis nur zum Lehren vorgetragen, um dir zu verdeutlichen, dass der Unwissende, wenn er vom eigenen Schaden abgewandt wird, auch dazu fähig sein kann, den Schaden anderer zu vermeiden - wie die Löwin, die von der Jagd Abstand nahm, als sie in ihren Jungtieren das übermäßige Fleischessen erkannte, und sich daraufhin den rituellen Handlungen und der Anbetung zuwandte. Denn es heißt: ‚Was du für dich nicht wünschst, das tue nicht anderen.‘ Darin liegt die Gerechtigkeit, und in der Gerechtigkeit finden sich das Wohlgefallen Gottes und der Menschen.“