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Im Schatten des Schweigens: Ein Aufruf an die Stimme der Literatur

In Epochen tiefgreifender gesellschaftlicher Erschütterung, wenn politische Gewissheiten schwinden, soziale Ordnungen sich verschieben und globale Spannungen das Denken fordern, wäre die Stunde der Schriftsteller, Intellektuellen und Denker gekommen. Es sind jene Augenblicke, in denen Worte Orientierung stiften könnten - als Waffe des Geistes, als Kompass im Nebel, als Ethos im Diskurs.

Schriftsteller, Foto mit Hilfe von Gemini erstellt

Abdelhak NajibDoch just in diesen entscheidenden Zeiten zeigt sich ein beunruhigendes Vakuum: das Verschwinden einer literarischen Haltung, das Verstummen einer Klasse, deren Stimme einst Gewichte verschob. Der folgende Essay ist kein nostalgischer Rückblick auf eine goldene Ära, sondern ein kritischer Appell an die Verantwortung derer, die mit dem Wort arbeiten - und doch allzu oft schweigen.

Unsere Gegenwart ist nicht arm an Stimmen, wohl aber an solchen mit Substanz. In der vielstimmigen Kakophonie medialer Plattformen verliert sich eine erschreckende Lautlosigkeit: die der Literaten, die der Intellektuellen, die derjenigen, die sich als moralische Instanzen begreifen dürften - und doch abwesend bleiben. Es gibt eine Vielzahl von Autoren, deren geistiges Leben sich auf kaum mehr als die Erfüllung einer beruflichen Pflicht beschränkt: Seiten füllen, Floskeln streuen, Phrasen recyceln. Literarisch unbedeutend, intellektuell konturlos und gesellschaftlich abgekoppelt.

In Zeiten, da sich Nationen wandeln, Gesellschaften im Ringen um Identität verformen und internationale Kräfteverhältnisse neu austarieren, wäre eine klare, tiefgründige Haltung vonnöten. Doch jene, die diese einnehmen könnten, meiden die Auseinandersetzung. Sie verweigern sich der Realität, ziehen sich zurück in die Komfortzone des Unverbindlichen. Anstatt sich als gestaltende Stimme in den Dienst des Diskurses zu stellen, wählen sie das Schweigen - ein Schweigen, das nicht der Besonnenheit, sondern der inneren Flucht entspringt.

Der Rückgriff auf Überkommenes

Merkwürdig mutet es an, dass eine Welt in rasanter Bewegung auf ein intellektuelles Milieu trifft, das sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit an gedankliche Relikte klammert. Viele der selbsternannten Aufgeklärten schöpfen ihre Argumente aus den Trümmern vergangener Ideologien. Sie bedienen sich der Dogmen des 20. Jahrhunderts, als ließe sich das Heute mit den Begriffen von gestern verstehen. Ihre Gedanken kreisen in archaischen Schleifen, unfähig, sich den Verwerfungen und Widersprüchen der Gegenwart zu öffnen.

Diese intellektuelle Starre produziert eine endlose Wiederholung des Immergleichen - hohl, vorhersehbar, belanglos. In der Pose der Kritiker verlieren sie sich im Zitat, statt neue Sprache zu wagen. Es ist bequem, sich im Kreise selbstreferenzieller Zustimmung zu drehen. Es ist verführerisch, in akademischen Echokammern den Diskurs zu simulieren, während draußen die Welt aus den Fugen gerät.

Virtuelle Präsenz, reale Abwesenheit

Für viele der heutigen Literaten ersetzt digitale Sichtbarkeit die gesellschaftliche Wirksamkeit. Die Bühne sind nicht mehr Bücher, Essays oder Debatten - sondern soziale Netzwerke, in denen der Einfluss am Maß der Reichweite gemessen wird. Die Leidenschaft für das Wort ist dem Bedürfnis nach Sichtbarkeit gewichen. Kurze Kommentare, ironische Einsilber, belanglose Teilungen werden zur neuen Währung des intellektuellen Alltags.

Doch was bleibt, wenn das Streben nach Tiefe durch den Reflex der Selbstvermarktung ersetzt wird? Was bleibt, wenn der Rückzug ins Virtuelle zum Selbstzweck wird? Eine Literatur, die nur noch in Hashtags denkt, verliert ihre Dimension. Sie verliert ihr Gewicht. Und sie verliert den Kontakt zur Wirklichkeit.

Die Leere als Lebensform

Die daraus resultierende Leere ist nicht nur intellektuell, sondern auch ethisch bedenklich. Angesichts drängender Fragen - sozialer Ungleichheit, kultureller Identität, politischer Verantwortung - bleibt die literarische Stimme vielfach stumm. Keine klaren Texte, keine beherzten Stellungnahmen. Stattdessen Kongresse, Panels, Festivals, wo Selbstvergewisserung in Reinform praktiziert wird. Die großen Fragen unserer Zeit werden selten zum Thema gemacht - aus Angst vor Komplexität, vor Konflikt, vor Verantwortung.

Diese selbstgewählte Abstinenz ist bequemer als das Ringen mit der Wirklichkeit. Doch sie hat ihren Preis. Wer schweigt, wo das Wort gefordert wäre, macht sich mitschuldig. Wer sich entzieht, wenn Haltung notwendig ist, riskiert die Bedeutung seines Tuns. Denn Literatur ohne Rückbindung an das Leben ist Ornament. Und Intellektualität ohne Mut zur Position wird zur leeren Geste.

Ein Aufruf zur Rückkehr

Es ist Zeit, dass die Literatur sich ihrer Verantwortung neu bewusst wird. Dass Autoren, Essayisten, Dichter und Denker sich nicht länger im Schutz der Ironie oder im Zwielicht der Gleichgültigkeit verbergen. Die Welt braucht keine neuen Apologeten des Ungefähren, sondern mutige Stimmen mit Haltung. Stimmen, die sich einmischen, die streiten, die Widerspruch riskieren.

Denn eine Gesellschaft ohne kritische Literatur, ohne geistige Reibung, ohne sprachliche Spiegelung ihrer inneren Kämpfe - sie verliert an Tiefe, an Reife, an Richtung. Die Rückkehr des engagierten Intellekts ist keine nostalgische Forderung. Sie ist ein Gebot der Stunde.

Nicht alles, was geschrieben wird, verdient den Namen Literatur. Und nicht jeder, der schreibt, ist ein Schriftsteller. In einer Welt der schnellen Worte und flüchtigen Gedanken bleibt jene Literatur von Bedeutung, die nicht nur gelesen, sondern erinnert wird - weil sie etwas wagte. Jetzt wäre der Moment, es wieder zu tun.

Über Abdelhak Najib*
Übersetzung aus dem Französischen