Der Wasserträger von Marrakesch
Völlig unerwartet - im Nachhinein aber sehr geschickt - beginnt Noureddine Belhaouari den ersten Teil seines Romans mit einer Parabel. Die geliebte Ziege eines Bauern möchte sich trotz seiner Warnung allein in die Welt aufmachen. Trotz ihres Mutes, den Wunsch nach Selbständigkeit zu realisieren, gelingt es ihr nicht, den Fängen des Wolfes zu entkommen.
Eine Rezension von marokko-erfahren
Der Geschichtenerzähler Maulana verzaubert im zweiten Teil des Romans seine Zuhörer in Marrakech regelmäßig nach dem Freitagsgebet mit seinen Erzählungen, die er mit immer dem gleichen Segensspruch beginnt. Sehr bildlich beschreibt Belhaouari diesen Erzähler so:
Auf seiner Stirn lag ein Lichtglanz, welcher Heiterkeit, Genügsamkeit und tiefen Glauben ausstrahlte, und auf seinen Lippen ein leichtes Lächeln, das seine Liebe zu den Menschen verriet. Nach einer kurzen Weile hob er seinen Kopf und beobachtete die Hörerschaft, als wollte er sich jedes Gesicht für die Ewigkeit einprägen.
Woche für Woche berichtet Maulana [Maulana ist ein beliebter und berühmter Geschichtenerzähler in Marrakesch] von Zahras Schicksal. Nach einer gescheiterten Ehe mit dem vergeblichen Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen, kehrt die junge Frau allein in ihre Heimat zurück. Nach alter Tradition sind die Eltern sehr bemüht, ihr sofort einen neuen Ehemann zu besorgen, um die Schande der Tochter wieder auszugleichen. Zahra fasst Vertrauen zu Kinku, einem ca. 30jährigen Waisen, der ihren Eltern als Wasserträger dient. Er hilft Zahra bei der Flucht vor einer neuen Ehe, vermittelt ihr die Adresse einer in Casablanca lebenden Freundin und verabschiedet sie mit den Worten:
Möge Gott alles Übel von dir wenden!
Der Wasserträger von Marrakech, Verrai Verlag, ISBN 978-3-948342-30-2 |
Gehe deinen Weg und schätze den Geschmack der Freiheit und der Unabhängigkeit. Doch gebe Acht, denn die Unabhängigkeit öffnet nicht nur die Tore des Glücks, sondern auch des Unglücks und der dünne Faden zwischen den beiden ist für viele unsichtbar.
In der siebten Woche erscheint Maulana nicht mehr auf dem Platz zum Erzählen. Das plötzliche Auftauchen von Saïd, dem ehemaligen Ehemann von Zahra wühlt seine Erinnerungen sehr auf und raubt ihm fast die letzte Kraft.
Im dritten Teil berichtet Zahras Freundin Bahiya, die gemeinsam mit ihr in einer Wohnung in Casablanca gelebt hat Saïd über das Schicksal seiner Ehefrau. Abend für Abend beginnt das Gespräch der beiden mit der Beschreibung einer brennenden Kerze auf einem Holztisch. Von ihr erfährt Saïd außerdem, wie der Wasserträger Kinku zum Geschichtenerzähler und Imam Maulana wurde und welche Rolle er in Zahras Leben spielte.
Mut und der Wunsch nach der eigenen Vorstellung leben zu wollen, stehen auch im heutigen Marokko noch oft im krassen Gegensatz zu überlieferten Traditionen und fordern - wie bei Zhara - sicher manch ein Schicksal heraus.