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Der Wasserträger von Marrakesch

Völlig unerwartet - im Nachhinein aber sehr geschickt - beginnt Noureddine Belhaouari den ersten Teil seines Romans mit einer Parabel. Die geliebte Ziege eines Bauern möchte sich trotz seiner Warnung allein in die Welt aufmachen. Trotz ihres Mutes, den Wunsch nach Selbständigkeit zu realisieren, gelingt es ihr nicht, den Fängen des Wolfes zu entkommen.

 

Eine Rezension von marokko-erfahren

Publikum um den Märchenerzähler, Foto: Thomas LadenburgerDer Geschichtenerzähler Maulana verzaubert im zweiten Teil des Romans seine Zuhörer in Marrakech regelmäßig nach dem Freitagsgebet mit seinen Erzählungen, die er mit immer dem gleichen Segensspruch beginnt. Sehr bildlich beschreibt Belhaouari diesen Erzähler so:

Auf seiner Stirn lag ein Lichtglanz, welcher Heiterkeit, Genügsamkeit und tiefen Glauben ausstrahlte, und auf seinen Lippen ein leichtes Lächeln, das seine Liebe zu den Menschen verriet. Nach einer kurzen Weile hob er seinen Kopf und beobachtete die Hörerschaft, als wollte er sich jedes Gesicht für die Ewigkeit einprägen.

Woche für Woche berichtet Maulana [Maulana ist ein beliebter und berühmter Geschichtenerzähler in Marrakesch] von Zahras Schicksal. Nach einer gescheiterten Ehe mit dem vergeblichen Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen, kehrt die junge Frau allein in ihre Heimat zurück. Nach alter Tradition sind die Eltern sehr bemüht, ihr sofort einen neuen Ehemann zu besorgen, um die Schande der Tochter wieder auszugleichen. Zahra fasst Vertrauen zu Kinku, einem ca. 30jährigen Waisen, der ihren Eltern als Wasserträger dient. Er hilft Zahra bei der Flucht vor einer neuen Ehe, vermittelt ihr die Adresse einer in Casablanca lebenden Freundin und verabschiedet sie mit den Worten:

Möge Gott alles Übel von dir wenden!

 

Buchcover "Der Wassertrager von Marrakesch" von Noureddine Belhaouari. Verrai Verlag, ISBN 978-3-948342-30-2

Der Wasserträger von Marrakech, Verrai Verlag, ISBN 978-3-948342-30-2

Gehe deinen Weg und schätze den Geschmack der Freiheit und der Unabhängigkeit. Doch gebe Acht, denn die Unabhängigkeit öffnet nicht nur die Tore des Glücks, sondern auch des Unglücks und der dünne Faden zwischen den beiden ist für viele unsichtbar.

In der siebten Woche erscheint Maulana nicht mehr auf dem Platz zum Erzählen. Das plötzliche Auftauchen von Saïd, dem ehemaligen Ehemann von Zahra wühlt seine Erinnerungen sehr auf und raubt ihm fast die letzte Kraft.

Im dritten Teil berichtet Zahras Freundin Bahiya, die gemeinsam mit ihr in einer Wohnung in Casablanca gelebt hat Saïd über das Schicksal seiner Ehefrau. Abend für Abend beginnt das Gespräch der beiden mit der Beschreibung einer brennenden Kerze auf einem Holztisch. Von ihr erfährt Saïd außerdem, wie der Wasserträger Kinku zum Geschichtenerzähler und Imam Maulana wurde und welche Rolle er in Zahras Leben spielte.

Mut und der Wunsch nach der eigenen Vorstellung leben zu wollen, stehen auch im heutigen Marokko noch oft im krassen Gegensatz zu überlieferten Traditionen und fordern - wie bei Zhara - sicher manch ein Schicksal heraus.

 


Wer ist Noureddine Belhaouari

 

Noureddine BelhaouariAuf der Suche nach Literatur über Marokko tauchte der von Belhaouari 2021 geschriebene Roman „Der Wasserträger von Marrakech“ auf. Klang interessant - und tatsächlich kam das Buch nach einem kurzen Schriftwechsel mit dem Autor ins Haus geflattert. Das erste Lesen - nennen wir es atemloses Einatmen… Einfühlsam, informativ und spannend geschrieben, der interessant gestaltete Aufbau löst sich dem Leser erst zum Schluss auf.

Wer ein so interessantes Buch schreibt, muss auch ein interessanter Mensch sein, dachte marokko-erfahren und bat den Autor um ein Interview. Gern kam Belhaouari diesem Wunsch nach. 1967 in Marrakech geboren, wuchs Noureddine sicher in einer Stadt auf, die ihrem märchenhaften Ruf damals wohl noch deutlich näher war, als das heute so touristisch gestylte Marrakech. Das spürt man in seiner Antwort auf die Frage nach einem prägenden Kindheitserlebnis:

An einem späten Nachmittag des Monats September, wenn die Sonne erbarmungsvoll dem Untergang nah war, schlüpften die ersten Schwalben aus ihren Nestern und gaben dem Muezzin das Signal, die Passanten zum Gebet zu rufen. Die Menschen trotteten langsam und von ihren Siestas noch halb trunken durch die engen kühlen Gassen. Als kleines Kind im großen Hof des Hauses, lag ich rücklings und träumte vor mich hin. Die vertraute Stimme des Muezzins löste in mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit aus. Ich lauschte, wie die Vögel ihr letzte Zwitschern stimmten, bevor die Dämmerung ihr violettes Gewand über die Stadt warf.

Später stellt das Schicksal die Weichen für Noureddine, im Nachhinein muss es wohl eine gute Fügung gewesen sein… Nach Ende der 10. Klasse standen ihm drei Wahlfächer offen: Englisch, Deutsch und Spanisch. Als er sich einschreiben wollte, hatten seine Kommilitonen das Rennen um die beliebteste Sprache Englisch bereits unter sich ausgetragen. So teilte ihm die Schulleitung einen Platz in einer Klasse mit Deutsch als Wahlfach zu. Nachdem Noureddine vergeblich alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um sich einen Wechsel in eine Englisch-Klasse zu ermöglichen, akzeptierte er die Entscheidung und begann, sich mit der deutschen Sprache anzufreunden. Sehr positiv äußert er sich über seinen damaligen Lehrer, unter dessen Leitung Noureddine gern lernte: … der Lehrer, den wir hatten, pflegte einen anderen Umgang mit uns. Er war entspannter, modern und sehr nett, was meine Neugier noch schärfte. So trat er als einer der Besten in Deutsch zum Abitur an

Noureddine BelhaouariDanach entschied er sich spontan, in Casablanca Germanistik zu studieren, ein Zeichen dafür, dass seine ehemalige Schulleitung keine schlechte Sprachenwahl getroffen hatte! Die Eltern sahen ihren Sohn in einem zukünftigen Beruf als Polizist oder Arzt, daher reagierten sie verständlicherweise verblüfft und enttäuscht, als Noureddine ihnen zwei Jahre nach Studienbeginn mitteilte, er werde in Deutschland weiter studieren. Er beschreibt die Reaktion seiner Eltern so: Beide waren sprachlos. Sie wussten nicht einmal, ob dieses Land, Deutschland, überhaupt existierte.

Unbefangen, naiv und vorurteilsfrei nennt er rückblickend seinen Start in einer gänzlich anderen Kultur, die er positiv aufnimmt: Es war wie, wenn ich gerade geboren wurde, alles war neu für mich. Ich hatte zum ersten Mal ein eigenes Zimmer und eine gewisse Intimität. Alles, was die Menschen erzählten, faszinierte mich.

Erst Jahre später begann für Noureddine eine Reise in seine Seele, begann die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft, mit seiner Kultur, dem Spagat zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen. Im Nachhinein ist ihm bewusst, dass er immer wieder auf Menschen mit Vorurteilen traf, für ihn jedoch die Begegnungen mit guten und netten Menschen in Deutschland prägender waren.

Und wer selbst schon einmal in Marokko war, dem wird die folgende Frage völlig selbstverständlich sein, die Antwort Noureddines ebenso: Was haben Sie aus ihrer Heimat am meisten vermisst? Ich habe das Essen und die Sonne vermisst. Ich habe die Langsamkeit und die Unbefangenheit der Menschen vermisst. Ich habe den Zusammenhalt meiner Familie und die schönen warmen Abende der Stadt Marrakesch vermisst. Ich wollte damals viel von dem, was ich erlebte, weitererzählen, aber ich konnte nicht, denn es gab gar kein Telefon bei uns Zuhause.

Wer in zwei Kulturen zu Hause ist, so wie Noureddine mittlerweile, der genießt auch zwei Esskulturen. Knödel mit Sauerkraut schmecken ihm genauso, wie gute Rinderrouladen. Und eine Tajine wird ihn auch weiterhin im Leben begleiten.

Ja, und ein Leben in zwei Kulturen bedeutet auch arbeiten in zwei Kulturen. Sein Studium der Germanistik, erweitert durch Romanistik bescherte ihm Arbeit als Lehrer und Pädagoge, mittlerweile widmet er seine Zeit dem Schreiben. Bereits seit seiner Kindheit begleitet ihn ein Mitteilungsbedürfnis und der Wunsch, eine Geschichte zu erzählen. Noureddine begründet diesen Wunsch: Und ich wollte immer verstehen. Die Welt verstehen, die Menschen verstehen und durch das Schreiben gelingt es mir bisweilen Dinge zu verstehen.  

Und ihm gelingt durch sein Schreiben noch mehr - nicht nur das eigene Verstehen. Liest man mit offenem Herzen seinen Roman, erfährt man viel über Kultur, Sitten, Gebräuche und einen Teil der Geschichte Marokkos - nahegebracht durch einen spannend erzählten Inhalt.

Und so ist auch nachvollziehbar, dass Noureddine nie ganz auf die Quelle seiner Kraft verzichten kann. Schöner, als er es tut, kann man Liebe zur Heimat kaum ausdrücken: Ich kann nicht auf Marrakesch verzichten, die Stadt bleibt für mich immer ein Sehnsuchtsort, eine Quelle der Bescheidenheit, woraus ich stets trinke, um mich erden zu können.

Danke, Noureddine für die so offene und ausführliche Beantwortung der Fragen.

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