Wie kann man in die Menge eintreten, ohne sich in ihr aufzulösen?
Die Frage, wie wir uns in die Welt der anderen einfügen können, ohne dabei unsere eigene Identität zu verlieren, berührt das Herz unseres Menschseins. Sie führt uns zu der Spannung zwischen Verbundenheit und Individualität, zwischen Empathie und Selbstbewahrung. Diese Balance zu finden, ist nicht nur eine persönliche Herausforderung, sondern auch eine philosophische und spirituelle Reise - eine Suche nach dem Schatz unserer einzigartigen Seele.
Aus der Geschichtensammlung "Weisheiten, und Witz von Joha" von Prof.Dr. Faouzi Skali.
Wenn du ich bist, wer bin ich dann?Eines Tages begab sich Joha(*1) in eine Herberge, ein Foundouk(*2), und war entsetzt über das wimmelnde Ameisentreiben der Menschen, das ihn von allen Seiten umgab. Menschen strömten herein und hinaus, kauften und verkauften, saßen oder lagen in den unzähligen Räumen, die sich über alle Stockwerke erstreckten. Plötzlich überkam ihn ein beängstigender Gedanke: Was, wenn er sich in diesem Chaos endgültig verlöre, sich mit den anderen vermischte und nicht mehr wüsste, wer er selbst war? Von Angst ergriffen, setzte er sich auf das Bett, das er gemietet hatte, und wagte nicht einzuschlafen. Schließlich erleuchtete ihn ein Gedanke. Er beschloss, sich ein Stück Schnur um den Fuß zu binden. Dann würde es keinen Zweifel mehr geben - beim Aufwachen wäre er zweifellos der Mann mit der Schnur am Fuß. Erleichtert ließ er sich vom Schlaf übermannen. Sein Nachbar, der ihn aufmerksam beobachtet hatte und sich fragte, was in ihm vorgehen mochte, beschloss, ihm einen Streich zu spielen. Er wartete, bis Joha in tiefen Schlaf gefallen war, und entfernte die Schnur von dessen Fuß, um sie einem anderen Gast anzulegen, der in der Nähe schlief. Als Joha erwachte, stellte er bestürzt fest, dass die Schnur nicht mehr an seinem Fuß war, und entdeckte sie schließlich am Fuß seines Nachbarn. Er schüttelte den Mann wach und fragte ihn mit äußerster Erregung: „Sag mir, wenn du ich bist, wer bin dann ich?“ |
Wie kann man in die Menge eintreten, ohne sich in ihr aufzulösen?
Das ist die große Frage der Identität, sei sie individuell oder kollektiv. Die Menschen sind empathische Spiegelbilder ein und desselben „Ich“. Doch jeder Mensch besitzt eine Einzigartigkeit, die ihn unverwechselbar macht. Diese Einzigartigkeit fürchtet er zwar zu verlieren, doch vor allem sucht er sie zu entdecken. Ich muss mich vollständig in den anderen hineinversetzen können, die Welt durch seine Augen verstehen und entdecken, ohne mich jedoch jemals mit ihm zu identifizieren und meine eigene Einzigartigkeit aufzugeben. Diese Übung ist die wahre Grundlage jeder Kommunikation, die sich nicht auf eine bloße Verwirrung oder Identifikation von Standpunkten reduzieren lässt, wie Joha es befürchtete.
Die Sufis sagen, die Menschen seien Schleier, denn wenn wir uns mit ihnen identifizieren, verlieren wir den Sinn für unsere wahre Identität. Doch sie sind auch Tore, die uns den Eintritt in Welten ermöglichen, die von unserer eigenen verschieden sind, und uns letztlich tiefer über uns selbst nachdenken lassen. Dies ist die symbolische Bedeutung einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, in der man erfährt, dass man weit von seinem Land und seinem Zuhause reisen muss, um von einem anderen zu erfahren, wo sich in unserem eigenen Garten ein verborgener Schatz befindet. Der Schatz einer spirituellen und universellen Identität, einer Seele, die ein einzigartiger Prototyp unserer Menschlichkeit ist.
Infos über Faouzi Skali* finden Sie hier
Übersetzung aus dem Französischen
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(*1) Joha ist eine legendäre und beliebte Figur in Volkserzählungen, Fabeln und Anekdoten. Joha verkörpert eine Mischung aus Weisheit und Naivität, Schläue und Torheit, und seine Geschichten sind oft humorvoll, aber auch tiefgründig und lehrreich. In Marokko ist Joha eine Figur, die sowohl Kinder als auch Erwachsene unterhält. Seine Geschichten werden oft in Familien erzählt und dienen dazu, moralische Lektionen zu vermitteln oder einfach nur zu lachen.
(*2) Foundouk ist eine Art Karawanserei, die historisch als Unterkunft für Händler, Reisende und ihre Tiere diente. Foundouks waren wichtige Knotenpunkte entlang der Handelsrouten und spielten eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Leben. Hier konnte man übernachten, Tiere unterstellen und Waren lagern, ausstellen, verkaufen und/oder tauschen.
(*3) Wie kann man in die Menge eintreten, ohne sich in ihr aufzulösen? Reflektieren der Frage nach Identität und Empathie in menschlichen Beziehungen: Identität (Jeder Mensch besitzt ein eigenes „Ich“, doch gleichzeitig sind Menschen in ihrem Wesen miteinander verbunden), Empathie als Spiegelbild (Menschen können sich gegenseitig reflektieren und verstehen, ohne die eigene Identität, die ihn von anderen unterscheidet aufzugeben), Zwiespalt der Einzigartigkeit (Das Spannungsfeld zwischen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und dem nach Selbstverwirklichung), die wahre Bedeutung von Empathie (Ein Mensch kann sich in den anderen hineinversetzen, um seine Perspektive nachzuvollziehen, ohne dabei die eigene Einzigartigkeit aufzugeben) und Kommunikation als Balanceakt (Kommunikation gelingt nur dann, wenn sie über das bloße Übernehmen oder Vermischen von Standpunkten hinausgeht).