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Marokkanischer Sufismus als Quelle geistiger Erneuerung

Obwohl noch nicht gänzlich ergründet, entspringt ihm eine überaus reiche und schöpferische gesellschaftliche Kraft. In Marokko bilden die Kulturen und Werte des Sufismus ein Paradigma, ja, man könnte sie als lebendige Schatzkammer der Zivilisation begreifen. Wer sich davon überzeugen will, der möge nur den staunenswerten Reichtum und die schillernde Vielfalt der Sufi-Literatur in unserem Land erkunden.

 

Festival der Sufi-Kultur in Fès, Foto: FestivalCultureSoufie.comEines der ältesten Zeugnisse dieses Erbes, betitelt „Einblicke in die Zeiten der Sufis“ von Ibn al Zayyât al Tâdilî [war ein marokkanischer Gelehrter, Sufi-Biograf und Historiker des 13. Jahrhunderts], wurde in einer bemerkenswerten kritischen Ausgabe des Historikers und Schriftstellers Ahmed Taoufiq, seines Zeichens Minister für islamische Angelegenheiten, herausgegeben.

Gerade die innige Verbindung zwischen spiritueller Erfahrung und der farbenfrohen Mannigfaltigkeit kultureller und sozialer Ausdrucksformen möchten wir in diesen Betrachtungen erhellen. Denn eines der kostbarsten Kennzeichen des Sufi-Weges ist es, die seltene Fügung zweier Wandlungen zu ermöglichen: jener der inneren Verwandlung des Einzelnen und jener der kollektiven Erneuerung. In diesem Wechselspiel zwischen dem Persönlichen und dem Gemeinsamen keimt eine Kultur, die sich dem Wandel der Zeiten und Orte anpasst und doch ihr höchstes Ziel darin erkennt, universelle geistige Werte zum Ausdruck zu bringen.

Die Weisheitslehren, Lieder, Kunstwerke und Schriften des Sufismus entfalten sich in den Sprachen und Kulturen des indischen Subkontinents, Schwarzafrikas, des Maghreb, Asiens, Mitteleuropas und des Mittleren Ostens. Sie zeugen von der Notwendigkeit, über die Enge unseres Selbst, sei es individuell oder kollektiv, hinauszuwachsen, um jenem letzten und höchsten Sinn für Liebe, Erkenntnis und Mitgefühl teilhaftig zu werden - jenen fundamentalen Werten, die allen großen Traditionen der Weisheit gemeinsam sind.

Dies aber setzt voraus, dass wir die Stimmen dieser Kulturen nicht als bloße Echos vergangener Zeiten vernehmen, sondern sie vielmehr als lebendige Botschaften betrachten, die uns Heutigen einen fruchtbaren Geistessamen übermitteln. Die höchste Schönheit - jene, von Fjodor Michailowitsch Dostojewski einst sagte, sie werde die Welt retten - offenbart sich in der Weisheit und der Kunst, das Leben zu feiern und in ihm das Erhabene zu erkennen.

Gerade in dieser Zeit, da jede Gesellschaft durch die gegenwärtige Gesundheitskrise zur Selbstbefragung gezwungen wird, ist es von drängender Bedeutung, über die Lehren nachzudenken, die wir daraus zu ziehen bereit sind, und über die Richtung, die wir künftig einschlagen wollen. Inwiefern vermag die geistige Kultur des Sufismus, Antworten auf die gewaltigen Herausforderungen unserer Ära zu geben? Welche Impulse, welche Gedankenströme, welche Zivilisationen könnten dazu beitragen, der Globalisierung eine Seele einzuhauchen?

Es ist offenkundig, dass wir diesen Begriff nicht auf die technokratisch-finanzielle Konnotation beschränken dürfen, die ihm gegenwärtig anhaftet. Vielmehr sollte er Ausdruck einer wechselseitigen Verwobenheit aller Kulturen und Gesellschaften sein, einer Globalisierung, die, wenn klug gelenkt, zu neuer Solidarität und geschwisterlicher Zusammenarbeit führen kann.

Ein solcher Ansatz mag sich in der Skizzierung eines spirituellen Humanismus verdichten, der das Streben nach der Vollendung unserer Menschlichkeit ins Zentrum politischen und wirtschaftlichen Handelns rückt. Es gilt, eine Vision qualitativer und ganzheitlicher Entwicklung zu entwerfen, die, auf gesellschaftlicher wie auf weltweiter Ebene, neue Wege eröffnet - Wege hin zu dem, was Edgar Morin [französischer Philosoph und Soziologe, bekannt für sein interdisziplinäres Denken und seine Theorie der Komplexität] als eine Politik der Zivilisation bezeichnete.

Mögen die Umrisse eines solchen Projekts noch vage und idealistisch anmuten, so zeigt uns doch die Geschichte, dass es immer wieder Epochen gab, in denen Menschen ernsthaft danach trachteten, eine Gesellschaft auf der Grundlage geistiger Werte zu errichten. Unvollkommen gewiss, wie alles Menschliche - und doch stets von edler Absicht geleitet.

So liegt es nun an uns, die Zeichen der Zeit zu deuten und ihre verborgene Gelegenheit zu ergreifen. Wollen wir die Wiedergeburt der Gesellschaft denken, so müssen wir ein Konzept erarbeiten, das dieser Aufgabe gerecht wird. Doch solche Gedanken entfalten erst dann ihre Kraft, wenn sie im rechten Augenblick keimen.

Diese Zeit des Innehaltens könnte zu einer Zeit der Reifung werden. Denn jede gesellschaftliche Wandlung beginnt nicht mit neuen Strukturen, sondern mit einem neuen Bewusstsein - mit einer neuen Art, die Welt zu sehen.

Über Faouzi Skali*
Übersetzung aus dem Französischen