Die Zeit der Monster: Die Menschheit im Spiegel ihres Niedergangs
Abdelhak Najib beschreibt eine Gegenwart, in der der Mensch seine inneren Maßstäbe verliert und sich ein geistiges Vakuum öffnet, das mit Illusion, Manipulation und moralischem Verfall gefüllt wird. Die Monster seiner Zeit sind keine Wesen, sondern deformierte Spiegelbilder einer Menschlichkeit, die sich von ihren eigenen Möglichkeiten entfernt hat. Najib verfolgt den Gedanken, dass der Zerfall nicht im Außen beginnt, sondern in der Preisgabe der inneren Größe. Sein Essay ist eine Diagnose, aber zugleich ein Aufruf zu Klarheit, Selbstprüfung und erneuter geistiger Verantwortung.

Einer der größten Geister der Geistesgeschichte gelangte nach Jahrzehnten des Forschens und beharrlicher Arbeit zu einer Überzeugung, die keinen Schatten duldet. Für August Strindberg ist das Gewissen die Gegenwart des Göttlichen im Menschen, verstanden als ein inneres Maß des Handelns und der Klarheit. Heute jedoch, in einer Welt, in der viele nur noch versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen, erscheint die Vorstellung vom Menschen selbst geschwächt und weit entfernt von ihrer einstigen Kraft. Friedrich Nietzsche formulierte es anders und doch verwandt: Gott ist gestorben an seiner Liebe zu den Menschen. Die Bedeutung erschließt sich nur, wenn man weiß, was diese Idee im Denken Nietzsches bedeutet. Das Göttliche im Menschen stirbt, weil der Mensch nicht fähig ist, sich den höchsten Möglichkeiten seines eigenen Geistes zu nähern.
Der Mensch trägt einen Funken in sich, aus dem sich eine tiefere Möglichkeit seiner selbst entfalten kann. Ein oberflächlicher Umgang mit Philosophie mag ins Zweifeln führen. Eine tiefere Beschäftigung führt zu einer inneren Erhebung. Selbst die Idee des Übermenschen bei Nietzsche ist Ausdruck dieses Gedankens. Der Mensch soll seine eigenen Grenzen überwinden, die engen Beweggründe abstreifen und sich einer Menschlichkeit annähern, die durch geistige Höhe und innere Stärke geprägt ist. Es geht darum, sich von der Last der Niederungen zu lösen und in ein klareres, würdigeres Verhältnis zu sich selbst zu treten.
Michelangelo sprach davon, einen Engel im Marmor gesehen und ihn aus der Form befreit zu haben. Diese Vorstellung beschreibt die Aufgabe, das Eigentliche im Menschen freizulegen. Alexis de Tocqueville erinnerte zugleich daran, dass einfache Vorstellungen den Geist großer Gruppen leichter erreichen als komplexe Wahrheiten. Eine klare, wenn auch unzutreffende Idee gewinnt oft mehr Einfluss als eine wahre, deren Komplexität nicht sofort erkennbar ist. Diese Einsicht erhält in unserer Zeit eine besondere Schärfe. Wir leben in einer Epoche, die viele Elemente des Niedergangs vereint. Gewiss hat jede Zeit ihre dunklen Phasen. Doch unsere scheint die härtesten Perioden der Geschichte zu überlagern.
In einem solchen Zustand verlieren Wahrheit, Ordnung und Schönheit ihren Platz. Unser Denken ist durch Nachlässigkeit und Selbstüberschätzung so beschädigt, dass die Klarheit vergangener Epochen uns heute kaum noch erreicht. Man könnte unter Denkern aus Sumer, Babylon, Ägypten oder Griechenland, unter lateinischen und arabischen Philosophen, unter indischen oder chinesischen Meistern oder Schamanen verschiedenster Kulturen leben, und doch würde man ihre Weisheit kaum wahrnehmen. Der Geist ist so ermüdet, dass er ihre Gegenwart kaum noch erkennt. Die Fähigkeit, sich geistig zu sammeln und über den momentanen Zustand hinauszublicken, ist geschwächt. Weder die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln, noch der Wunsch nach einer anspruchsvolleren Haltung sind deutlich erkennbar. Auch der Sinn für das Schöne und der Widerstand gegen die allgegenwärtige, industriell erzeugte Hässlichkeit verlieren an Kraft. Zurück bleibt eine schrittweise Bewegung hin zum Trivialen.
Wie seltsam ist der Gedanke, eine Gegenwart ohne Vergangenheit formen zu wollen, einen Baum ohne Wurzeln zu pflanzen, zu glauben, man könne Orientierung finden, ohne Werte zu haben. Das heißt, die Erfahrungen der Völker geringschätzen und die Gedanken großer Geister zu missachten. Die Geschichte ist voller Irrtümer. Der größte ist vielleicht der Glaube, die Welt müsse immer wieder neu geschaffen werden. Die Aufgabe der Gegenwart wäre eher, ihren weiteren Zerfall aufzuhalten.
Zugleich gilt, dass der Weg zu diesem höheren Anspruch an sich selbst keinem Dogma folgt. Das, was hier als eine besondere Form des Inneren bezeichnet wird, ist nicht an Glaubenssysteme gebunden, sondern entsteht aus einem Denken, das sich mit einem Geist verbindet, der Betrachtung, Klarheit und eine innere Ausrichtung sucht. Es geht darum, jener Mensch zu werden, der die eigenen Möglichkeiten verwirklicht. Wer seinem Leben Gestalt gibt und es bewusst formt, nähert sich diesem Ziel. Ein solches Leben wäre eines, das man ohne Zögern erneut leben würde.
Selbsterkenntnis ist der erste Schritt. Heraklit sagte, die Lehre sei eine zweite Sonne für jene, die sie empfangen. Bildung entsteht aus dem Sieg über die eigenen Grenzen und ebenso aus den eigenen Fehlern. George Bernard Shaw bemerkte, ein Leben mit Irrtümern sei ehrenvoller und nützlicher als ein Leben, in dem man nichts wagt. Kierkegaard fügte hinzu, dass Wagnis für einen Moment den Halt nehmen kann, während das Nichtwagen die eigene Person aufgibt.
Am Ende solcher Erfahrungen tritt ein Moment der Wandlung ein, eine innere Form der Veränderung. Strindberg sah in diesem Prozess die Bedeutung der Einsamkeit. Für ihn bestand sie darin, sich in die eigene Seele zurückzuziehen und in diesem geschützten Raum die heranreifende Verwandlung abzuwarten. Solche Phasen gehören zu den Voraussetzungen eines Bewusstseins, das sich entwickelt.
Doch die Wirklichkeit der Moderne ist hart. Eine neue Wüste ist entstanden. Die Religionen fallen in eine Erstarrung zurück, begleitet von einer neuen Form der Vergötzung, der Vergötzung des Menschen durch sich selbst. Albert Camus hoffte dennoch, die höchste Tugend unseres Jahrhunderts könnte darin bestehen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit zu betrachten und sie trotz aller Abgründe nicht aufzugeben.
Die Gegenwart aber lässt Zweifel zu. Der Triumph der Demagogen ist zwar vergänglich, doch die Verwüstungen, die sie hinterlassen, sind dauerhaft. Man kann die Menschen bilden, ohne sie zu formen, sie nähren, ohne sie zu indoktrinieren, sie stärken, ohne sie zu rekrutieren. Und doch bleibt ein hartnäckiger Zug zur Kleinheit bestehen, der sich in vielen Formen zeigt.
Zwei Methoden prägen diesen Prozess. Die erste ist die Verarmung der Sprache. Wenn der Wortschatz schwindet, verlieren wir die Fähigkeit zur Nuance und zur geistigen Tiefe. Die zweite Methode ist die Schaffung von Deckwörtern, Begriffen, die vieles überdecken und das Denken verflachen. Sie erlauben Manipulation und machen Menschen lenkbar. Die Massen suchen keine Wahrheit. Sie wenden sich von dem ab, was ihnen nicht gefällt, und verehren Illusion und Irrtum. Wer ihre Illusionen nährt, wird ihr Herr. Wer sie zerstört, wird zum Feind und schließlich zum Opfer.
Wir sind von Erscheinungen umgeben, die unser Denken überfordern und sich unserem Verständnis oft entziehen. Wir halten uns für kundig und wissen doch kaum etwas. Man kann die Wirklichkeit ignorieren, aber nicht ihre Folgen. Die Herausforderung des Lebens besteht darin, das Wesentliche zu erkennen und das Unwesentliche zurückzulassen. Inmitten dieser Entwicklung muss man der Verflachung widerstehen. Die Welt, wie sie heute erscheint, ist das Ergebnis unserer Gedanken und unserer Überzeugungen. Wer eine andere Welt will, muss mit den eigenen Täuschungen beginnen.
Viele glauben, sie würden denken. In Wahrheit ordnen sie nur ihre Vorurteile neu. Die wenigsten sehen die Welt, wie sie ist. Sie sehen die Welt so, wie sie selbst sind, und projizieren ihren inneren Zustand auf die Wirklichkeit. So entstehen Irrtümer, Fehlurteile, Missverständnisse und Verirrungen. Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts kann, versteht nichts. Wer nichts versteht, bleibt ohne Wert. Wer jedoch versteht, sieht und liebt. Paracelsus brachte es auf den Punkt. Je größer das Wissen über eine Sache, desto größer ist die Zuneigung zu ihr.
Die alte Welt stirbt. Die neue ringt darum, Gestalt anzunehmen. Dies ist die Zeit der Monster.
Najib richtet seinen Blick auf eine Menschheit, die sich selbst aus den Augen verliert. Die Monster, von denen er spricht, sind Sinnbilder für die Verzerrungen, die entstehen, wenn der Mensch seine eigenen Möglichkeiten geringachtet. Die Krise der Gegenwart erwächst für ihn nicht aus äußeren Kräften, sondern aus dem Verlust innerer Klarheit und Disziplin. Wer diese innere Bewegung aufgibt, erzeugt jene Leere, in der Täuschung und Verirrung gedeihen.
Wenn Najib vom göttlichen Atem spricht, meint er jene innere Kraft, die es dem Menschen erlaubt, sich weiterzuentwickeln. Diese Ressource ist vorhanden, wird jedoch selten genutzt. Seine Kritik richtet sich gegen eine Haltung, die Bequemlichkeit über Entwicklung stellt und damit den Blick für Tiefe und Maß einbüßt.
Die historischen Beispiele, die er anführt, sollen zeigen, wie weit sich die Gegenwart von früheren geistigen Kulturen entfernt hat. Er meint damit keine idealisierte Vergangenheit, sondern eine Zeit, in der Denken und Schönheit Orientierung boten. Der Verlust dieser Orientierung ist für ihn nicht das Resultat äußerer Umstände, sondern einer geschwächten inneren Aufmerksamkeit.
Besonders deutlich wird dies in seiner Analyse der Sprache. Ein verarmter Wortschatz führt zu verarmtem Denken. Deckwörter überdecken komplexe Sachverhalte, wirken beruhigend und verhindern Unterscheidung. Begriffe wie Stabilität oder Sicherheit tragen viele mögliche Bedeutungen in sich, ohne eine davon klar auszusprechen. So entsteht eine sprachliche Fläche, die die Welt vereinfacht und Menschen lenkbar macht.
Najib warnt zudem vor der Selbsttäuschung jener, die glauben zu denken, während sie nur ihre Vorurteile ordnen. Der Mensch sieht die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie er selbst ist. Diese Projektion hält er für eine der zentralen Quellen des Irrtums.
Ein weiterer Kern seines Essays ist die Vorstellung innerer Wandlung. Fehler sind für Najib kein Versagen, sondern Material für Reife. Einsamkeit versteht er nicht als Rückzug, sondern als Zustand, in dem Veränderung vorbereitet wird. Die Erhebung, die er beschreibt, ist kein gesellschaftliches Ideal, sondern eine persönliche Bewegung.
Auch seine Warnung vor der Vergötzung des Menschen ist nicht religiös gemeint. Sie gilt einer Haltung, die sich selbst zum Maßstab erhebt und dadurch blind für die eigene Fehlbarkeit wird.
Wenn Najib schließlich von einer alten Welt spricht, die stirbt, und einer neuen, die noch keine Form gefunden hat, beschreibt er einen Zwischenraum. In dieser Phase entstehen die Monster seiner Zeit – Ausdruck einer inneren Unruhe, die aus dem Verlust von Orientierung entsteht.
Najibs Botschaft ist ernst, aber nicht resigniert. Er fordert eine Rückkehr zur Selbstprüfung. Er zeigt, dass die Erneuerung der Welt in der Erneuerung des Einzelnen beginnt. Seine Mahnung gilt nicht der Gesellschaft im Ganzen, sondern der Würde des Einzelnen.