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Der Atem der Mitte - Der marokkanische Sufismus als Weg zur inneren Balance

In einer Welt, die zwischen Dogma und Leere taumelt, bleibt der marokkanische Sufismus eine lebendige Schule der Mitte - ein Weg, der Herz und Verstand, Tradition und Moderne, Glaube und Menschlichkeit miteinander versöhnt.

Fes Altstadt

Zwischen den engen Gassen von Fès, den stillen Mauern von Tamegroute und den windgegerbten Straßen Essaouiras lebt eine unsichtbare Gegenwart: der Geist des marokkanischen Sufismus. Er ist kein Erbe, das man bewahrt, sondern ein Strom, der fließt - aus der Tiefe der Zeit in die Dringlichkeit des Jetzt.

In den Zaouïas, den spirituellen Häusern des Landes, erklingen noch immer die Gesänge des Samaa*, die rhythmischen Klänge, die Herz und Himmel verbinden. Dort, wo Weihrauch aufsteigt und der Atem der Gläubigen sich mit der Luft der Andacht mischt, scheint ein uraltes Wissen weiterzuleben - das Wissen um das Gleichgewicht der Dinge.

Marrakesch, Jamaa elfna. Foto von Mehmet A. auf Pixabay

Das Mausoläum von Moulay Ali ChrifDiese lebendige Tradition fand jüngst Ausdruck im Internationalen Geistlichen Forum von Moulay Ali Chérif in Marrakesch, wo Denker, Mystiker und Gelehrte aus verschiedenen Ländern zusammenkamen, um die Bedeutung des Sufismus im heutigen Leben neu zu beleuchten. Doch jenseits der Reden und Theorien stand eine tiefere Erfahrung: die Erinnerung daran, dass Spiritualität keine Flucht ist, sondern eine Form des Erwachens.

Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“, zitierte einer der Teilnehmer den großen Meister Ibn Arabi. Dieses Wort, das seit Jahrhunderten in den Sufi-Herzen nachhallt, fasst die Essenz des Weges zusammen: Erkenntnis ist kein intellektueller Akt, sondern eine Offenbarung des Herzens.

Die Stimme der Mitte

Der marokkanische Sufismus verkörpert seit Jahrhunderten jene al-wassateya - die „Stimme der Mitte“ -, die im Islam für Mäßigung, Ausgleich und Mitgefühl steht. Er gründet auf dem Prinzip, dass Wahrheit nicht in Extremen liegt, sondern im Gleichgewicht.

So entstanden in Marokko Schulen des Friedens, Orte der Sanftmut, in denen sich Mystik und Vernunft begegnen. „Der Weg zu Gott führt über den Menschen“, schrieb Abou Madyan, der Meister von Béjaïa. „Und wer den Menschen liebt, hat bereits begonnen, Gott zu erkennen.“

Diese Haltung durchzieht die marokkanische Spiritualität bis heute: Der Sufi zieht sich nicht aus der Welt zurück - er durchdringt sie mit Liebe. Seine Religion ist keine Doktrin, sondern eine Haltung, die in jedem Atemzug das Göttliche zu spüren sucht.

Hamdallah Hafez Al-Safadi aus Kairo brachte es einst auf den Punkt: „Der Sufi lehrt nicht, indem er spricht, sondern indem er liebt.“ Diese Liebe, still und kompromisslos, ist das, was den marokkanischen Sufismus zu einer Brücke macht - zwischen den Kulturen, zwischen den Religionen, zwischen dem Menschen und sich selbst.

Ein Weg zwischen Himmel und Erde

Für viele marokkanische Denker und spirituelle Führer ist der Sufismus das Herz der nationalen Identität - tief verwurzelt in der prophetischen Linie und zugleich offen für den Dialog mit der Welt. Unter der Schirmherrschaft von König Mohammed VI., hat sich diese geistige Tradition zu einem modernen Modell der religiösen Erneuerung entwickelt: tolerant, humanistisch und fest verankert im ethischen Kern des Islam.

So ist der Sufismus in Marokko nicht nur ein spiritueller Weg, sondern ein sozialer Auftrag. Die Sufi-Bruderschaften engagieren sich in Bildung, Kultur und Jugendarbeit; sie wirken den Versuchungen von Fanatismus und Entwurzelung entgegen. Sie lehren durch Beispiel, dass der Glaube nicht spaltet, sondern verbindet.

Der Ozean des Sufismus hat keine Küsten“, schrieb Dschalal ad-Din Rumi. „Wer sich hineinbegibt, verliert sich nicht - er findet sich wieder.“ Vielleicht liegt genau in dieser Offenheit seine bleibende Kraft: Der marokkanische Sufismus erinnert daran, dass die Mitte kein Kompromiss ist, sondern ein Ort der Wahrheit - dort, wo Menschlichkeit beginnt.

Der marokkanische Sufismus ist ein stiller, aber beständiger Herzschlag der islamischen Welt. Er verbindet die spirituelle Tiefe der Vergangenheit mit den Herausforderungen der Gegenwart - und zeigt, dass Frieden nicht in der Abwesenheit von Konflikten liegt, sondern im Gleichgewicht der Seele.

 

 

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Das arabische Wort „Samaa“ bedeutet wörtlich Hören oder Zuhören. Im Kontext des Sufismus bezeichnet es eine spirituelle Praxis des Zuhörens - nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen. Es ist eine Form des musikalisch-poetischen Rituals, bei dem Lobgesänge (Madih Nabaoui), rhythmische Wiederholungen des göttlichen Namens (Dhikr) und spirituelle Musik miteinander verschmelzen, um den Gläubigen in einen Zustand innerer Sammlung und göttlicher Gegenwart zu führen.

Im marokkanischen Sufismus ist das Samaa tief verwurzelt. Es ist keine bloße Darbietung, sondern eine Form des Gebets durch Klang, Rhythmus und Schwingung. Die Teilnehmer hören den Gesang als göttliche Botschaft - jede Note, jedes Wort öffnet einen Raum der Meditation.

Der große Mystiker Dschalal ad-Din Rumi schrieb dazu: „Nicht der Ton bringt dich zu Gott, sondern das Lauschen in deinem Inneren.“ So ist Samaa letztlich weniger ein Konzert als ein innerer Dialog - eine Begegnung zwischen Klang und Seele.