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Wenn ein Mensch plötzlich von einer Maschine abhängig wird

Roman Si Dieu nous prete vie von Prof.Dr.Med. Intissar Hddiya, Foto: Orion-VerlagIn Marokko leiden viele Menschen, wie auch weltweit, an schweren Nierenerkrankungen, die potenziell lebensbedrohliche Komplikationen mit sich bringen können. Diese Krankheiten verlaufen oft heimtückisch und werden erst in einem fortgeschrittenen Stadium erkannt.

Eine der größten Herausforderungen bei der Behandlung dieser Erkrankungen in Marokko sind die hohen Behandlungskosten, insbesondere für die ^, sowie die begrenzten Möglichkeiten für Nierentransplantationen. Trotz intensiver Bemühungen des Staates, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft bleibt die Versorgungslage schwierig.

Wenn Gott und Leben schenkt, Roman von Intissar Hddiya, Foto: Orion-Verlag

 

Leseprobe aus dem Roman „Si Dieu nous prête vie“, „Wenn Gott uns Leben schenkt“ von Intissar Haddiya

Dieser Roman beleuchtet dieses Thema auf eindringliche Weise durch fiktive Charaktere, die jedoch durchaus real existieren könnten. Pflegekräfte werden in den Geschichten der Protagonisten viele Gemeinsamkeiten mit ihren eigenen Patienten finden. Sheriff, eine zentrale Figur des Romans, hofft sehnlichst auf eine Nierentransplantation, die ihm als letzte Hoffnung auf ein fast normales Leben erscheint. Seine Verzweiflung und Hoffnung sind tief berührend und nachvollziehbar. Nadia, eine weitere wichtige Figur, leidet an einer besonderen psychischen Belastung, die eine umfassende, sowohl medizinische als auch psychosoziale Pflege bräuchte.

Der Roman ist eine ergreifende Erzählung, die das Licht auf das Leben einer oft übersehenen Gemeinschaft wirft. Es ist eine Geschichte von Menschen, die trotz ihrer unterschiedlichen persönlichen Hintergründe gemeinsame Hoffnungen und Träume teilen. Eine Geschichte der Liebe, des Schmerzes und der Hoffnung, die die Härten und Zwänge des Lebens mit Dialyse auf berührende Weise darstellt.

Dieser Bericht soll Bewusstsein schaffen und die Gesellschaft auf die Herausforderungen und Bedürfnisse von Menschen mit Nierenerkrankungen aufmerksam machen. Es ist ein Aufruf zur Unterstützung und ein Plädoyer für mehr Forschung und bessere Versorgung, um den Betroffenen eine hoffnungsvollere Zukunft zu ermöglichen.

Ein Tag im Wartezimmer: Leben, Stimmen und Geschichten

Bald wird die stille und leere Atmosphäre dieses Saals von Leben erfüllt sein, wenn sich einzigartige Existenzen kreuzen, vermischen und verschmelzen. Die Ruhe wird durch leidenschaftliche Diskussionen und hitzige Debatten durchbrochen, während freudiges Lachen die ernsten Gespräche auflockern. Der Raum wird durch das rhythmische Piepen der Alarme und die Kommentare der Pflegekräfte lebendig, die wie ein integraler Teil der Raumdekoration wirken.

Schwere, hartnäckige Schritte dringen in den Warteraum vor. Man hört das Klappern eines Stocks auf den Fliesen, gefolgt von leichteren Schritten, wahrscheinlich einer Frau. Flüstern und leise morgendliche Begrüßungen füllen den Raum, durchbrochen von gelegentlichen Seufzern. Mit der Zeit wird das Stimmengewirr lauter und die Echos vermischen sich, bis es fast unmöglich wird, einem einzelnen Gespräch zu folgen.

Das Kommen und Gehen zwischen dem Wartezimmer und den Umkleidekabinen wird immer hektischer. Inmitten dieses Durcheinanders sticht plötzlich eine raue Stimme heraus, einzigartig in ihrer Tonart und Kühnheit: Rachida ist angekommen. Im Gegensatz zu den anderen setzt sie sich nicht. Ihre Hände bleiben in den Taschen ihrer ausgewaschenen blauen Jeans, bis sie ihre rechte Hand hebt, um ihre dicke, runde schwarze Plastikbrille zurechtzurücken. Ihre Bewegungen sind grob, ohne Anzeichen von Eleganz oder Weiblichkeit.

Rachida stellt die Geduld, Verfügbarkeit und Aufmerksamkeit der Pflegekräfte immer wieder auf die Probe. Sie ist unzufrieden und kritisiert alles um sich herum. Ab und zu beleidigt sie sogar einen ihrer unglücklichen Kameraden, der es wagt, ihr zu widersprechen. Für Rachida gibt es nur eine Wahrheit, ihre eigene, und sie fordert deren Anerkennung. Ihre Kritik und Beleidigungen scheinen niemanden mehr zu stören; sie gehen in dem allgemeinen Trubel des Warteraums unter und sind längst Teil der alltäglichen Geräuschkulisse geworden.

Diese Orte, voller Energie, Bewegung und Klang, scheinen außerhalb der Zeit zu existieren. Sie sind Randzonen der Geschichte, erfüllt von Leben und den Geschichten der Menschen, die sie durchqueren.

Wer könnte glauben, dass diese immense Energie von schwer kranken Menschen ausgeht, die durch ihre Gespräche und Interessen eine Illusion von Normalität aufrechterhalten? Diese Patienten scheinen ihre Krankheit akzeptiert zu haben und leben so, als seien sie gesund. Es wirkt, als hätten sie Masken aufgesetzt, um für kurze Zeit in die Rolle gesunder Menschen zu schlüpfen.

Doch sobald man den Dialyseraum betritt, endet diese Illusion abrupt. Die Zeit scheint stillzustehen, die Masken fallen ab und die Patienten nehmen ihren Status als „Kranke auf Lebenszeit“ wieder an. Diese Realität ist unveränderlich, und das wissen sie genau. Ein uninformierter Beobachter würde kaum vermuten, dass diese Menschen Glück haben. Viele andere, hier und weltweit, leiden still und warten in Schmerz und Angst auf das Ende, das jederzeit eintreten kann.

Die Ungewissheit über den Zeitpunkt und die Art des Endes quält sie. Das Schicksal scheint die Tage in einer qualvollen Form des schleichenden Aufschubs zu filtern. Es ist Moha, einer der drei Krankenpfleger im Raum, der die Patienten nach dem festgelegten Zeitplan aufruft. Die erste Sitzung beginnt.

Nachdem Moha die Namen aufgerufen hat, betreten die Patienten den großen Saal. Auch Rachida geht hinein, doch sie wartet nicht, bis ihr Name aufgerufen wird. Moha ignoriert sie und setzt den Aufruf fort. Im Saal teilen sich Moha und seine Kollegen Khadija und Said die verschiedenen Aufgaben. Jeder kümmert sich um „seine Patienten“ und überwacht die Fisteln an den Unterarmen oder Ellbogen der Dialysepatienten. Sie bereiten die Haut mit Betadin vor, bevor sie mit einem kräftigen Stich die Nadel einführen. Diese Prozedur führt zu Krämpfen und schmerzhaften Grimassen auf den Gesichtern der Patienten.

In diesem Raum der Energie, Bewegung und Klänge, scheint die Zeit stillzustehen. Hier wird das Leben in all seinen Facetten sichtbar: die alltäglichen Kämpfe, die scheinbare Normalität und die unvermeidliche Akzeptanz der Krankheit.

Jeder Patient reagiert unterschiedlich auf die große Nadel, die in das gespannte Fleisch eindringt. Die meisten schließen die Augen, falten die Lider oder beißen sich auf die Unterlippe. Nadia jedoch reagiert immer mit einem schrillen Schrei, genau zur gleichen Zeit. Mit ausgestreckter linker Hand und auf ein Minimum beschränkten Bewegungen aufgrund der Verbindung zur Maschine, nutzt sie ihre freie rechte Hand, um Snacks und Lebensmittel zu sich zu nehmen. Diese sind allerdings reich an Kalium und stellen bei Nierenkrankheiten erhebliche Risiken dar.

Aufgrund der Warnungen der Pflegekräfte und einiger disziplinierter Patienten, die sich als Stimme der Vernunft sehen, konsumieren viele Patienten diese Lebensmittel in Maßen, einige jedoch übertreiben. Diese vorbildlichen Patienten, die aus langer Erfahrung mit Dialyse und deren Folgen sprechen, befolgen die Ratschläge und ermutigen andere, es ihnen gleichzutun. Nadia gehört nicht zu ihnen. Sie zeichnet sich durch ihr besonderes Temperament aus, wechselt ihre Stimmung und Mimik doch mit beeindruckender Geschwindigkeit.

Nadia spricht gern über ihr Leben, mischt dabei Freude und Ängste und schafft so eine Atmosphäre des Vertrauens. Ihre Erzählungen lassen den Gesprächspartner sich privilegiert fühlen, einen Einblick in ihr inneres Universum gewonnen zu haben. Oft verlässt man ein Gespräch mit ihr fast dankbar. Manchmal singt sie im großen Saal, wenn sie gute Laune hat. Ihre schiefen, aber bekannten Volkslieder verbreiten trotz allem gute Stimmung.

Alle Patienten, außer Rachida, sind nun angeschlossen. Rachida sitzt neben dem Wachposten der Krankenpfleger und kaut lautstark Kaugummi. Befreit von der richtigen Art zu stehen und zu sprechen, blickt sie Nadia an und kann nicht anders, als ihre Meinung über Nadias Schrei kundzutun, der sie jedes Mal ärgert.

Diese alltäglichen Szenen zeigen das Leben im Dialyseraum in all seinen Facetten: von den unterschiedlichen Reaktionen auf den Schmerz über den Umgang mit Regeln und Verboten bis hin zu den persönlichen Geschichten und Stimmungen der Patienten. Es ist ein Ort, an dem Schmerz und Hoffnung, Disziplin und Rebellion, Leben und Krankheit eng miteinander verwoben sind.

  • „Du machst das absichtlich, Nadia. Jeder hier weiß das. Gib zu, dass du es tust, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen,“ warf Rachida vor.

Nadia, mit unzufriedener Miene und den Blick zum Fenster gerichtet, antwortete:

  • „Ich schreie, weil ich Schmerzen habe, das ist alles... Aufmerksamkeit erregen, nein, Rachida. Ich bin eine gebildete Frau. Ich war früher Lehrerin…“ Während ihres Plädoyers ignorierte sie Rachida völlig.

Moha griff ein und signalisierte Nadia, sich zu beruhigen. Es sei sinnlos, mit Rachida rational zu diskutieren oder sie zu überzeugen. Rachida glaubt fälschlicherweise, sie habe das Monopol auf die richtige Beurteilung der Dinge. Dann wandte er sich an Rachida und erinnerte sie daran, dass ihre Dialyse normalerweise in der zweiten Sitzung stattfinde.

  • „Eigentlich bin ich hier, um den Doktor zu sehen,“ erklärte Rachida. „Meine Hand tut weh. Ich muss in der Nacht darauf geschlafen haben. Gestern ging es noch gut, da bin ich mir sicher.“

Rachidas Fistel funktionierte nicht mehr. Jeder im Saal wusste um die Tragweite eines solchen Ereignisses. Khadija beschloss, die negative Stimmung zu brechen. Sie ging auf Rachida zu, legte ihre Hand auf deren Arm, blickte auf die Fistel und bestätigte die schmerzhafte Beobachtung. Moha trat hinzu, legte ebenfalls seine Hand auf die Fistel in der Hoffnung, einen kleinen Puls zu spüren, und griff dann zu einem Stethoskop.

  • „Oh, mein Gott! Rachida! Was ist denn noch geschehen?“ stieß Moha aus und starrte sie an.

Rachida drehte sich um und zeigte auf die dritte Maschine zu ihrer Rechten. Dort begann Mamoun, ein siebzigjähriger Mann mit dünnem weißem Haar und brauner Haut, einzuschlafen.

  • „Er zum Beispiel hat seit Jahren dieselbe Fistel. Wir haben zusammen mit der Dialyse begonnen. Seine war immer perfekt, während es bei mir mindestens das zehnte Mal ist!“

  • „Du wirst später mit dem Arzt darüber sprechen. Bis dahin, ruhe dich im Wartezimmer aus,“ sagte Moha nachdenklich.

Diese Szenen aus dem Dialyseraum zeigen die Spannungen und Herausforderungen, die Patienten und Pflegekräfte täglich bewältigen müssen. Jeder Tag ist geprägt von Schmerz und Hoffnung, von kleinen Siegen und neuen Rückschlägen. Doch trotz allem bleibt der Raum voller Leben und Geschichten, die den Alltag der Patienten prägen.

Über Intissar Haddiya*
Sinngemäße Übersetzung aus dem Französischen durch marokko.com