Fortschritt und Fatalismus - Marokkos innerer Zwiespalt
In dem folgenden pointierten Beitrag beleuchtet Abdelhak Najib die wachsende Tendenz vieler Marokkaner, ihr eigenes Land pauschal schlechtzureden. Statt Fortschritte anzuerkennen, dominiert ein defätistischer Grundton, der jede Entwicklung misstrauisch verneint. Anhand alltäglicher Begegnungen zeigt Najib, wie weit verbreitet dieser pessimistische Reflex ist - und fragt, warum es so schwerfällt, das Gute zu sehen, ohne das Kritikwürdige zu verdrängen. Es ist ein Plädoyer für Maß, differenziertes Denken und die Rückgewinnung eines konstruktiven Blicks auf die eigene Gesellschaft.
Zwischen Fortschritt und Fatalismus: Marokkos Kampf mit dem eigenen Selbstbild
Warum herrscht ein grundsätzlicher Kulturpessimismus, der das Land und seine Entwicklung in Bausch und Bogen verdammt? der alles Gute und Gelungene in ihrem Land mit einer bloßen Handbewegung hinwegwischt? Warum sind wir derart pessimistisch, dass kaum noch etwas Gnade vor unseren Augen findet? Warum hat sich eine große Mehrheit unserer Mitbürger endgültig in der Haltung eingerichtet, ausschließlich das Schlechte zu sehen - überall und in allem? Warum, trotz all der positiven Entwicklungen in diesem Land, beharrt diese überwältigende Mehrheit darauf, grundsätzlich alles zu kritisieren, besonders laut und besonders hart? Warum herrscht auf allen Ebenen, in nahezu jedem Bereich, eine derart ausgeprägte Negativität?
Diese Frage drängt sich auf angesichts eines wachsenden Teils der Gesellschaft, der ausschließlich das Negative in allem erkennt, was in diesem Land unternommen wird. Angesichts unserer fast kollektiven Neigung, alles zu kritisieren, überall das Haar in der Suppe zu suchen - als hätten wir alle die Wahrheit gepachtet -, stellt sich die Frage, wie man Menschen zur Vernunft bringen kann, die sich durch keinerlei Argumente umstimmen lassen. Denn wie es heißt: Für den Gläubigen bedarf es keines Beweises, und für den Ungläubigen ist kein Beweis je ausreichend.
Um das Ausmaß dieses höchst ansteckenden Phänomens zu verdeutlichen, teile ich einige Beispiele mit Ihnen, die die Konturen dieses spezifisch marokkanischen Fatalismus nachzeichnen. Auf dem Weg aus Casablanca Richtung Flughafen Mohammed V entwickelte sich ein Gespräch mit einem Bekannten beinahe zu einem handfesten Streit. „All diese Bauprojekte verändern das Gesicht der Stadt. Das ist doch eine gute Entwicklung für das Land“, sagte ich mit einem Anflug von Stolz. Die Antwort kam scharf und unvermittelt: „Willst du mich auf den Arm nehmen? Das braucht kein Mensch! Das ist das Geld der Armen, das man stiehlt, um Straßen und Brücken zu bauen, und du willst mir erzählen, das sei etwas Gutes?!“, schleuderte er mir entgegen, zornig und in steigender Aggressivität. Stille. Dann fuhr er fort: „Was habe ich von all diesen Straßen, Stadien, Hochhäusern und Großprojekten? Sag du es mir! Nichts. Ich habe nichts davon. Wir alle haben dabei verloren - und zwar gewaltig!“, betont er, als trüge er eine alte Rechnung mit der ganzen Welt aus.
Ich wagte einen Einwand: „In zehn oder zwanzig Jahren werden deine Kinder in einem gut ausgebauten Land leben, mit moderner Infrastruktur, mit Städten, die lebenswert sind, mit Straßen, die ihren Namen verdienen, mit Stadien, Theatern, Museen, Universitäten von internationalem Niveau, mit sauberen Wohnvierteln, grünen Uferpromenaden, mit Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen von hoher Qualität… All das kann doch nur gut und heilsam sein - für dein Land und für meines, lieber Landsmann.“
Er jedoch schaute mich böse an und explodierte förmlich: „Solche Leute wie du machen dieses ganze Chaos erst möglich. Wir wollen das alte Marokko zurück, ohne Straßen, ohne all das - aber ein Land, in dem man Geld verdienen, essen und trinken kann, ohne sich um die Fußball-WM, um Afrika oder sonst etwas zu kümmern. Das alles ist doch nur Zeit- und Geldverschwendung, völlig sinnlos“, schloss er, offenbar zufrieden mit sich. Zur Erinnerung: Dieser Mann ist Universitätsdozent. Mehr muss ich nicht sagen. Der Fall war abgeschlossen.
Ein anderes Gespräch, diesmal mit einem zufälligen Bekannten, endete ebenso abrupt. Das Thema: die Straßenbahn in Casablanca. Für ihn sei das eine „Katastrophe“. Ich wagte zu widersprechen: „Aber die Tram hat doch das Leben von Millionen Casablancais erleichtert.“ Daraufhin geriet er außer sich. Aus einer harmlosen Unterhaltung wurde plötzlich ein Kampf ums Prinzip - als ginge es um Leben und Tod. Ohne mit der Wimper zu zucken, warf er mir vor, ich würde von denen bezahlt, die das Straßenbahnprojekt durchgesetzt haben. Ich versuchte, die Spannung zu lösen, mit einem Scherz: „Das wäre schön gewesen, dann hätte ich wenigstens ein wenig Geld verdient.“ Doch es nützte nichts. Der Mann war außer sich, bereit zum Kampf: „Alles läuft schief in diesem Land. Die Tram ist ein Desaster, der LGV (Schnellzug) eine Katastrophe - und alles, was noch kommt, wird ebenso schlimm.“
So weit also. Alles ist von vornherein verdammt. Keine Chance, auch nur einen Hauch von Optimismus zuzulassen - etwa nach dem Motto: „Das haben wir geschafft, mal sehen, was nach der Tram, nach dem LGV kommt… warum nicht noch größere Projekte, die das Land grundlegend verändern?“ Gleiches gilt für die Autobahnen, die Stadien, die Alleen, die Grünanlagen, die neuen Bahnlinien, die strukturellen Entwicklungsprojekte, die Meerwasserentsalzungsanlagen, den Schutz des öffentlichen Küstenguts oder die Sanierung vernachlässigter Viertel… Nichts davon sei gut, behaupten viele, die alles kritisieren und in allem etwas zu beanstanden haben. „Alles ist schlecht.“ - „In diesem Land gibt es nur Diebe.“ - „Der Staat gibt alles den Drogenbaronen, den Homosexuellen und den Prostituierten.“ - „Das Land gehört einer Mafia.“ - „Wir sind wohl dazu verurteilt, in Armut zu verharren, während andere das Land ausplündern und sich bereichern.“
Die Liste solcher Behauptungen ließe sich noch lange fortsetzen. Es ist das Mantra einer großen Mehrheit unserer Mitbürger - Menschen, die sich hemmungslos im Anschuldigen üben, die jeden beleidigen, die Unwahrheiten verbreiten und fest davon überzeugt sind, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Selbst wenn man ihnen erklärt, dass es auch das Gute gibt in diesem Land, dass es Menschen gibt, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, dass es aufrichtige Patrioten gibt, die von einem dynamischeren, strahlenderen Marokko träumen - sie wollen es nicht hören. Ihre Überzeugungen, gegründet auf Gerüchte, Desinformation, Verleumdung, Lügen und hohle Stammtischparolen, sind hartnäckig wie Granit.
Wenn man tiefer darüber nachdenkt, liegt die Ursache auf der Hand: Wir haben nie gelernt, Beifall zu spenden, wenn etwas gut läuft. Wir sind aufgewachsen in einer Gesellschaft, die - das muss man sich eingestehen - vieles grau malt, wenn nicht gar schwarz. Eine Gesellschaft, die uns einen Pessimismus von schlechter Qualität als Alltagskost serviert.
Wie bekämpft man eine derartige gesellschaftliche Krankheit? Ich weiß es noch nicht. Doch wenn Sie eine Idee haben, bin ich dankbar - vielleicht finde ich so bei meinem nächsten Treffen mit meinem aufgewühlten Freund das passende Wort.
Über Abdelhak Najib*
Sinngemäße Übersetzung aus dem Französischen durch marokko.com