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Versteinerter Riese

Für Homer und Herodot war Atlas ein Titan, der das Himmelsgewölbe stützte. Ein versteinerter Riese, der die riesige Last des Himmels auf seinen Schultern trug. Denn hier, wo das Gebirge im Atlantik versinkt, war der westlichste Punkt der damaligen Welt.

Mssemir, Foto: Muriel Brunswig

  BuchLeseprobe aus dem Reisehandbuch Marokko - Muriel Brunswig & Hartmut Buchholz, Dumont Reiseverlag 2022

Hört man heute das Wort „Atlas“ denkt man nicht unbedingt sofort an den antiken Helden, sondern vielmehr an unser wichtigstes geographisches Nachschlagewerk.

Auch für die Marokkaner*innen ist der Atlas kein griechischer Titan, für sie ist der Atlas das Gebirgsmassiv, das das Land in eine Nord- und Südhälfte trennt. Viele derjenigen, die nördlich des Gebirges wohnen, überqueren den Giganten Zeit ihres Lebens nicht. Für sie spielt sich das Leben in Marokko nur in den nördlichen Regionen ab, in den „grünen“ und in den Städten. Denn nicht nur gefühlt trennt der Hohe Atlas den Norden Marokkos vom Süden. Auch landschaftlich ist der insgesamt 2.300 km lange Gebirgszug, der sich vom Atlantik in Marokko bis in die Ebenen von Tunesien zieht und mehrere 4.000er und 3.000er zu bieten hat, eine Scheitellinie, trennt sie doch die fruchtbaren Ebenen des Nordens von der Vorsahara.

Bis noch vor wenigen Jahrzehnten war die Überquerung des Gebirges ein riesiger Gewaltakt. Und auch heute noch braucht es die richtigen Witterungsverhältnisse und Zeit (und durchaus einen robusten Magen), wenn man einen der wenigen Atlaspässe von Nord nach Süd oder andersherum befahren möchte. Für 100 km – drei oder vier Stunden? Keine Seltenheit.

Die Menschen, die südlich des Atlasgebirges leben, in der Mehrzahl Berber*innen, kennen die langen und anstrengenden Fahrten. Denn nördlich der Berge liegen schließlich alle wichtigen Großstädte Marokkos, die Wirtschaftszentren und Agrarlandschaften. Alleine Agadir am Atlantik ist eine Großstadt, doch wirtschaftlich gesehen sehr viel weniger von Bedeutung als die anderen Städte Marokkos.

Wer im Süden lebt, lebt auf dem Land. Und logisch muss man dann hin und wieder den Pass überqueren, denn wer hat keine Verwandte in Marrakesch oder Casablanca und wer muss nicht mal für den einen oder anderen Großeinkauf mal in die Großstadt? Und so ist der Atlas mit seinen vielen hohen Bergen den Menschen des Südens vertraut.

Tichka, Foto: Muriel Brunswig

Riesig erheben sie sich

Bis in den späten Frühling sind ihre Gipfel mit Schnee bedeckt, die Straßen können selbst im Sommer manchmal unpassierbar sein, z.B. weil ein Steinschlag die Überquerung unmöglich macht, oder natürlich, weil riesige Schneeberge auf über 2.000 m die Pässe verstopft. Und während des Frühlings, vor allem nach der Schneeschmelze, verwandeln sich die Bäche, die in engen Schluchten vor allem nach Süden hin fließen, in reißende Flüsse und machen auch dann das Passieren unmöglich. Doch zum Glück für die Menschen vor Ort hat sich in den letzten Jahren viel getan. Vor allem der wichtigste Pass, der Tizi n’Tichka, wird seit den 2018 dreispurig ausgebaut, u.a. damit Schneeräumfahrzeuge besser durchkommen und Lkws nicht mehr ewig die Straßen blockieren, wenn sie liegenbleiben.

Autochthone Bevölkerung Marokkos

Der Atlas ist eine unwegsame Region, Heimat von Berber*innen, der autochthonen Bevölkerung Marokkos und an manchen Stellen so schwierig zu erreichen, dass viele Orte und Dörfern kaum von der Außenwelt berührt zu sein scheinen. Bergnomad*innen leben in Höhlen oder in einfachen Hütten. Viele Dörfer haben nach wie vor keinen Strom und nur wenige Asphaltstraßen führen überhaupt hierher nach oben, so dass es an vielen Orten weder Krankenstationen noch Schulen gibt. Und doch ist der Atlas kein touristisches Niemandsland. Ganz im Gegenteil. Denn gerade diese Unberührtheit, diese faszinierende und zerklüftete Bergwelt lockt jede Menge Touristen. Nicht so viele wie die Königsstädte oder der Strand – und doch gibt es Regionen, dort ist vor allem in den Sommermonaten ein lebendiger Trekkingtourismus zu finden. Da strömen Heerscharen von Wanderern und Bergsteiger*innen hinauf in die Berge und unternehmen kleine und große Touren – inzwischen nur noch mit Bergführern und Maultiertreibern. Denn so unberührt und fern die Gebirgsorte auch sind, im Herbst 2018 wurden in der Toubkal-Region zwei junge Skandinavierinnen ermordet, die alleine auf einer Hochgebirgstour waren. Als Konsequenz wurden deshalb – zum Schutz der Gäste – das unbegleitete Wandern verboten.

Djebel Toubkal mit seinen 4.167 m ist der höchste Berg Nordafrikas

Berg Toubkal, Foto: Muriel Brunswig

Die meisten zieht es hierbei in die Toubkal-Region. Schließlich ist der Djebel Toubkal mit seinen 4.167 m der höchste Berg Nordafrikas. Außerdem locken hier viele weitere Gipfel und auf der Südseite des Toubkals ein sagenhafter kleiner See, der Lac Ifni, der wie das Auge des Titans stahlblau umgeben von Felsen und Bergen mitten in einem Talkessel liegt. Weniger bekannt, aber fast noch schöner als die Toubkal-Region ist das M’Goun-Massiv, das südöstlich von Marrakech liegt, nahe der Stadt Azilal. Hier oben kann man auf einer herrlichen Hochebene, dem Ait Bougmezz, Tage verbringen, wenn nicht gar Wochen. Außerdem starten hier oben lohnenswerte Atlasüberquerungen, für die man rund 9 Tage einplanen sollte. Ein weiteres Bergsteiger- und Trekkingzentrum ist die Region rund um Imilchil, das den meisten nur wegen des berühmten Hochzeitsmarktes bekannt ist. Auch hier finden sich jede Menge Gîtes und Bergsteiger-Unterkünfte, die zuverlässige und gute Bergführer vermitteln und Touren in die Umgebung anbieten, z.B. zu Seen im Hohen Atlas oder Richtung Djebel Ayachi, der wahrscheinlich unzugänglichsten Region des Hohen Atlas.

Mehr über die Autorin Muriel Brunswig erfahren Sie hier