Zwischen Vorgestern und Übermorgen
Immer wieder stößt der aufmerksame Betrachter in Marokko auf extreme Gegensätze zwischen zukunftsweisender technischer Entwicklung und dem althergebrachten Leben, das eng verwurzelt ist mit lange überlieferten Traditionen.
Durchstreift man die Umgebung von Ouarzazate, fallen solche Gegensätze auf
Nach intensiven Ausflügen mit interessanten Besichtigungen innerhalb der Stadt Ouarzazate durchstreiften wir ungefähr 25 km nordöstlich an der Straße Richtung Demnate die Oase Tidhrest, die sich aus drei Hauptstämmen ehemaliger Nomadenvölker zusammensetzt. Die Oase blickt auf eine lange Geschichte zurück, was unschwer an den uralten Bewässerungssystemen, den Khettaras erkennbar ist, die man dort entdeckt. Hier haben Fatima El Harraz und Mohamed Flilou „Tilila“, ein Museum für traditionelles Erbe mit reichlich 5000 Objekten und Gegenständen in einem architektonisch interessanten Gebäude eingerichtet. Ein lohnenswerter Besuch, der einen tiefen Blick in die vergangene Lebenswelt der Bewohner ermöglicht. Beim Wandern durch das Dorf blendet in der Ferne ab und an ein grelles Licht, aber die interessante Architektur und zahllose weitere Eindrücke drängen diese Wahrnehmung in den Hintergrund.
Außerhalb der Oase stoßen wir auf Steinkreise, möglicherweise Tumuli, die ein Hinweis auf vorislamische Besiedelung sein könnten. Wissenschaftler haben nämlich im Bereich der heutigen Nationalstraße N 23 (sie verbindet die N10 mit Demnate) eine alte Handelsroute über den Atlas lokalisiert. Also alles Zeichen dafür, dass diese Gegend schon lange von vielen Menschen nicht nur durchwandert, sondern auch besiedelt wurde.
In der nahezu vegetationslosen Fläche lässt sich das grelle Licht nun nicht mehr ausblenden. Unsere Blicke schweifen und bleiben an einem Turm hängen, von dessen Spitze dieses Licht ausgeht. Hier ein Leuchtturm? So langsam werden wir neugierig, bewegen uns auf den Turm zu, bis wir vor einem umschlossenen Gelände stehen. Es erfordert schon ein bisschen Kondition, um am ca. 30 km langen Zaun einen Eingang zu finden. Umso größer ist dann die Enttäuschung, dort zu erfahren, dass ein Besuch des Solarkomplexes nur mit schriftlicher Genehmigung aus Rabat erlaubt ist.
Die Anlage verfügt über eine Fläche von ca. 3000 Fußballfeldern
Unser Interesse war geweckt, daher schickten wir eine Mail mit Terminanfrage an den marokkanischen Konzern für nachhaltige Energie Masen mit Sitz in Rabat, der das bei Ouarzazate gelegene Solarkraftwerk Noor betreibt. Relativ zügig erhielten wir eine Buchungsbestätigung mit Termin und Zeitfenster für eine Besichtigung.
Etwas problematischer gestaltete sich dann die Festlegung des Treffpunktes vor Ort. Mittlerweile hatten wir recherchiert, dass die komplette Anlage 3040 ha groß ist - das entspricht etwa 3000 Fußballfeldern - und über zwei bewachte Eingänge verfügt. Wir erkundigten uns - wieder per Mail nach den Koordinaten, damit wir uns pünktlich am richtigen Tor einfinden konnten. Umgehend erhielten wir Antwort in Form einer Luftaufnahme, bei der das Besucherzentrum mitten in der Anlage markiert war.
Noch war aber unsere Frage offen, durch welchen Eingang wir dorthin gelangen könnten, also eine erneute Anfrage in Rabat. Ratlos lasen wir nun die weitere Antwort der hilfsbereiten Dame: „I have no idea!“ So waren wir uns selbst überlassen und fuhren nach unserem Besuch in Tidhrest pünktlich zum nächstgelegenen Tor auf der Ostseite der Anlage, legten dort unsere Genehmigung vor. Freundlich, aber bestimmt wurden wir abgewiesen, hier sei nicht der richtige Zugang für uns, am südlich gelegenen Tor des Komplexes würden wir erwartet.
Hektisch stiegen wir ins Auto, da uns ein Umweg von ca. 16 km über die N10 bevorstand und wir unseren Termin daher nicht pünktlich wahrnehmen konnten. Das war aber überhaupt kein Problem, nach Prüfung unserer Besuchserlaubnis sowie der Pässe folgten wir mit unserem Auto einem Begleitfahrzeug bis zum Besucherzentrum.
Besichtigungsstart war auf dem Aussichtsturm, sieben Etagen über der Anlage. Beeindruckend, diesen riesigen Komplex von oben zu sehen! Dort erhielten wir detaillierte Informationen über die Größe der Anlage, ihre Funktionsweise, Speicherkapazitäten der einzelnen Abschnitte und technische Details.
Noor ist der arabische Name für Licht (siehe auch dieses YouTube-Video)
Die Anlage besteht aus vier Bereichen. Gebaut wurde das weltgrößte Solarkraftwerk in einer Region mit Sonnenscheingarantie an nahezu 365 Tagen im Jahr. Noor I und II sind Parabolrinnenkraftwerke mit über 1,4 Mio. Spiegeln, deren Ausrichtung zur optimalen Nutzung ständig an den Stand der Sonne angepasst wird. Durch die gespeicherte Energie kann bis zu 7 Stunden nach Sonnenuntergang noch Strom produziert werden. Weiterhin erfuhren wir, dass es mit speziellen Bürsten ausgestattete Reinigungsfahrzeuge gibt, die die Spiegel nachts von Sand- und Wüstenstaub befreien. Ein ausgeklügelter Plan sorgt dafür, dass jeder Spiegel mindestens einmal pro Woche gereinigt wird.
Bei Noor III - des eigentlichen Anlasses unserer Besichtigung - handelt es sich um ein Solarturmkraftwerk. Der 242 m hohe Turm - derzeit Afrikas höchstes Bauwerk - ist umgeben von 7.400 Betonpylonen, mit darauf montierten Spezialspiegeln, den Heliostaten, die das Sonnenlicht auf die Turmspitze reflektieren. So entsteht das extrem helle und über viele Kilometer sichtbare Licht, das uns fasziniert hatte. Temperauren von weit über 1.000°C entstehen hier oben, durch eine spezielle Luftkühlung wird das zur Stromerzeugung benötigte Salz dann auf 560°C erhitzt. Diese Informationen lieferten uns eine Erklärung für den „Leuchtturm“, dessen Licht uns beim Spaziergang durch die Welt von vorgestern aufgefallen war (Im Übrigen war zum Zeitpunkt unserer Besichtigung im Sommer 2018 Noor IV noch im Aufbau. Hier ensteht ein Solarpark mit Photovoltaik-Modulen).
So faszinierend und beeindruckend diese zukunftsweisende Technologie auch ist - immerhin werden 2,2 Mio. Menschen jährlich mit dem hier erzeugten Strom versorgt - entstehen aus nicht wissenschaftlicher Sicht auch kritische Gedanken am Rande. Etwa 10 km südlich der Anlage befindet sich der Stausee Al Mansour Ad Dahbi, aus dem pro Jahr 3 Mio. m³ Wasser zur Kühlung von Noor I und zur Reinigung der Spiegel entnommen werden. 2018 fiel uns auf, dass der Wasserpegel extrem gesunken ist, da sich der Stausee nicht proportional zur Wasserentnahme regenerieren konnte.
So spannend und faszinierend das helle Licht in der Turmspitze auch erscheinen mag, die hohen Temperaturen in seiner Umgebung machen der Tierwelt natürlich auch zu schaffen. Insekten und Vögel können in der extremen Hitze nicht überleben. Wie mag das Ökosystem langfristig auf solche Eingriffe reagieren?
Abschließend durften wir dem Begleitfahrzeug auf den Straßen durch die gesamte Anlage folgen. An einigen Stellen hielten wir, bekamen laufende Arbeiten erklärt, sahen die Speicher für das verwendete Salz und liefen zwischen den vom Boden aus riesig wirkenden Parabolspiegeln herum, bis wir zum Ausgang eskortiert wurden.
Einen tiefen Eindruck hat diese Besichtigung auf jeden Fall hinterlassen und uns einmal mehr vor Augen geführt, wie eng beieinander zukunftsweisende Technologie und Tradition liegen. Beiden Seiten notwendiges Verständnis gegenüber aufzubringen, ist sicher oft mehr als eine Gratwanderung.
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