Zwischen Mythos und Realität: Die stille Macht der Legende von „Aicha Qandicha“
In seinem Roman „Aicha die Heilige“ - oder, wie sie mit ihrem marokkanischen Namen bekannt ist, „Aicha Qandicha“ - entfaltet Mustafa Laghtiri die Geschichte einer Legende, die seit Jahrhunderten tief in das kollektive Bewusstsein der marokkanischen Gesellschaft eingewoben ist. Durch die Erzählung dieser Gestalt beleuchtet er auf subtile Weise die zahlreichen Widersprüche und Konflikte, die Marokko durchziehen und auf vielen Ebenen den Wandel und die Wunden der Gesellschaft spiegeln.
Einige Historiker sind überzeugt, dass Aicha Qandicha ursprünglich eine reale Frau war, die im 16. Jahrhundert an den atlantischen Küsten Marokkos gegen die portugiesischen Besatzer kämpfte. Von atemberaubender Schönheit und gehüllt in die traditionelle weiße Tracht, soll sie ihren Zauber als Waffe eingesetzt haben, um die portugiesischen Soldaten zu betören und schließlich ins Verderben zu führen.
Einst ein Symbol des Widerstands gegen die Kolonisierung, wurde sie über die Jahrhunderte hinweg jedoch zu einem gefürchteten Geist, einem dämonischen Wesen, das sowohl Männer als auch Frauen heimsucht. Aus der einstigen Freiheitskämpferin wurde ein düsterer Mythos: ein Dämon, der aus den Schatten tritt, um die Menschen zu warnen und zu lehren - eine Legende, die wie ein stilles Echo durch die Generationen getragen wurde und die marokkanische Seele bis heute bewegt.
Der Roman erzählt von vier Freunden, die in einem abgeschiedenen, friedvollen Dorf ein einfaches Leben führen: Ahmed, der Krankenpfleger, Larbi, der Zollbeamte, Saad, der Lehrer der Dorfschule und Yahya, der Angestellte der Gemeindeverwaltung. Ihr Alltag findet seine Kulisse im bescheidenen Café, wo sie sich regelmäßig treffen und eines Tages eine gemeinsame Überzeugung teilen: Die Existenz der mystischen Gestalt „Aicha Qandicha“ ist für sie selbstverständlich. Doch Saad, die Hauptfigur und der Lehrer des Dorfes, versucht, sie von der Märchenhaftigkeit dieser Legende zu überzeugen. Er beharrt darauf, dass es sich lediglich um eine Erfindung handele.
Auszüge aus dem Roman "Aicha Al Qiddissa" (Aicha die Heilige) von Mustapha Laghtiri.
Um einen Tisch, nahe dem großen Eingangstor des Cafés, saß eine Gruppe von Freunden, die sich am Abend versammelt hatten - ein tägliches Ritual, das ihnen ihre Arbeit in diesem abgelegenen Dorf nahe dem Meer, an einem bestimmten Punkt auf der Straße zwischen Casablanca und Azemmour, auferlegte.
Ohne vorherige Absprache fand jeder von ihnen sich in der Nähe der anderen wieder, als eine Art Reaktion auf die Fremdheit, die sie in diesem abgelegenen Dorf empfanden. Der Instinkt, Schutz zu suchen, hatte sie in enger Verbundenheit zusammengeführt, und unmerklich spannen sich feine Fäden, die Wärme in ihre Herzen trugen. Jeden Abend saßen sie im Außenbereich des Cafés und kauten auf denselben Worten herum, die sie nicht müde wurden zu wiederholen. Jeder von ihnen war darauf bedacht, die anderen über Neuigkeiten aus seiner Arbeit zu informieren, und sie vertieften sich in endlose Gespräche. Das Bestreben, ein gewisses Gleichgewicht zu bewahren, ließ sie dieses Treffen besonders schätzen.
Wie es ihre Gewohnheit war, begannen die vier Freunde, einander von ihren Erlebnissen zu erzählen, und so verstrichen die Stunden in einem lebhaften Austausch von Geschichten und Erinnerungen. […].
Die Sonne neigte sich allmählich dem Untergang zu und hatte viel von ihrem Glanz verloren. Die Vögel formierten sich über dem blauen Himmelszelt zu herrlichen geometrischen Linien. Die meisten davon bildeten einen Winkel aus zwei langen Linien, die wie ein flüchtiger Pfeil dahinglitten, ohne dass jemand wusste, wo sie letztendlich landen würden. In der Ferne hörte man den Klang von Autos, die in Richtung Casablanca fuhren oder von dort kamen. Ihre Geschwindigkeit erweckte in den Seelen Erinnerungen an tragische Verkehrsunfälle, die das Dorf durchlebt hatte und die viele, unzählige Opfer hinterließen.
Larbi, der Zollbeamte, warf den gelben Zigarettenstummel weg, nahm seine Schachtel erneut, holte eine weitere Zigarette heraus und zündete sie an. Der Krankenpfleger bemerkte dies und kommentierte feierlich: „Marlboro... Oh mein Gott, das ist ein Segen für den Zoll…“
Der Zollbeamte freute sich über den Kommentar des Krankenpflegers und wandte sich dann an den Lehrer: „angelst du immer nachts?“
Der Lehrer antwortete mit sicherem Ton: „Nachts ist das Angeln leichter als tagsüber.“
Der Zollbeamte zog seine Augenbrauen zusammen und sagte: „Hast du keine Angst, dass dir eines Nachts „Aicha Qandicha“ begegnet?“
Der Lehrer lächelte und zeigte kein Interesse an den Ängsten des Zollbeamten, dann sagte er mit überzeugter Stimme: „Das sind nur Einbildungen.“
Der Krankenpfleger sah, dass der Zeitpunkt günstig für eine Intervention war, und sagte spöttisch: „Ihr - ihr Lehrer - füllt eure Köpfe mit wahren Illusionen. Ich kenne mehr als eine Person, die mir versichert hat, Aicha Qandicha gesehen zu haben, und du glaubst das nicht…“
Der Lehrer antwortete: „Nein... Das ist nur ein Mythos.“
Der Zollbeamte, dessen Gesicht Verwirrung zeigte, fügte hinzu: „Aber alle glauben an ihre Existenz.“
Mit einer gewissen Überzeugung antwortete der Lehrer: „Ganz einfach, weil niemand die Quelle des Mythos kennt, und es wurde früher gesagt, wenn der Grund bekannt ist, vergeht das Staunen... und die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen.“
„Und wie erklärst du den Glauben der Leute an ihre Existenz?“ fragte der Zollbeamte.
Er antwortete: „Ich sagte bereits, dass die Menschen den Ursprung nicht kennen.“
„Und was ist ihr Ursprung?“ fragte der Zollbeamte eifrig.
Der Lehrer ließ seinen Blick schweifen, durchmaß den Raum mit einem stillen Stolz, der in seinen Augen wie ein Wissen um die verborgenen Geschichten aufleuchtete. Mit fester Stimme begann er: „Es heißt, der Ursprung dieses Mythos gehe auf eine Frau zurück, die zu einer Zeit erschien, als die Portugiesen das marokkanische El Jadida besetzt hielten und die Erde mit ihrer Grausamkeit heimsuchten. Sie war eine Frau von betörender Schönheit, ihr Name war Aicha. Gekleidet in ein schlichtes, weißes Gewand, das nur ihre Augen preisgab, schritt sie durch die Straßen - Augen, die zugleich lockten und warnten. Ihr Anblick raubte den Soldaten den Verstand.
Ein jeder, der sich ihr näherte, wurde von ihrem Lächeln und einer listigen Verführungskunst empfangen, die ihm den Atem stocken ließ. Doch sobald der Augenblick der Erfüllung nahte, zog sie das Messer aus den Falten ihres Kleides und stieß es ihm erbarmungslos zwischen die Rippen. So verbreitete sich das Flüstern von der geheimnisvollen Aicha, und bald nannten die Portugiesen sie ehrfürchtig „die Gräfin“ - eine Bezeichnung, die ihrer überirdischen Schönheit und ihrem Rang als unantastbare Legende würdig schien. Doch auch die Furcht vor ihr wuchs, und der Name „Aicha Qandicha“, „die Gräfin“, erfüllte bald jeden Soldaten mit stummer Angst und dem Versprechen eines plötzlichen Todes.
Aichas Geschichte wanderte von Mund zu Mund, von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, und hinterließ bei all jenen, die sie hörten, ein Schauer der Ehrfurcht und die stille Gewissheit, dass das Begehren nach ihr immer im Schatten des Todes lauerte.“
Die Zeit zog ins Land, die Portugiesen kehrten in ihre Heimat zurück und hinterließen in den kolonialisierten Städten nur ihre Spuren - hohe Mauern, rostende Kanonen und festungsartige Bauten. Doch etwas Unsichtbares und Schauriges blieb: die Furcht vor „Aicha die Heilige“, die in das Gedächtnis der Marokkaner überging und deren Name sich in „Aicha Qandicha“ verwandelte.
In den Nächten, so erzählt man sich, erschien sie an den verlassenen Ufern des Meeres, gehüllt in ein wallendes, weißes Gewand, das wie ein Schleier zwischen Licht und Schatten tanzte. Mit ihrem verheißungsvollen Blick lockte sie die Männer in ihren Bann, raubte ihnen den klaren Verstand und ließ sie willenlos ihrem Schatten folgen, in der Dunkelheit versinkend, die sie nur tiefer in ihr Unheil zog.
„Es erübrigt sich wohl zu sagen,“ begann der Lehrer, „dass die Geschichten über ihre nächtlichen Übergriffe auf die Männer von Mund zu Mund gehen. Jeder trägt sie bewusst und unbewusst in sich, sodass, wenn einer von ihnen sich nachts zum Strand wagt, er sie förmlich vor Augen hat - im schneeweißen Schleier gehüllt, die Füße wie die Krallen eines Raubtiers. Doch all dies sind nur Trugbilder, entsprungen der ängstlichen Fantasie.“
Einige der Zuhörer nickten bedächtig, doch der Krankenpfleger verzog die Lippen zu einem skeptischen Lächeln, das seine Zweifel verriet. Um dem Gehörten noch einmal auf den Grund zu gehen, fragte er mit einem belustigten Unterton: „Glaubst du wirklich, dass allein das Wissen um diese Geschichten reicht, um die Angst zu vertreiben?“
Der Lehrer antwortete mit einem Hauch von Überheblichkeit: „Das hängt allein vom Geist und der Stärke des Denkens ab.“
Der Krankenpfleger fühlte die Spitze in diesen Worten, biss sich auf die Zunge und schwieg. Mit einem leisen Seufzer nahm der Lehrer sein Buch wieder zur Hand. Doch bevor er sich zurückzog, hob er den Blick zum Zollbeamten und fragte mit einem kaum merklichen Lächeln: „Begleitest du mich heute Abend zum Fischen an den Strand?“
Der Zollbeamte antwortete, wobei eine gewisse Anspannung auf seinem Gesicht lag: „Heute Abend kann ich nicht ... ich habe Gäste.“
Yahya mischte sich ein, um ihn zu ärgern: „Er hat Angst, von Aïcha Qandicha überrascht zu werden.“
Der Zollbeamte antwortete und versuchte, den Verdacht von sich zu weisen: „Bei Gott, ich habe Gäste.“ [...]
Die Sonne hing tief am Horizont, eine große Orange, die sich zögernd dem Ende ihres Tages neigte und das Meer in ein tiefes, schimmerndes Rot tauchte. Dämmerung legte sich wie ein sanfter Schleier über das Blau des Wassers. Auf dem staubigen Pfad zum Strand zogen sich die Silhouetten von Menschen in die Länge - schattenhafte Figuren, die sich langsam zurück ins Dorf bewegten. Der Tag hatte sie mit der Wärme des Sandes und der sanften Kühle des Wassers verzaubert, und nun trugen sie, müde von den Stunden im Licht, ihre erschöpften Körper zurück, die Sonnenstrahlen noch tief in ihrer Haut gespeichert. [...].
Während die Sonne endgültig am Horizont versank, erhob sich die Stimme des Muezzins (Gebetsrurfer) und verkündete das Maghrib-Gebet (Nachmittags-Gebet). Ein sanftes Dämmerlicht legte sich über die Landschaft, raubte den Dingen ihre Schärfe und ließ die Welt in verschwimmenden Konturen zurück. Der Krankenpfleger lauschte dem Ruf mit großer Andacht, ließ die Worte des Adhans (Gebetsruf) in sich widerhallen und murmelte einige leise nach.
Langsam strömten die Gläubigen zur Moschee, die unweit des Cafés lag, und der Krankenpfleger erhob sich hastig, um sich ihnen anzuschließen. Zurück blieben der Lehrer und der Zollbeamte, und eine schwere, fast ehrfürchtige Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Der Lehrer bewegte sich unruhig, dann stand er auf, nickte dem Zollbeamten zu und verabschiedete sich mit leiser Stimme: „Bis morgen - ich muss nun gehen.“ […].
Der Lehrer machte sich auf den Weg, und der Zollbeamte folgte ihm mit einem gedankenverlorenen Blick, während ihm der Rauch seiner Zigarette ins Gesicht stieg, dem er mit einer leichten Kopfbewegung auswich. Er griff zur Teekanne, goss den letzten Tropfen in sein Glas und trank genüsslich den kalten Tee. Dann winkte er dem Kellner, gab ihm das Geld und bat um ein Glas Wasser. Der Kellner entfernte sich, und eine dichte, fast bedrückende Stille legte sich auf den Zollbeamten, der unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte und auf eine Ablenkung wartete, die ihn aus dieser wortlosen Einsamkeit befreien könnte. Seine Augen wanderten ziellos von einem Punkt zum anderen.
Nach einigen Minuten bemerkte er den Krankenpfleger, der gemessenen Schrittes und mit einer fast feierlichen Würde von der Moschee zurückkehrte. Erleichtert über dessen Ankunft, empfing ihn der Zollbeamte mit einem freundlichen Lächeln und sprach ihm zu: „Möge Gott es annehmen.“
Der Krankenpfleger antwortete andächtig: „Amen.“
Der Krankenpfleger setzte sich auf seinen Stuhl und murmelte ein paar unklare Worte, die von der spirituellen Atmosphäre zeugten, die ihn kurz zuvor umgeben hatte. Nach einem Moment fragte er den Zollbeamten: „Wo ist der Lehrer?“
Er antwortete knapp: „Er ist nach Hause gegangen; er will sich früh auf die Jagd vorbereiten.“
Der Krankenpfleger sah seine Gelegenheit und meinte: „Eines Tages wird ihm etwas zustoßen, und dann wird es ihm nichts nützen, ob er an die Existenz von Aicha Qandicha glaubt oder nicht. Die Dschinn (Geistwesen aus rauchlosem Feuer) werden im Koran erwähnt, und wir sollten an sie glauben, das genügt.“
Der Zollbeamte nahm das Wasserglas vom Kellner entgegen, der es mit Verzögerung brachte, und wandte sich dann an den Krankenpfleger: „Lass uns jetzt über etwas anderes reden… Jeder ist frei in seinem Leben, ob er daran glaubt oder nicht, das ist seine Sache…
Über den Autor Mustapha Laghtiri
Übersetzung aus dem Arabischen und Überarbeitung durch marokko.com