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Seltsame Odyssee für Jazya

Noch nicht mal in einem Alptraum. Wir glauben fest an die Gerechtigkeit, an unsere Menschlichkeit bzw. an das, was von ihr übrig geblieben ist.

 

Seltsame Odyssee Jazyas, Foto: Buchcover Fouad Souiba

Das Glück ist woanders...

Plötzlich erinnert sie sich an den Satz, den sie vor zwanzig Jahren gehört hatte.

Sie sitzt in der nagelneuen Limousine und wartet eine Weile, bevor sie losfährt. Sie ist nicht mehr beeindruckt von den jungen Führungskräften, die in den Start-ups von La Défense verschwinden. Sie schaut erstaunt auf ihre Hände und ihr wird bewusst, wie weit die Zeit ihrer Kindheit nun zurückliegt!

Die ersten Schimmer der Morgendämmerung kündigen den Anbruch eines neuen Tages an. Eine schlanke Figur durchquert die Felder mit einer katzenhaften Leichtigkeit. Der Duft von Orangenbäumen liegt bereits in der Morgenluft. Sie berauscht sich daran. Der Gesang der Grille, der das Schweigen dieser rätselhaften Gegend durchbricht, scheint ihr gleichgültig zu sein.

Ihr ist es egal, was von der Nacht übrigbleibt! Entschlossenen Schrittes kehrt sie zurück in das alte Ingenieurschulgebäude. Ein feiner Regen kündigt das Ende der Schneesaison an. Der sehnlichst erwartete Frühling ist nur einen Steinwurf entfernt.

Das Tal von Guerdane

Gebräuntes Gesicht, tiefschwarzes und locker unter freiem Himmel schwingendes Haar, ist das kleine Mädchen mit einem zerfetzten Kleid und farblosen Sandalen bekleidet. Sie schaut auf ihre Füße, ohne sie wirklich zu sehen, und rezitiert den Text des Liedes La Caverne, als wolle sie sich davon überzeugen, dass sie ihn auswendig kennt.

Verloren im riesigen Weizenfeld streift eine gesellschaftssuchende Schwalbe die Schulter des kleinen Mädchens. Bald improvisieren ein kleines Mädchen und eine Schwalbe im Nieselregen einen choreographierten Tanz, als wären sie das schon immer gewohnt gewesen.

Zweifellos erfreut über diese neue Freundschaft, verlässt das kleine Mädchen den Weg und eilt weiter, um zwei schöne Orangen zu pflücken. Sie steckt ihre Beute in ihre Umhängetasche. Ihre Hand ertastet ein abgenutztes Notizbuch und Farbstifte: Gelobt sei Allah, der das Buch über Seinen Diener herabgesandt hat...

In der Ferne schreien die Kinder, als wären sie vom Dorfdeppen verjagt worden. Das kleine Mädchen beschleunigt das Tempo. Der Lehrer ist im Begriff, sie in Zweierreihen aufzustellen. In einem quasi militärischen Ton befiehlt er den Kindern, sich aufzustellen: Schhh! Schweigt, ihr Affenbande! Los, Hände auf die Schultern, ruft er, um von allen gehört zu werden.

Als sie an der Schwelle des Klassenzimmers ankommt, ist das Mädchen bis auf die Knochen durchnässt. Müde und zitternd reiht sie sich sofort ein. Wenn man sie so sieht, kann man nicht sagen, ob ihre Haselnussaugen traurig sind oder einfach nur feucht von dem Regen, der jetzt auf das Dorf fällt.

In der Koranschule, dem Mekka des Wissens im Dorf, amtiert der Fquih [Koranlehrer], der von allen angehört und respektiert wird.

Der Fquih lässt alle Kinder Suren rezitieren. Der Herr hätte empfohlen, sie jeden Freitag zu lesen. Und da die Stimme des Herrn nicht jeden erreicht, findet niemand etwas Falsches daran. Die Stimme des kleinen Mädchens ist so laut, dass sie die Stimmen der anderen Cherubim dominiert: Gelobt sei Allah, Der das Buch auf Seinen Diener herabgesandt hat!

Die Koranschule beherrscht das Tal von Guerdane. Jazya macht dort, wie alle Kinder des Dorfes, ihre Ausbildung… ein paar handverlesene Schulkinder können ihre kleinen Freunde verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Nicht sehr weit entfernt, z.B. in Taroudant. Dieses Amazigh-Land mit seiner alten Zivilisation bietet eine weniger chaotische Schulbildung. Die Zukunft ist eine Frage, die wir uns hier nicht einmal stellen "Der Herr hat es so bestimmt".

Im Dorf ist Silbergeschirr nicht üblich. Das Einzige, was zählt, sind die täglichen Anweisungen, handschriftlich auf die Holztafel geschrieben und mit ganzen Suren geschwärzt. Die Anweisungen werden vor dem Imam der Moschee gelernt und rezitiert, der ganz natürlich Fquih und Lehrer ist. Er ist streng mit seinen Anweisungen. Er zwingt die Kinder zum Gehorsam und erhält das erwartete Verhalten ohne sich wiederholen zu müssen, auch wenn es bedeutet, den Stock einzusetzen.

Jazya lernt den Koran schnell auswendig. Ihre Gabe zu lernen ist außergewöhnlich. Sie musste sich nur einen Vers anhören oder einen Text lesen, um ihn dann schon perfekt zu behalten. Schon bald trat sie in die Taroudant-Schule ein (eine Premiere in der Geschichte des Dorfes!), ohne jedoch auch nur den geringsten Hochmut zu zeigen. Sie lernte, die Selbstbeherrschung zu behalten. Sie war sehr begabt und vollbrachte Leistungen, die sogar für Jungen unerreichbar waren.


Sie wurde in sehr frühem Alter Waise und verdankt ihren Erfolg nur ihrer harten Arbeit. Hajja Ghita [hat Jemand die Pilgerpflicht in Mekka absolviert, wird "Haj" (männlich) bzw. "Hajja" (weiblich) seinem Namen vorangestellt] unterstützte den Wunsch ihrer Tochter und ermutigte sie, so viel zu erreichen, wie sie vermag. Hajja Ghita legte viel Herzblut darein.

Die Limousine brummt noch immer. Die jungen Wölfe von La Défense sind nichts weiter als Silhouetten. Ihre winzigen Schatten erscheinen durch den Nebel des Fensters. Warum empfindet sie Abscheu vor diesen jungen Führungskräften? Das kann sie nicht sagen.

Mutter und Tochter

Mutter würde das kleine Kind mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln schützen. Jazyas Vater fiel im Sahara-Krieg und ließ sie schutz- und mittellos zurück.

Hajja Ghita würde sich eher vierteilen lassen, als die Zukunft ihrer Tochter aufs Spiel zu setzen. „Vergiss niemals das Blut, das in deinen Adern fließt“. „Ich werde es nicht vergessen, Mutter“. Ihr Vater wollte nur eins: ihre Ausbildung sicherstellen. Die Witwe bemühte sich, seine Werte und seine Leidenschaft weiterzugeben. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes gelobte sie, erst an dem Tag zu trauern, an dem Jazya ihren zwanzigsten Geburtstag erreicht.

Wird das von den Vorfahren ererbte Stück Land, das einzige Erbe, das sie zur Verfügung hatten, ausreichen, um die Bedürfnisse des Haushalts zu decken? Die Mutter wird sich auf den Rat der Nachbarn verlassen müssen… Wenn das Grundstück geschickt bebaut würde, würde es reichen. Dieser Ratschlag verstärkte nur noch ihre Bedenken. Doch Hajja Ghita war entschlossener denn je, das Stück Land zu einem rentablen Geschäft zu machen. Sie würde es verteidigen, wie die Wölfin ihre Jungen verteidigt. Sie richtete dort eine Geflügelzucht ein und legte ein Stück Land für eine Imkerei an. Die Idee, dort Olivenbäume zu pflanzen, hatte für sie höchste Priorität. Mit großem Eifer arbeitete sie trotz der rauen Wetterbedingungen Tag und Nacht daran… Gegen die Erinnerung an den Verstorbenen, die sie immer wieder verfolgte, kämpfte sie unentwegt. Nein, niemand würde jemals ihr Bett teilen!

Durch den festen Willen und die großen Anstrengungen sowie das Vermögen von Hajja Ghita, positive Energien zu kanalisieren, konnte sie das Erbe der Vorfahren nicht nur erhalten, sondern auch vermehren.

Nachdem sie schnell gemerkt hatte, dass die biologische Landwirtschaft viele Händler anzog, machte sie sich daran, ein umweltfreundliches Ökosystem aufzubauen. Zunächst gründete sie ihre eigene Kooperative. Sie strebte höchste Qualität für ihre Produkte an, um sich einen Platz auf dem Exportmarkt zu erobern. Ihre Waren verkauften sich ohne Schwierigkeiten auf dem europäischen Markt. Sie erkämpfte sich den deutschen Markt, der sehr anspruchsvoll ist. Diese Kundschaft war sehr angetan von authentischem, reinem Honig und Olivenöl aus kontrollierter Herkunft, das in der Region wie nirgendwo sonst hergestellt wird, und dies machte den Erfolg der Genossenschaft aus. Das verdiente Geld wurde vorrangig verwendet, um Jazyas Schulbildung zu bezahlen.

Sich nur auf sich selbst zu verlassen! Und was ist, wenn das alles ist: diese Liebe, die sich jeder Logik entzieht? Jazya hat keine Zeit, sich damit aufzuhalten. Sie aktiviert den Knopf der Klimaanlage, um den Nebelschleier auf dem Fenster verschwinden zu lassen...

Entbunden von der Plackerei auf dem Feld war das junge Schulmädchen von Erfolg zu Erfolg geschwebt, was ihre Mutter mit Stolz erfüllte. Als Teenager hatte sie sich eine Eliteausbildung zum Ziel gesetzt. Zwischen Praktikum und Anstellung hatte sie keine Zeit zum Verschnaufen. Sie traf jedoch die unwiderrufliche Entscheidung, nur noch Teilzeit zu arbeiten. Auf der anderen Seite des Atlantiks hatte Jazya sehr große Ambitionen. Sie bemühte sich um das notwendige Gleichgewicht, das für einen Spitzenstatus erforderlich ist, und arbeitete daran, ihre Ausbildung in Wissenschaft und Technik zu verfeinern. Die Leidenschaft, die sie beim Erwerb des vielschichtigen Wissens zeigte, wurde nur durch ihre Liebe für die Literatur übertroffen. Sie duldete keine Ausfallzeiten; sie wollte die Welt nach Möglichkeit ihren Zielen zu unterwerfen. Sie träumte davon, die Ordnung der Dinge zu ändern; sie sollten den Regeln der Natur entsprechen.

Sie ist überzeugt, dass wir nur das bekommen, was uns zusteht. Im Einklang mit ihren Gedanken rezitiert sie Corneille [französischer Autor]: „Für die hochgeborenen Seelen wartet die Qualität nicht auf die Anzahl der Jahre...“ Wie ist sie darauf gekommen?

Beirut

Es war eine Fernsehserie, die sie zu der Entscheidung veranlasste, Beirut zu erobern. Die Stadt befand sich auf dem Höhepunkt ihrer kulturellen Revolution. Eine Karriere als Verlegerin! Es war eine große Herausforderung. Jazya hatte die Gabe, alles, was sie anfasste, in Gold zu verwandeln. Ihr Engagement erregte die Aufmerksamkeit, sowohl ihrer Chefs als auch ihrer Konkurrenten. Nach drei Jahren treuer harter Arbeit gelang es ihr, den Umsatz des Unternehmens zu verdreifachen. Mit ihrem so begründeten Ruf wurde sie zur begehrten Managerin der großen Unternehmen, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten.

 

Mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur, Jugend und Sport veröffentlichtes Buch:

ISBN. 978-9920-701-44-0 / DL. 2020MO1240, Virgule Editions, 26 rue Moussa Ibn Noucair, DRC N° 40 Tanger

Sie hielt auch an ihrem Kindertraum fest: die Einführung innovativer Geschäftspraktiken. Ihre Überlegungen zu neuen Strategien für die Produktion und Verbreitung immaterieller Werke sind originell. „Originell“ Wer hatte ihr dieses Kompliment schon einmal gemacht? Sie will nicht darüber nachdenken.

In der Hajja Ghita-Schule lernte sie, vor nichts zurückzuschrecken. Sie lehnte sogar die Angebote großer Unternehmen ab. Das Glück ist woanders, dachte sie noch einmal.

Paris

Mit dreiundzwanzig zog sie nach Paris. La Défense gab ihr die Anonymität, die sie brauchte.

Sie warf einen abgelenkten Blick auf das Zeichen ihres Start-Ups. Und ihr Gedanke galt der Haija Ghita. Ich kann eins und eins zusammenzählen, Mutter. Der Erfolg wird kommen!

Die Limousine fuhr schließlich mit quietschenden Reifen los. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel ließ die Betonbauten von La Défense kleiner werden und hinter den Bäumen verschwinden.

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