Zwischen Guerdane und La Défense - Ein Weg zwischen Herkunft und Berufung
Zwischen den Feldern von Guerdane und den gläsernen Fassaden von La Défense entspinnt sich das stille Drama einer Frau, deren Weg von Verlust, Willenskraft und innerem Leuchten geprägt ist. Jazya, geboren im Schatten des Mangels, wächst mit nichts als einem alten Notizbuch, zwei Orangen und der Erinnerung an den Vater auf - und bringt es zu einer Gestalterin ihrer Zeit.

Dies ist keine Geschichte vom Aufstieg durch Leistung allein. Es ist ein Epos der weiblichen Widerstandskraft, eine poetische Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart, Erde und Geist, Herkunft und Ziel. Am Anfang steht ein Kind im Regen. Am Ende blickt eine junge Frau aus einer Limousine in die Zukunft - mit einer Entschlossenheit, die sich nicht kaufen lässt.
PersonenverzeichnisJazya: Tochter eines gefallenen Soldaten. Sensibel, wissbegierig, mutig. Vom einfachen Dorfkind zur internationalen Unternehmerin. Trägt in sich die leise Wut der Geschichte und den Mut, sie zu verändern * Hajja Ghita: Witwe, Mutter, Bäuerin, Visionärin. Verkörpert den Geist einer ganzen Generation von Frauen, die das Leben mit bloßen Händen formen. Stumm trauernd, unerschütterlich liebend * Der Vater, gefallen im Sahara-Krieg. Seine Abwesenheit ist allgegenwärtig - als Verlust, als Verpflichtung, als stille Kraft * Der Fqih: Koranlehrer im Dorf. Respektiert und gefürchtet. Repräsentiert die Autorität der Tradition, aber auch den Wert der Bildung * Die Schwalbe: Ein poetisches Wesen - halb Natur, halb Symbol. |
Der Geschmack der Erinnerung
Nicht einmal im schlimmsten Alptraum hätte sie sich so etwas ausgemalt. Und doch hält sie unbeirrbar an den Prinzipien fest, an das, was sie für Gerechtigkeit hält - und an jenem Rest Menschlichkeit, der ihr geblieben ist.
Da taucht - wie aus dem Nichts - jener Satz in ihr auf, den sie vor zwanzig Jahren gehört hatte. Sie sitzt in ihrer neuen Limousine, zögert, bevor sie den Motor startet. Die junge Business-Elite, die jeden Morgen in den Start-ups von La Défense verschwindet, beeindruckt sie längst nicht mehr. Ihre Blicke gleiten über ihre Hände - erstaunt, fast ungläubig. Wie weit entfernt liegt nur die Zeit ihrer Kindheit!
Die ersten Schleier der Morgendämmerung legen sich über die Felder. Eine schlanke Gestalt durchquert sie mit der geschmeidigen Anmut einer Katze. In der Luft liegt bereits der süße Duft blühender Orangenbäume. Sie atmet ihn tief ein, als wolle sie sich daran berauschen. Der zirpende Gesang einer Grille durchschneidet das Schweigen dieser geheimnisvollen Landschaft - doch sie schenkt ihm keine Beachtung.
Was von der Nacht geblieben ist, kümmert sie nicht. Mit festen Schritten kehrt sie zurück zum alten Gebäude der Ingenieursschule. Ein feiner Regen kündigt das Ende der langen Schneesaison an - der ersehnte Frühling ist zum Greifen nah.
Morgendämmerung im Dorf
Ein braungebranntes Gesicht, das pechschwarze Haar ungebändigt im Wind - so steht das kleine Mädchen da, barfüßig fast, in zerrissenen Stoffresten und Sandalen, denen jede Farbe längst entwichen ist. Sie blickt auf ihre Füße, ohne sie wirklich zu sehen, und murmelt den Text des Liedes La Caverne, als wolle sie sich vergewissern, dass sie ihn noch immer auswendig kann.
Verloren im endlosen Weizenfeld streift eine einsame Schwalbe ihre Schulter - ein Wesen auf der Suche nach Gesellschaft. Bald beginnen Mädchen und Vogel, einen Tanz im feinen Regen zu improvisieren, als hätten sie es nie anders gekannt.
Wie beglückt von dieser stillen Verbundenheit, verlässt das Mädchen den Pfad, eilt zu den Orangenbäumen, pflückt zwei glänzende Früchte und verstaut sie behutsam in ihrer Umhängetasche. Ihre Hand ertastet dabei ein abgewetztes Notizbuch und bunte Stifte - und aus ihrem Mund flüstert es: Gepriesen sei Allah, der das Buch auf Seinen Diener herabgesandt hat…
In der Ferne hallt das Kreischen von Kindern durch die Luft - gejagt vom Dorftrottel, wie es scheint. Das Mädchen beschleunigt ihre Schritte. Der Lehrer hat bereits begonnen, die Kinder in Zweierreihen aufzustellen. Mit militärischem Ton befiehlt er: „Psst! Ruhe, ihr Affen! Hände auf die Schultern! Los jetzt!“
Als das Mädchen schließlich die Schwelle des Klassenzimmers erreicht, ist sie bis auf die Haut durchnässt. Müde und zitternd reiht sie sich stumm ein. Man kann nicht sagen, ob ihre haselnussbraunen Augen vom Regen glänzen - oder von etwas, das tiefer geht.
Die Koranschule als Wiege der Disziplin
In der kleinen Koranschule - dem geistigen Zentrum des Dorfes - herrscht der Fquih, geachtet und von allen gehört. Er lässt die Kinder die Suren aufsagen, wie es der Herr empfohlen hat, besonders freitags. Und da nicht jeder die Stimme des Herrn zu hören vermag, zweifelt auch niemand an der Notwendigkeit.
Die Stimme des kleinen Mädchens aber erhebt sich über die der anderen - laut und klar, fast trotzig: Gepriesen sei Allah, Der das Buch auf Seinen Diener herabgesandt hat…
Die Koranschule überragt das Tal von Guerdane - ein bescheidener Bau, doch für die Dorfbewohner der Nabel der Welt. Auch Jazya besucht sie, wie jedes Kind im Dorf. Nur wenige, sorgfältig ausgewählte Schüler dürfen ihre Kameraden zurücklassen, um ihr Glück andernorts zu suchen - in Taroudant vielleicht, nicht weit entfernt. Dieses Land der Amazigh, durchdrungen von uralter Zivilisation, bietet eine Schulbildung, die weniger von Unordnung gezeichnet ist. Doch wer hier von Zukunft spricht, wird allenfalls verständnislos angesehen. "Der Herr hat es so bestimmt."
Silbergeschirr sucht man im Dorf vergebens - was zählt, sind die täglichen Anweisungen, mit Sorgfalt von Hand auf hölzerne Tafeln geschrieben, von dunkler Tinte durchzogen, ganze Suren umfassend. Diese Verse lernen die Kinder vor dem Imam der Moschee - der zugleich Lehrer, Fquih und moralische Instanz ist. Mit strenger Stimme, ohne Raum für Widerspruch, fordert er Disziplin. Gehorsam ist Gesetz. Wer sich verweigert, lernt den Stock kennen.
Jazya aber lernt schnell. Ungewöhnlich schnell. Was sie hört, bleibt ihr haften - ein einziger Vers genügt, ein flüchtiger Blick auf den Text, und er gehört ihr. Sie ist begabt, ja, außergewöhnlich. Und eines Tages - zur Verwunderung des gesamten Dorfes - wird sie an der Schule in Taroudant aufgenommen. Es ist ein Novum, eine Premiere! Doch kein Stolz, kein Hochmut wohnt ihr inne. Sie bleibt, was sie immer war: beherrscht, konzentriert, still. Ihre Leistungen übertreffen sogar die der Jungen - ein stiller Triumph, den sie nicht an die große Glocke hängt.
In jungen Jahren verlor sie den Vater. Er fiel im Sahara-Krieg. Zurück ließ er eine Tochter und eine Witwe - ohne Schutz, ohne Besitz. Doch was er ihr hinterließ, war mehr: der unbedingte Wunsch, dass sie lernen möge. Diese Hoffnung lebte fort in Hajja Ghita, seiner Frau, die einst die Pilgerfahrt nach Mekka unternahm. Sie setzte alles daran, Jazyas Weg zu ebnen - mit unermüdlicher Kraft, mit unerschütterlicher Liebe. „Vergiss niemals das Blut, das in deinen Adern fließt“, sagte sie. „Ich werde es nicht vergessen, Mutter“, antwortete Jazya.
Die Limousine summt noch immer. Durch das beschlagene Fenster schimmern die Umrisse jener jungen Wölfe von La Défense - nichts als Schatten. Warum sie Abscheu verspürt, kann sie selbst nicht sagen. Vielleicht, weil diese glatten Silhouetten nichts vom Schmerz, vom Kampf, vom Preis, den das Leben fordert kennen.
Hajja Ghita pflanzt Hoffnung
Hajja Ghita hätte sich eher in Stücke reißen lassen, als das Schicksal ihrer Tochter zu gefährden. Seit dem Tod ihres Mannes trägt sie seine Werte wie ein Banner weiter - standhaft, ungebrochen. Sie hat sich geschworen, nicht zu trauern, bevor nicht der Tag kommt, an dem Jazya zwanzig wird.
Würde das kleine Stück Land, das einzige Erbe der Vorfahren, genügen, um die Bedürfnisse des Haushalts zu decken? Die Mutter rang mit dieser Frage, Tag für Tag. Die Nachbarn hatten ihre Meinung schnell parat - wenn man das Grundstück geschickt nutze, so sagten sie, könne es reichen. Doch gerade dieser gut gemeinte Ratschlag ließ ihre Sorgen nur wachsen.
Und doch - Hajja Ghita ließ sich nicht beirren. Sie schwor sich, dieses Land nicht nur zu bewahren, sondern daraus ein Fundament für eine Zukunft zu schaffen. Sie würde es verteidigen wie eine Wölfin ihre Jungen.
Mit festen Händen und unbeirrbarem Blick richtete sie eine Geflügelzucht ein, legte ein kleines Areal für Bienenstöcke an - und die Vision, dort eines Tages Olivenbäume wachsen zu sehen, wurde für sie zu einer Herzenssache. Trotz der unwirtlichen Witterung arbeitete sie mit unermüdlichem Eifer - bei Tag und bei Nacht, gegen Wind, gegen Erschöpfung, gegen die schmerzhaften Schatten der Erinnerung. Der Gedanke an den Verstorbenen verfolgte sie wie ein stiller Ruf - aber sie kämpfte gegen ihn an. Nein, niemals würde ein anderer Mann an ihrer Seite liegen.
Durch ihren unbeugsamen Willen, ihre klare Intuition und die Fähigkeit, selbst aus der Asche Hoffnung zu formen, gelang es Hajja Ghita, das kleine Erbe nicht nur zu bewahren - sie ließ es wachsen, reifen, aufblühen.
Als sie erkannte, dass die biologische Landwirtschaft zunehmend das Interesse der Händler weckte, begann sie mit dem Aufbau eines nachhaltigen Ökosystems. Schritt für Schritt, bedacht und zielstrebig. Sie gründete ihre eigene Kooperative, bestimmte jeden Schritt selbst - mit dem Anspruch, höchste Qualität zu liefern. Und sie setzte sich durch. Bald fanden ihre Produkte ihren Weg auf den europäischen Markt - rein, authentisch, mit Herkunft und Seele.
Den Durchbruch brachte der deutsche Markt - anspruchsvoll, aber empfänglich für das Echte. Der Honig, bernsteinfarben und naturrein. Das Olivenöl, grünlich-gold, voller Sonne, gepresst wie vor Jahrhunderten. Das war das Geheimnis der Genossenschaft - und ihr Erfolg.
Jeder verdiente Dirham floss zuerst in Jazyas Ausbildung. Denn das war der wahre Ertrag: eine Zukunft, geformt aus Wissen.
Sich nur auf sich selbst verlassen - ist das alles? Vielleicht ist es diese Liebe, die sich jeder Logik entzieht. Diese stille, kompromisslose Kraft, die nicht fragt, sondern trägt.
Vom Dorf in die Welt: Jazyas Aufstieg in einer Welt der Gegensätze
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ISBN. 978-9920-701-44-0 / DL. 2020MO1240, Virgule Editions, 26 rue Moussa Ibn Noucair, DRC N° 40 Tanger |
Von der Mühsal der Felder befreit, glitt das junge Schulmädchen scheinbar schwerelos von Erfolg zu Erfolg - zur stillen Freude ihrer Mutter, die jeden ihrer Schritte mit wachem Herzen begleitete. Noch als Jugendliche hatte Jazya sich ein Ziel gesetzt, das für viele kaum denkbar war: eine Ausbildung an der Spitze, mit der Spitze, für die Spitze. Zwischen Praktika und beruflichen Etappen blieb kaum Raum zum Atemholen. Und doch traf sie eines Tages eine unumstößliche Entscheidung: fortan sollte ihre Zeit ihr gehören - zumindest ein Teil davon.
Jenseits des Atlantiks wuchsen ihre Ambitionen ins Weite. Sie suchte das fragile Gleichgewicht, das nötig ist, um Exzellenz zu erreichen, und verfeinerte ihre Ausbildung in Wissenschaft und Technik mit der Akribie einer Forscherin. Ihre Leidenschaft für Wissen war groß - doch noch größer war jene stille, innige Liebe zur Literatur.
Ruhepausen duldete sie nicht. In ihr brannte der Wunsch, die Ordnung der Welt zu hinterfragen - nicht um sie zu beherrschen, sondern um sie den tieferen Gesetzen der Natur zurückzugeben.
Wir bekommen nur, was uns zusteht, dachte sie, ohne Bitterkeit, eher wie eine stille Überzeugung. Dann - fast wie eine Eingebung - rezitierte sie einen Satz von Corneille: „Für die hochgeborenen Seelen wartet die Qualität nicht auf die Anzahl der Jahre.“ Wo hatte sie diesen Satz gehört? Wann war er ihr zum inneren Leitfaden geworden?
Es war eine Serie gewesen, eine beiläufige Szene - und plötzlich war der Gedanke in ihr gereift: Beirut. Eine Stadt im Aufbruch, mitten in ihrer kulturellen Renaissance. Eine Karriere als Verlegerin - ein Wagnis. Doch wenn jemand etwas in Gold zu verwandeln vermochte, dann sie.
Ihr Engagement blieb nicht unbemerkt - nicht von Vorgesetzten, nicht von jenen, die sie einst unterschätzten. Innerhalb von drei Jahren hatte sie den Umsatz des Verlags verdreifacht. Ihr Name wurde zur Referenz - in Europa wie im Nahen Osten. Große Konzerne warben um sie.
Doch sie hielt fest an einem Traum aus Kindertagen: die Wirtschaft zu verwandeln, von innen heraus, mit Ideen, die über Zahlen hinausgingen. Ihre Visionen von der Produktion und Verbreitung immaterieller Werke waren neu, fast kühn. „Originell“, hatte man gesagt. Wer genau, das mochte sie nicht mehr wissen. Es zählte nicht.
Was zählte, war die Lehre aus der Schule von Hajja Ghita: vor nichts zurückzuschrecken. Mit klarem Blick lehnte sie selbst Angebote der einflussreichsten Firmen ab. Das Glück liegt woanders, flüsterte es in ihr.
Mit dreiundzwanzig zog sie nach Paris. In La Défense fand sie das, was sie suchte: Anonymität - und die Freiheit, neu zu beginnen. Ihr Blick streifte das Logo ihres Start-ups, ein wenig geistesabwesend - und doch hellwach, als ihr plötzlich der Name durchfuhr: Hajja Ghita. "Ich kann eins und eins zusammenzählen, Mutter. Der Erfolg wird kommen."
Jazyas Hand gleitet zum Bedienfeld der Limousine. Mit einem leisen Klick aktiviert sie die Klimaanlage - der Nebelschleier auf der Windschutzscheibe beginnt zu verschwinden.
Die Limousine setzte sich in Bewegung, die Reifen kreischten leise auf dem Asphalt. Im Rückspiegel wurden die Türme von La Défense kleiner, bis sie schließlich hinter den Baumkronen verschwanden.
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Übersetzung aus dem Französischen
