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Spuren der Sehnsucht - Die stille Gegenwart vergangener Orte

Wenn Erinnerungen verblassen, bleiben die Orte. Nicht als greifbare Geografie, sondern als leise Gegenwart in uns: in einem Wort, das wir achtlos aussprechen, in einem Geruch, der uns auf der Straße überfällt, in einem Schatten, der über das Gesicht eines Fremden fällt. Man sagt, man könne Orte verlassen.

Aber wer genau hinhört, weiß: Es sind die Orte, die sich uns einprägen. Sie wachsen in uns wie geheime Pflanzen, stoßen Triebe in Gedanken, die uns längst fremd geworden sind. Und manchmal genügt ein einziges Bild, ein Laut, ein abendliches Licht - und alles lebt wieder auf.

Die Orte in uns Fiktives Bild mit Hilfe von Gimini erstellt

In poetischer Sprache und mit einem feinen Gespür für Atmosphäre beschwört Mustapha Laghtiri in seinem neuen Roman mit dem Originaltitel "Die Sehnsucht der Orte" (
شهوة الأمكنة) die Orte seiner Herkunft als seelische Landschaften, die nie ganz verschwinden. Erinnerungen werden zu lebendigen Bildern, kleine Szenen des Alltags zu literarischen Miniaturen.

In sinnlich dichten Bildern, getragen von stiller Melancholie und einem feinen Gespür für das Poetische des Alltags, entfaltet der Autor eine autobiografische Topografie - nicht als nostalgisches Zurückblicken, sondern als ernsthafte Suche nach dem, was vom Leben bleibt, wenn Orte uns formen und Erinnerungen sich in Landschaften verankern.

Von den weiten Feldern und staubigen Wegen der ländlichen Kindheit über die flirrende Küstenstadt der Jugend bis hin zur vibrierenden Mehrdeutigkeit Casablancas - jede Station dieses Weges ist nicht nur Kulisse, sondern Mitspieler, Resonanzraum, Spiegelbild. Laghtiri versteht es meisterhaft, die subjektive Geografie des Wachsens zu erfassen: Wie ein Blick, ein Duft, ein Lied plötzlich die Tür zu einem inneren Ort öffnen, den wir längst verschlossen glaubten.

Dabei geht es nicht nur um persönliche Erinnerung. Es geht um Zugehörigkeit und Entwurzelung, um den Reiz des Fremden und die Zärtlichkeit des Vertrauten, um das Aufbrechen aus engen Verhältnissen und das Verweilen in inneren Heimaten. Immer wieder stellt das Buch die Frage: Was macht einen Ort bedeutungsvoll? Die Antwort ist leise, unaufdringlich, aber kraftvoll: Es sind die Spuren, die wir dort hinterlassen - und die, die er in uns zurücklässt.

Die Wahrheit, die kaum Zweifel kennt, ist: Orte haben ein Gedächtnis - sie erinnern sich an unsere Schritte, unsere Stimmen, unsere Sehnsucht.

„Die Sehnsucht der Orte“ ist kein bloßes Memoirenbuch. Es ist ein Stück gelebter Literatur. Wer sich einlässt auf diesen Text, wird nicht nur den Autor begleiten - er wird eigene Orte wiederfinden, eigene Stimmen hören, eigene Bilder aufsteigen sehen. Und vielleicht begreifen: Jeder von uns trägt seine Landschaften in sich, unauslöschlich, leise atmend, stets gegenwärtig.

Die Landschaften der Seele

Das erste Kapitel entfaltet ein betörendes Bild von Kindheit auf dem Lande. Die Region Chtouka, nahe Azemmour, wird zur Bühne früher Empfindung. Die Fahrt auf dem Motorradsitz des Vaters, die goldenen Felder, das Schweigen der Natur, der Wind, der durch die Gassen fährt - all das verschmilzt zu einem mythisch aufgeladenen Ursprung. Die Sprache des Autors bewegt sich zwischen zarter Beobachtung und tiefer innerer Bewegung.

Laghtiri schildert, wie die Orte nicht nur in seiner Erinnerung überdauern, sondern eine eigene Form von Bewusstsein entwickeln - sie erinnern sich an ihn, so wie er sich ihrer erinnert.

In dem Moment, da wir glauben, wir hätten uns von einem Ort befreit, stellen wir fest, dass er uns inwendig bewohnt - so wie wir ihn einst bewohnten.

In farbenreichen Episoden erscheinen Ferien voller Entdeckungen: das Baden in Flüssen, das Spiel mit selbstgebauten Trommeln, die Märkte mit ihren Düften und Geräuschen, das Lauschen auf Erzählungen der Alten. Besonders eindrucksvoll ist die Beschreibung des „Heiligtums der Frauen“, eines magisch aufgeladenen Ortes, an dem weibliche Spiritualität und archaischer Glaube zusammentreffen - ein frühes Erschrecken und Staunen des Kindes vor dem Geheimnis des Menschseins.

Zwischen Freundschaft und Erwachen

El Jadida, Protugiesische Festung

Mit dem zweiten Kapitel weitet sich die Welt. Die Kindheit liegt zurück, der Horizont wächst. Die Stadt El Jadida, mit ihren portugiesischen Mauern, ihrem Hafen, den schäumenden Stränden und dem abendlichen Licht, wird zur neuen Bühne. Die Erfahrung der Jugend ist geprägt vom Erkunden: Körper, Beziehungen, Musik, Literatur, gesellschaftliche Gegensätze.

„Die neue Welt, die sich vor uns öffnete, war nicht länger die der Felder und Erinnerungen - sondern die der Möglichkeiten, der Entwürfe, der Erprobungen.“

In einer wunderbar dichten Passage beschreibt Laghtiri seine Freundesgruppe - eine Handvoll junger Männer zwischen Arbeit, Träumen und Sehnsucht. Die Tage vergehen zwischen simplen Mahlzeiten, Musikversuchen, Strandausflügen, Lektüren und ersten Gesprächen mit Mädchen. Es ist ein Erwachen in ein freies, aber auch widersprüchliches Dasein, das voller Humor, Entbehrung und Entdeckung steckt.

Nicht zuletzt zeigt dieses Kapitel die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich - etwa wenn ein geplanter Sommer in einem schicken Badeort scheitert - oder wenn die eigene Herkunft zur Grenze wird. Doch trotz allem bleibt der Blick hell: Der Erzähler nimmt die Stadt wie ein Versprechen in sich auf.

„Im ‚Moun‘ -hinter dem alten portugiesischen Viertel - verwandelte sich das Schwimmen in ein Ritus, ein Spiel mit der Tiefe, mit dem Körper, mit der Freiheit.“

Casablanca und das Echo der Dinge

Casablanca

 

„Tief wirkte jene Atmosphäre auf mein Gemüt. So oft mein Geist jene Orte beschwört, regt sich sogleich ein feiner Schimmer der Einbildungskraft - und ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Dann gleiten Worte heran, leise und suchend, als wollten sie sich zu einer Erzählung fügen, zu einem Traumbild, das mir eine stille, doch eine innige Wohltat für das Herz schenkt.

Diese Orte sind von Erinnerung durchwoben, von Empfindung erfüllt, von Gedanken durchzogen. Ruft man sie ins Herz zurück, so strömen Worte und Bilder hervor wie ein Wasserfall - voll, lebendig, schäumend -, und ich verliere mich selig in dem weichen Strom ihrer Sprache.“

   

Im dritten Teil verdichtet sich die Erinnerung. Der Erzähler ist reifer geworden, nachdenklicher, suchender. Die Stadt Casablanca erscheint als Chiffre einer neuen Welt: größer, rätselhafter, gefährlicher - aber auch aufregend, vielfältig, tief. Die Erzählung wird hier reflektiver. Laghtiri mischt Erinnerung mit innerem Monolog, Deutung mit Faszination.

„Wie viele Orte in meinem Leben hatten sich später als bloßes Produkt meines Traumes entpuppt - und wie viele Traumbilder als erschreckend reale Orte?“

Der Hafen, der Seemannsonkel, die Geschichten um Bordelle, Tänzerinnen, Offizierskasernen - all das wird nicht voyeuristisch, sondern suchend beschrieben: als Versuch, ein inneres Bild der Stadt zu fassen, das von Legenden, Projektionen und Wirklichkeit gleichermaßen gespeist ist.

Casablanca steht am Ende des Erinnerungsbogens - als Symbol für das Erwachsenwerden, das Verstehen, das Fragen nach Herkunft und Zukunft. Es ist eine Stadt voller Stimmen, voller Gesichter, voller Spiegel. Und so endet die Erzählung nicht mit einem Schlusspunkt, sondern mit einem offenen Blick zurück: auf die Orte, die uns formen - und die wir nie ganz verlassen.

„Es gibt Orte, die, kaum berührt von der Zeit, in uns fortleben wie Inseln des Ursprungs. Casablanca war für mich eine solche Insel - unruhig, rau, doch stets ein Versprechen.“