Marrakech Noir: Zwischen Poesie, Schatten und Skandalen
Die Anthologie Marrakech Noir, herausgegeben von Yassin Adnan, lädt ihre Leser ein, die verborgenen Winkel einer Stadt zu erkunden, die zugleich für ihre Lebendigkeit und ihren dunklen Charme bekannt ist.
Mit einer Sammlung von Kurzgeschichten, geschrieben von Autoren verschiedener kultureller und sprachlicher Hintergründe, enthüllt das Werk eine vielschichtige Metropole. Marrakech, oft die "Stadt der Freude" genannt, zeigt in diesen Geschichten ihre weniger strahlenden, geheimnisvollen Seiten.
Die Einführung zu Marrakech Noir beschreibt die Stadt als eine, die traditionell von Licht und Freude geprägt ist - die Bewohner streben aktiv nach Glück und vermeiden düstere Geschichten. Doch unter dieser Fassade liegt eine reiche Geschichte voller Kriminalität, Skandalen und Verrat. Diese Spannungen zwischen der glanzvollen touristischen Oberfläche und den realen Konflikten des Alltags bilden den Kern der Sammlung. Adnan schildert, wie schwierig es war, eine Anthologie zusammenzustellen, die die dunkle Seele der "Roten Stadt" erfasst, ohne dabei ihren lebendigen und farbenfrohen Charakter zu verlieren.
Die Geschichten fangen diesen Kontrast ein: Die prunkvollen Riads und engen Gassen der Altstadt treffen auf die wachsenden Viertel außerhalb der Stadtmauern. Diese Kulisse verdeutlicht die Spannungen, die entstehen, wenn eine Stadt ihre historische Bedeutung bewahren will und gleichzeitig mit den Herausforderungen der Moderne konfrontiert wird.
Ein Kaleidoskop an Erzählungen
Die Kurzgeschichten führen die Leser durch symbolträchtige Orte Marrakechs: Von der mystischen Atmosphäre des zentralen Platzes Jemaa el-Fnaa über das ruhige Viertel Riad Zitoun bis hin zu den ärmlicheren Randbezirken wie Sidi Youssef Ben Ali. Jede Geschichte beleuchtet eine neue Facette der Stadt. Besonders beeindruckend ist die sprachliche Vielfalt – viele Erzählungen sind in Arabisch, Französisch und sogar Niederländisch verfasst, was die kulturelle Tiefe Marrakechs unterstreicht.
In The Mysterious Painting von Fouad Laroui wird ein mysteriöses Gemälde zur Schlüsselfigur einer kriminalistischen Enthüllung. Ein Polizeichef entdeckt in einem Restaurant ein Wandbild, das mit einem ungelösten Mordfall aus der Vergangenheit verknüpft ist. Ebenso spannend ist A Noisy Disappearance in an Ill-Reputed Alley von Allal Bourqia, in dem das Verschwinden eines spanischen Regisseurs politische Intrigen entfacht. Die Handlung führt die Leser in eine zwielichtige Gegend, die von Drogenhandel und Kriminalität geprägt ist. Solche Geschichten greifen nicht nur aktuelle Themen auf, sondern enthüllen auch die verborgenen Verstrickungen der Stadt.
Ein Platz als Symbol
Ein wiederkehrendes Motiv ist der Jemaa el-Fnaa, der zentrale Platz Marrakechs. Hier verschmelzen Alltag und Spektakel, Tradition und Moderne. Geschichtenerzähler, Musiker und Verkäufer schaffen eine lebendige Kulisse, die das pulsierende Herz der Stadt spiegelt. Doch auch dieser scheinbar leuchtende Ort hat seine Schattenseiten: Einige der Geschichten wagen sich in die dunklen Ecken des Platzes und erzählen von Verbrechen, Betrug und moralischen Konflikten.
Eine exemplarische Szene aus der Einführung zeigt den einzigartigen Humor der Stadtbewohner: Ein Geschichtenerzähler kehrt nach einer langen Abwesenheit zurück und behauptet, er sei in "Hollanda" gewesen - eine Umschreibung für seine Zeit im Gefängnis. Solche Anekdoten verdeutlichen, wie die Bewohner Marrakechs dunkle Erlebnisse mit lebhaften Geschichten überdecken, ohne ihre Schwere zu verkennen.
Das selten betretene Genre der Noir-Literatur
Die Anthologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein in Marokko kaum etabliertes Genre aufgreift: Noir-Literatur. Die Autoren blicken scharf auf soziale Ungerechtigkeit, politische Korruption und persönliche Dramen. Die Geschichten reichen von Intrigen der Elite bis zu den täglichen Kämpfen der weniger Privilegierten, von historischen Verbrechen bis hin zu den modernen Herausforderungen wie Tourismus und Globalisierung.
Marrakech Noir ist weit mehr als eine Sammlung von Kriminalgeschichten. Es ist ein lebendiges Porträt einer Stadt, die sich ständig neu erfindet. Die Autoren zeigen die Konflikte zwischen Tradition und Moderne, zwischen Licht und Schatten, zwischen Freude und Trauer. Marrakech wird hier als eine Stadt dargestellt, die bezaubert, beunruhigt und inspiriert – eine Metropole, die ihre dunklen Seiten nicht verbirgt, sondern sie in Kunst verwandelt.
Auszug aus „The Mysterious Painting“ von Fouad Laroui Jeden Tag um zwölf Uhr fünfzehn betrat Polizeichef Hamdouch das Restaurant Délices de l’Orient - ein Mann der Gewohnheit, wie er im Buche steht. Sein Tisch stand immer bereit, die Abläufe waren routiniert. Doch eines Tages störte etwas diese Ordnung: ein Gemälde. Es hing plötzlich an der Wand gegenüber seinem Tisch. Anfangs schenkte er dem Bild wenig Aufmerksamkeit, doch bald bemerkte er etwas Merkwürdiges. Die Figuren auf dem Gemälde - ein prächtiger Reiter auf einem edlen Ross, umgeben von einer Menschenmenge - hatten etwas Seltsames in ihren Blicken. Waren das Zorn und Furcht? Hamdouchs wachsendes Unbehagen steigerte sich, als er eines Nachts von dem Gemälde träumte. Im Traum bewegten sich die Figuren. Der Reiter galoppierte davon, die Menge starrte ihn an - und eine der Gestalten versuchte, ihm einen Sack über den Kopf zu stülpen. Am nächsten Morgen beschloss Hamdouch, der Sache auf den Grund zu gehen. "S’si Driss," rief er den Restaurantbesitzer, "wer hat dieses Gemälde gemalt?" Driss antwortete zögernd: "Ein junger Mann, Brahim Labatt. Er hat es gemalt, kurz bevor er sich das Leben nahm ... Gott bewahre uns!" Hamdouchs Blick verhärtete sich. Selbstmord war selten in diesen Gegenden - und oft ein Zeichen, dass mehr dahintersteckte. Ein Fall nahm Gestalt an, und die düsteren Geheimnisse von Marrakech begannen sich vor seinen Augen zu entfalten. |
Auszug aus "A Way to Mecca" von HaNaNe Derkaoui Die Kurzgeschichte spielt im lebhaften Viertel Riad Zitoun in Marrakech und erkundet tiefgründige Themen wie Glauben, Selbstfindung und die Suche nach spiritueller Erleuchtung. Im Zentrum steht Yassir, ein einfacher, doch nachdenklicher Taxifahrer, der durch eine unerwartete Begegnung auf eine transformative Reise geführt wird. Yassir verbringt seine Tage damit, durch die chaotischen, engen Gassen der Stadt zu navigieren, die ihm vertraut und dennoch voller Überraschungen sind. Eines Abends steigt eine geheimnisvolle Frau in traditioneller Kleidung in sein Taxi. Sie wirkt entschlossen, spricht aber mit einer leisen, beinahe scheuen Stimme. Ihr Ziel ist ungewöhnlich unpräzise: Sie bittet ihn, sie zu einem "Ort des Lichts" zu bringen. Verwirrt, aber auch neugierig, beginnt Yassir eine Unterhaltung mit ihr, die bald mehr ist als ein typisches Gespräch zwischen Fahrer und Fahrgast. Während der Fahrt durch die pulsierenden Straßen von Marrakech entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefere Verbindung. Die Frau erzählt von ihrem Wunsch, nach Mekka zu reisen, und teilt ihre Träume, Ängste und Hoffnungen mit Yassir. Ihre Worte wirken wie ein Spiegel, der Yassir dazu bringt, seine eigene Lebensreise zu hinterfragen. Er denkt über die Herausforderungen seines Alltags nach, seine Entfremdung von seiner Familie und die spirituelle Leere, die er lange ignoriert hat. Für Yassir wird die Fahrt zu einem Moment der Selbsterkenntnis, da er beginnt, die Bedeutung von Zielen und Zufällen in seinem Leben neu zu bewerten. Die Frau offenbart schließlich, dass sie ihre Pilgerreise nach Mekka aus finanziellen Gründen und wegen familiärer Verpflichtungen nicht antreten konnte. Ihre Ehrlichkeit und ihr tief empfundener Glaube berühren Yassir zutiefst. Angeregt durch ihr unerschütterliches Vertrauen in das Schicksal beschließt er, ihr zu helfen. Mit einer kleinen, aber bedeutenden Geste übernimmt Yassir die Rolle eines Unterstützers in ihrer Suche, indem er sie an einen Ort bringt, der für sie ein erster Schritt auf dem Weg zu ihrem spirituellen Ziel sein könnte. Die Geschichte endet offen, jedoch mit einem Hoffnungsschimmer. Yassir spürt, dass er durch die Begegnung nicht nur ihr Leben, sondern auch sein eigenes verändert hat. Die Erzählung deutet an, dass solche zufälligen Begegnungen eine transformative Kraft besitzen können - sowohl für diejenigen, die auf der Suche sind, als auch für jene, die sie begleiten. Interpretation Die Geschichte von A Way to Mecca bietet mehr als nur eine narrative Reise; sie ist eine Reflexion über den Wert von Mitgefühl und die Wege, die wir im Leben einschlagen, ob bewusst oder zufällig. Marrakech, mit seinen komplexen, lebendigen Straßen, wird zur perfekten Kulisse für eine Erzählung über Orientierung - sowohl geographisch als auch spirituell. HaNaNe Derkaoui nutzt die Dynamik zwischen Fahrer und Passagier, um größere Fragen über das Leben, die Menschlichkeit und die Kraft des Glaubens aufzuwerfen. |