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Schweigen ist Gold

Es gab vor langer Zeit einen Wald, in dem sich alle Tiere einmal im Jahr versammelten und miteinander friedlich ein großes Fest feierten. Die Landschildkröte war bisher immer pünktlich auf dem Fest eingetroffen, weil sie stets frühzeitig ihre Höhle verließ und rechtzeitig zum Treffen reiste.

 

Lanschildkröte, Foto: Cedric Fox auf unsplash.comNun hatte es in diesem Jahr aber so viel geregnet, dass die Bäche und Flüsse mit Wasser überfüllt und die Wege schlammig geworden waren, so dass sie nicht so wie gewöhnlich früh genug aufbrechen konnte. Trotz ihrer Verspätung wollte sie die Wallfahrt nicht versäumen und nicht auf die Begegnung mit den vielen friedlichen Tieren verzichten.

Als sie aber weiter schritt, kam sie zu einem Fluss, der so überflutet war, dass kein Tier, egal wie groß es auch immer sein mag, es überleben würde, falls es ihn überqueren sollte. Die Schildkröte überlegte sich, ob sie nicht doch eine andere schmale Übergangsstelle suchen sollte, aber bis sie eine geeignete Flussstelle fand, war es schon zu spät. Und während sie am Rande des Flusses immer noch überlegte und nicht weiterkommen konnte, flogen über ihr zwei schnatternde und flatternde Raben, die ihre Schnäbel in Richtung des Festortes hielten. Die Schildkröte sprach sie an und bat sie um ihre Hilfe bei der Überquerung des Flusses. Sie erzählte ihnen von ihrem Ziel und dass sie sehr traurig sein würde, falls sie das Fest verpassen sollte. Die Raben waren von der Treue und von der Liebe der Schildkröte gegenüber dem Fest so angetan, dass sie sich dazu bereit erklärten, der Landschildkröte zu helfen, auch wenn es dabei nötig war, sie bis zum Ort des Festes zu begleiten.

Fotomontage, Fotos von Tyler Quiring (Rabe) und Cedric Fox (Schildkröte) auf unsplash.comDie klugen Raben schmiedeten einen Plan und rieten der Schildkröte, während der Reise kein Wort zu sagen, weil Schweigen Gold ist und Reden einen manchmal das Leben kosten kann. Und als die Schildkröte sich damit einverstanden erklärt hatte, nahmen die Raben einen harten festen Stock, den jeder von ihnen an dessen Ende mit dem Schnabel festhielt. Danach forderten sie von der Schildkröte, sich fest in die Mitte des Stockes zu verbeißen.

Und so trugen die beiden Raben den Stock mit der Schildkröte und flogen zusammen mit ihr über Täler, Flüsse und Berge. Als sie an einer Affensiedlung vorüberflogen, in der eine Gruppe von Affen in der Sonne auf einem Sandfelsen faul verweilten und sich gegenseitig entlausten, sagte ein Affe zu seinem Artgenossen: „Guckt euch das mal an, eine ohne Flügel fliegende Schildkröte!“ und lachte danach. Als die Schildkröte diesen Affenkommentar hörte, war sie zwar einerseits beleidigt, aber andererseits auch stolz auf sich. Sie machte ihren Mund auf und wollte dem Affen entgegnen: „Hast du niemals im Leben eine fliegende Schildkröte gesehen?“ Aber leider reichte der Schildkröte die Zeit nicht mehr, um den Satz noch bis zum Ende sprechen zu können, und als sie sich an den Rat der Raben erinnerte, da war es auch schon zu spät.

Erzählung von Idriss Al-Jay* und Fouad Filali