Skip to main content

Fällt das Minarett um, dann hängt den Barbier auf!

Der Sultan verlangte nach einen schweigsamen Barbier, der die Geheimnisse seiner Kunden wie seinen Augapfel hütet. Mit dieser Aufgabe betreute der Sultan keinen geringeren als seinen treuen Wesir. Dieser machte sich am selben Tag auf die Suche nach einem geeigneten Barbier. 

 

Das Koutoubia-Minarett in Marrakesch

Es wird erzählt und nur Gott weiß die Wahrheit, dass dieses Sprichwort auf folgender Geschichte beruht:

Vor langer Zeit lebte und arbeitete ein Barbier in einem Land, das von einem beliebten Sultan regiert wurde. Der Sultan war stolz auf seine Haare, die aber mit der Zeit immer weniger wurden. Eines Morgens bemerkte er eine kahle Stelle auf seinem Kopf. Entsetzt murmelte er: „Oh Allah, was für ein Makel!“

Für den Sultan stand fest, dieser Makel müsse wie ein Staatsgeheimnis gehütet werden, denn kräftige Haare galten als Symbol der Stärke.

Der Sultan brauchte nun einen schweigsamen Barbier, der die Geheimnisse seiner Kunden wie seinen Augapfel hütete. Mit dieser Aufgabe betreute der Sultan keinen geringeren als seinen treuen Wesir. Dieser machte sich am selben Tag auf die Suche nach einem geeigneten Barbier.

Nach langer Suche kam der Wesir mit einem tüchtigen Barbier zurück, der durch seine musikalische Gabe die Kunden beim Haareschneiden mit Gesang erfreute. Von ihm erfuhr man zudem die Uhrzeit, denn er besaß eine von ihm selbst gebaute Sonnenuhr.

Der Sultan war mit der Wahl seines Wesirs zufrieden. Der Barbier kam von nun an regelmäßig in den Palast, um die Haare des Sultans so zu frisieren, dass sie makellos erschienen.

Auch nutzte der Sultan die Tatsache, dass der Barbier seines Berufes wegen mit den verschiedensten Menschen zusammenkam, ihn nach seinen Untertanen zu befragen. Der Barbier konnte ihm stets zufriedenstellende Antworten geben. Der Sultan wurde immer zufriedener mit der Arbeit des Barbiers, was diesem nicht verborgen blieb.

Nun kannte im Palast jeder den Barbier und seine Verschwiegenheit. So kam es, dass immer mehr Mitglieder des Hofstaates ihn für einen Haarschnitt oder eine Rasur bestellten. Dementsprechend wuchsen seine Einnahmen, nicht zuletzt durch die vielen Geschenke, die er zu allen Gelegenheiten bekam.

Eines Tages, als er auf dem Weg zum Palast war, dachte er bei sich: „Ich bin nun sehr wohlhabend, habe ein großes Haus und mehrere Sklaven und zudem kann der Sultan auf meine Dienste nicht mehr verzichten. Außerdem kenne ich alle Geheimnisse des Palastes. Ich denke, ich könnte, gewissermaßen als Mitglied des Hofstaates, den Sultan um die Hand seiner Tochter bitten. Er wird mir meinen Wunsch bestimmt nicht abschlagen.“

So kam es, dass er, während er eines Tages den Sultan mit einem scharfen Rasiermesser den Bart rasierte, diesen ansprach mit den Worten: „Mein erhabener Sultan, ich hege seit langem einen Wunsch in mir, den ich bisher nicht gewagt habe auszusprechen.“

Der Sultan schaute ihn an und sagte nach einer Weile: „Sprich Barbier, wie lautet dein Wunsch?“ Der Barbier nahm all seinen Mut zusammen und sagte: „Ich bitte in aller Demut um die Hand deiner Tochter.“

Der Sultan völlig überrascht und entsetzt, wollte die Wachen rufen, um den Barbier in den Kerker werfen zu lassen, sah aber seine missliche Lage, denn der Barbier stand da und hantierte weiter mit dem scharfen Rasiermesser. So antwortete der Sultan: „Wie könnte ich einen besseren Schwiegersohn finden?“

Voller Freude beendete der Barbier seine Arbeit und begann sein Handwerkszeug in seine Tasche zu stecken.

Der Sultan, immer noch voller Entsetzen über den unerhörten Wunsch des Barbiers, dachte über eine sofortige Bestrafung nach. Da kam plötzlich ein Sklave in den Raum gelaufen und rief, dass das Minarett in sich zusammengefallen sei. Darauf befahl der Sultan, dem dieses Ereignis wie gerufen kam: „Schuld ist der Barbier, hängt ihn auf!“

Passende Sprichwörter dazu:
Deutsch: Hochmut kommt vor dem Fall
Marokkanisch: Zieh' stets Kleider deiner Größe an (denn nur diese kleiden Dich!)

Erzählung von Idriss Al-Jay* und Fouad Filali