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Die Legende von Bouazza und dem Oger des Meeres

Auf dem Jamaa El Fna in Marrakesch erzählen die Geschichtenerzähler seit Generationen Legenden, die mehr sind als Unterhaltung. Eine dieser Erzählungen ist die Geschichte von Bouazza und dem Oger des Meeres. Sie beginnt mit dem Brand einer Hütte und endet mit einem Felsen im Atlantik. Dazwischen aber entfaltet sich eine Reise über Mut, Liebe und Standhaftigkeit.

 

Das Dorf in dem Bouazza und seinen Sohn L'Arbi leben.. Foto mit Hilfe von Gemini erstelltIn einem Dorf am Atlantik lebten die Menschen in einfachen Hütten aus Schilf und Holz. Man nannte sie Nuwala: ärmliche Behausungen, die doch Wärme gaben und Erinnerungen bewahrten. In einer von ihnen lebte Bouazza. Ein Mann, dem das Alter ins Gesicht geschrieben stand, ein Tüftler und Grübler, der mit Holz, Eisen und Papier arbeitete. Für die Nachbarn war Bouazza ein eigenwilliger Mann, der seinen Gedanken nachging und Dinge tat, die niemand recht verstand, doch für seinen Sohn L’Arbi war er ein Mann von stiller, geheimnisvoller Kraft.

Bouazza war im Dorf auch dafür bekannt, dass er Tiere achtete. Er stellte Wasserstellen für Vögel auf, fütterte Spatzen mit Brotkrumen und ließ Möwennester ungestört, wenn sie sich auf den Dächern niederließen. Man erzählte, die Vögel ließen sich bei ihm nieder, wie bei sonst niemandem.

Das Feuer

Die Hütte brennt. Foto mit Hilfe von Gemini erstelltEines Nachts brach in seiner Werkstatt Feuer aus. Flammen fraßen Holz und Papier, Funken stiegen in den Himmel. Das Dorf lief zusammen, Frauen schrien, Männer versuchten zu löschen. L’Arbi starrte entsetzt ins Feuer, suchte den Blick seines Vaters und rief: „Vater, alles verbrennt, wie tragisch!“ Bouazza erwiderte: „Es ist nur die Hütte, die brennt - nicht das, was uns trägt. Morgen richten wir sie wieder auf - und uns mit ihr. Die Dorfbewohner hielten ihn für verwirrt. Doch in seinen Augen lag Klarheit, die das Feuer nicht zerstören konnte.

Das Feuer verlosch schließlich, und über den verkohlten Resten der Hütte stieg noch Rauch in den Himmel. Die Dorfbewohner standen lange schweigend da. Einige sahen Bouazza mit Unverständnis an, andere schüttelten den Kopf. Doch er blieb gefasst, und seine Worte hingen in der Luft wie ein Versprechen, das niemand verstehen konnte - außer ihm selbst.

Der Oger

Nicht weit vom Dorf, in den dunklen Tiefen des Waldes, lebte ein Oger. Seit jeher nährte er sich von Angst. Er war es gewohnt, das Wimmern der Menschen zu hören, wenn Feuer oder Krankheit sie heimsuchten. Solche Klagen waren für ihn wie Nahrung.

Doch an diesem Abend vernahm er etwas anderes. Statt Schreie und Tränen erreichte ihn das Gerücht von einem alten Mann, der vor den Flammen nicht zurückwich, sondern ruhig sprach und sogar lächelte. Dieses Lächeln, das nicht ins Bild der Angst passte, erregte den Oger. Kein Mitleid regte sich in ihm, nur Zorn. Denn was ist ein Mensch wert, der keine Furcht kennt? Er erhob sich, bebend vor Wut, und schwor, den Mann zu brechen. „Wenn er das Feuer nicht fürchtet“, grollte er, „soll er sehen, was es heißt, das Liebste zu verlieren.“

Mit schweren Schritten kam er ins Dorf, griff nach L’Arbi und rief: „Du lächelst den Flammen ins Gesicht. Aber kein Lächeln schützt vor Verlust. Darum entreiße ich dir das, was dein Herz am Leben hält - deinen Sohn. Dann wird sich zeigen, ob dein Inneres Kraft trägt wie das Meer, das alle Stürme erträgt - oder ob es zerfließt wie Wasser im Sand.“ Mit diesen Worten verschwand er in den Wald.

Bouazza nahm nur seinen Stock und folgte dem Oger.

Im Wald

Die 4 Vögel. Foto mit Hilfe von Gemini erstelltDer Wald lag schwer und verschlungen vor ihm, seine Pfade verborgen wie verschlossene Geheimnisse. Bouazza ging, bis er zu einer Lichtung kam. Da erschienen vier Vögel, die sich vor ihm niederließen: ein schwarzer, ein grüner, ein gelber und der vierte weiß - ein Zeichen, das er deuten musste.

Bouazza wunderte sich nicht - Vögel hatten ihn ein Leben lang begleitet, er hatte sie gefüttert und ihre Nester geschützt. Nun traten sie vor ihn wie Boten, die prüfen wollten, ob er auch in der Not derselbe blieb. Der schwarze sprach: „Nimm meine Gabe - Macht über andere.“ Der grüne rief: „Nimm meine - sie gibt Dir ewiges Leben.“ Der gelbe bot: „Komm zu mir, ich gebe dir Reichtum und Glanz.“ Der weiße schließlich sagte: „Ich schenke dir Reinheit ohne Makel.“

Bouazza schwieg lange. Alles, was sie versprachen, hätte ihn locken können. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich brauche nichts von alledem. Was ich suche, ist ein Herz, das nicht wankt – auch wenn alles um mich zerbricht.“

Da neigte der weiße Vogel den Kopf und ließ eine Feder fallen. „Du hast den richtigen Weg erkannt“, sagte er. „Nimm dies. Sie gibt dir keine Macht, keinen Reichtum, keine Unsterblichkeit - aber sie wird dir Licht geben, wenn die Dunkelheit dich umschließt.“

Haïna

Haina und Larbi. Foto mit Hilfe von ChatGPT erstelltIm düsteren Palast des Ogers lebte Haïna. Sie war nicht nur die Tochter des Ungeheuers, sondern auch das Kind einer Prinzessin, die ihr Vater einst aus einem fernen Land geraubt hatte. Nach Haïnas Geburt durfte die Mutter in ihre Heimat zurückkehren, doch die Tochter blieb bei ihm zurück - zwischen Dunkelheit und Einsamkeit.

Als der Oger L’Arbi in den Palast schleppte, fiel ihr Blick auf den jungen Gefangenen. In diesem Augenblick geschah etwas, das sie selbst kaum verstand: Inmitten der Finsternis ihres Lebens entfachte sich ein Licht. Sein Anblick berührte sie, und sie spürte eine Wärme, die sie nie gekannt hatte.

Auch L’Arbi war tief berührt. Er fühlte etwas, das stärker war als Angst – ein leiser Hauch von Hoffnung, trotz der Fesseln. In Haïnas Augen entdeckte er einen Glanz, der ihn an Leben glauben ließ, selbst inmitten der Gefangenschaft.

Von da an schützte Haïna ihn mit aller Entschlossenheit. Sie brachte ihm Brot und Wasser, versteckte ihn, wenn ihr Vater durch die Gänge polterte, und bedeckte sein Versteck mit Kräutern und Blumen. Leise flüsterte sie: ‚Ich bin die Tochter des Ogers - doch in mir schlägt ein Herz, das fühlt wie fließendes Wasser, nicht kalt und starr wie Stein.“

Die erste Begegnung

Erste Begegnung auf den Oger. Foto mit Hilfe von Gemini erstelltAls Bouazza den Palast betrat, bebte der Boden unter den Schritten des Ogers. „Du bist gekommen, alter Mann“, dröhnte er. „Dein Sohn ist hier - und doch wirst du ihn nicht finden. Er ist in meiner Macht.“ Da trat Haïna vor. Ihr Herz raste, doch ihre Stimme war fest. „Nein, Vater. Er ist nicht in deiner Macht. Ich habe ihn verborgen.“

Ein Zornesgebrüll ließ die Mauern erzittern. Der Oger packte sie hart am Arm. „Verräterin!“, donnerte er. „Du wagst es, gegen mich?“ Er packte sie hart, ließ sie wieder los und wandte sich dem zu, den er als seinen Gegner betrachtete. Wütend wandte er sich Bouazza zu. „Dich werde ich zerreißen!“ Seine Schläge krachten nieder wie Hämmer. Bouazza wich zurück, doch er war alt, seine Kräfte reichten kaum. Ein Hieb streifte ihn an der Schulter, und er sank auf die Knie. L’Arbi, verborgen hinter einer schweren Steinplatte, wagte kaum zu atmen. Er sah, wie sein Vater kurz davor war, zu fallen.

Bouazza hielt den Stock vor sich, doch es war sinnlos. Da griff er nach der Feder, die er im Wald erhalten hatte. Lange hatte er gezögert, sie einzusetzen - als wäre sie mehr Symbol als Waffe. Nun blieb keine Wahl. Er hob sie hoch, und ein Licht brach hervor, heller als jede Flamme.

Der Oger schrie auf, schlug sich die Augen zu und taumelte zurück. Haïna nutzte den Augenblick, stürzte zu L’Arbi und zog ihn aus dem Versteck. Vater und Sohn fanden sich in einer Umarmung wieder, während das Ungeheuer wütend brüllte: „Dies ist nicht mein Ende! Ich werde zurückkehren - stärker, aus den Tiefen des Meeres, wo kein Salz und keine Sonne sind!“ Seine Stimme hallte wie ein Schwur. Vater und Sohn flohen. Haïna folgte ihnen. Der Morgen dämmerte, doch Bouazza wusste, dass die Drohung wahr war.

Im Dorf herrschte Erleichterung, aber keine Ruhe. „Er wird wiederkommen“, flüsterten die Menschen. „Diesmal aus dem Meer.“ Bouazza verstand, dass sie nicht warten durften. „Wir gehen ihm entgegen“, sagte er zu L’Arbi und Haïna. Sie stiegen in ein kleines Boot. Das Meer nahm sie auf, mal ruhig, mal ungestüm.

Die zweite Begegnung

Zweite Begegnung im Meer. Foto mit Hilfe von Gemini erstellt

Tage auf dem Meer vergingen. Mal war das Wasser ruhig, mal türmten sich Wellen, die das Boot bedrohlich schwanken ließen. Eines Abends, als die Sonne unterging und die See sich verfärbte, lag eine unheimliche Stille über dem Wasser. Kein Wind, kein Vogelruf - nur ein Schimmer, der sich auf der Oberfläche ausbreitete.

Aus diesem Schimmer hob sich eine Gestalt, halb Mensch, halb Welle. Ihre Stimme klang, als spräche das Meer selbst: „Ihr seid mutig, dass ihr dem Oger entgegenfahrt. Doch im Reich des Wassers helfen keine Schwerter“, sprach sie. „Das Meer verlangt andere Mittel. Salz - es brennt und bannt, wo das Böse im Wasser lauert. Kräuter - ihr Duft vertreibt die Schatten und Dämonen, die sich um den Oger sammeln. Und Geduld - denn die Wellen schlagen ohne Ende, und nur wer standhält, übersteht ihre Kraft. Sie sah Bouazza lange an, als prüfte sie ihn. „Du hast die Vögel nicht verraten, du hast ihr Vertrauen bewahrt. Darum helfe ich dir. Nimm diese Muschel. Zerbrich sie, wenn ihr keinen Ausweg mehr seht - dann werden die Möwen zu euch kommen.“ Mit diesen Worten sank sie zurück in die Tiefe, und das Meer schloss sich über ihr, als wäre nichts geschehen.

Schließlich öffneten sich vor ihnen die Grotten des Meeres. Aus den Tiefen erhob sich der Oger, größer als je zuvor, umringt von Haien und Dämonen. „Hier ist mein Reich!“, brüllte er. „Hier gibt es keine Sonne, kein Salz - hier herrsche ich.“ Mit seinen Armen ließ er Wellen steigen, die das Boot fast zerschlugen.

Bouazza zerbrach die Muschel. Ein Schrei durchdrang das Wasser, und bald darauf erschienen Schwärme weißer Möwen. Sie stürzten sich auf den Oger. Doch sie kamen nicht allein wegen der Muschel. Viele kannten den Mann im Boot, der ihnen Wasserstellen gebaut und Nester geschützt hatte. Sie erkannten ihn wieder und antworteten auf seinen Ruf.

Mit den Möwen schlugen auch die Taten der Menschen zu Buche: L’Arbi warf Salz ins Meer, das sich in leuchtende Ringe verwandelte und den Oger fesselte. Haïna streute getrocknete Kräuter ins Wasser, die sich in Licht verwandelten und die Dämonen vertrieben. Schließlich hob Bouazza die weiße Feder. Ihr Strahl traf den Oger ins Gesicht. Er brüllte, wand sich, sank und wurde schwer. Dann erstarrte er zu Stein. Als die Wellen sich glätteten, ragte aus dem Meer ein schwarzer Felsen. Seitdem nennen ihn die Menschen den Felsen des Ogers.

Maerchenerzähler Idriss AljayDas Boot kehrte zurück. Im Dorf empfing man sie mit Gesängen und Trommeln. Und bis heute erzählen die Stimmen auf dem Jamaa El Fna in Marrakesch die Geschichte von Bouazza und dem Ungeheuer.

So bleibt die Legende lebendig. Zwischen der Asche einer Hütte und dem Felsen im Meer hat sie eine Wahrheit bewahrt: Wer mit Respekt lebt, wer der Angst nicht nachgibt und sich nicht von Gier verführen lässt, der ruft Kräfte wach, die größer sind als jedes Ungeheuer.

Doch wer den Erzählern genau zuhört, wenn ihre Stimmen tiefer werden und die Trommeln verstummen, spürt, dass in dieser Geschichte mehr verborgen ist als der Sieg über ein Ungeheuer. Inmitten der Finsternis begegneten sich zwei junge Menschen, deren Blicke ein leises Versprechen trugen. Aus Gefahr und Verlust wuchs etwas, das stärker war als Angst: eine Hoffnung, die in den Herzen weiterlebt. Manche sagen, dass hierin der wahre Anfang liegt - nicht im Tod des Ogers, sondern im Erwachen eines neuen Lebens, das sich aus der Dunkelheit erhob.