Der dumme Richter
Die Tiere des Waldes lebten friedlich zusammen, bis es dem Fuchs eines Tages zu langweilig wurde. Er ging zu seinem Freund und Nachbarn, dem Igel, und lud ihn zu einem Spaziergang im Wald ein. Der Igel war eigentlich nicht bereit dazu, schon wieder das Geschwätz des Fuchses zu hören. Aber weil für ihn Freundschaft über alles stand, willigte er dann doch ein.
Die Freunde und Nachbarn machten sich also auf den Weg und gingen los. Als sie zu der markierten Grenze eines Löwenreviers kamen, sagte der Igel zum Fuchs: „Mein Freund, der König, hat sein eigenes Revier und die Bürger haben ihres. Das hier ist ein Löwenrevier. Lass uns zurückkehren, solange es noch nicht zu spät ist.“
Der Fuchs aber nahm die Warnung des Igels nicht ernst und hielt seine Vorsicht für Feigheit. „Du darfst nicht vergessen, dass ich der schlaueste Fuchs bin, den es je gab. Durch dieses Revier zu gehen, das ist für mich kinderleicht.“ Ohne eine Antwort seines Freundes abzuwarten, stolzierte er in das Löwengehege. Dem Igel war bewusst, wie leichtsinnig der Fuchs mit der Gefahr umging. Er fragte ihn deshalb: „Und was würdest Du tun, wenn uns, Gott bewahre, nun ein Löwe begegnet?“ „Sei unbesorgt mein kleiner Freund, für jede Gefahrensituation habe ich hundert und eine List.“
Der Igel war zwar von der Schlauheit des Fuchses nicht überzeugt, aber wie bereits gesagt, legte der Igel sehr viel Wert auf Freundschaft und Nachbarschaft. Deshalb wollte er auf keinen Fall gegen seine Gepflogenheiten verstoßen. Er folgte also dem Fuchs und sie durchquerten beide das Löwenrevier.
Ha ... has … hassst du das auch gehört
Kurz bevor sie den Rand des Reviers erreichten, hörten sie plötzlich ein fürchterliches Gebrüll. Die Zähne des Fuchses fingen vor lauter Angst an zu klappern und seine Beine zu zittern. Er wandte sich dem Igel zu und fragte ihn mit einer zittrigen, fast unhörbaren Stimme: „Ha ... has … hassst du das auch gehört, waa ... wa … was ich gehört habe?“ „Ja, das ist ein Löwe“, sagte der Igel und schaute mit seinen scharfen Augen um sich herum. „Er hat uns gerochen und bald wird er kommen, um unserem Duft zu folgen!“ „Uuuuu … nd waa ... wa … was tu uuun wir, wenn er eiiiiiintrifft?“, fragte der Fuchs. „Was mich betrifft, so sehe ich ein kleines Loch in der Erde, wo ich mich ganz schnell verkriechen kann.“ Da sagte der Fuchs: „Und ich, was soll ich dann tun?“ „Ganz einfach, lasse dir von deinen unzähligen Listen was einfallen und schon wirst du dem Löwen entkommen.“ „Es fällt mir jetzt aber keine ein“, sagte der Fuchs mit feuchten Augen. „Aber du willst doch bestimmt nicht, dass dein Freund in seiner Not im Stich gelassen wird?“
Trotz allem wollte der Igel seinem Freund gegenüber nicht unhöflich sein und sagte deshalb zu ihm: „Also, ich habe mir eine List ausgedacht, aber mal sehen, ob sie uns weiterhilft.“ „Eine schlechte List ist immerhin besser als nichts“. Und kaum hatte der Fuchs seinen Satz zu Ende gesprochen, da stand vor ihnen auch schon ein großer, hochgewachsener Löwe und versperrte ihnen den Weg.
Doch der Igel eilte zu dem Löwen und warf sich vor ihm auf den Boden, küsste die Erde vor dessen Füßen und sagte mit einer herzzerreißenden Stimme: „Oh, Ihr mächtigster und gerechtester König aller Tiere auf Erden. Gott sei Dank, dass ich Euch endlich begegnet bin. Ich habe keinen Verteidiger oder Nahestehenden, der meine Rechte vor diesem „Daalim“ (ungerechter Tyrann) und undankbarem Fuchs wahrnehmen kann, außer Allah und Euch, Eure Majestät.“ Da sagte der Löwe zu dem Igel: „Sprich lieber richtig und höre auf zu jammern. Wenn du recht hast, dann wirst du auch dein Recht bekommen!“
Der Igel antwortete: „Dieser Fuchs ist doch mein Nachbar und wir wohnen zusammen in einer Höhle. Er bekommt Kinder so wie ich auch und als die Wohnhöhle für unsere beiden Familien zu eng wurde, da wollte ich mir eine neue Behausung suchen. Er aber wollte mich mit meinen Kleinen nicht aus der Höhle ausziehen lassen und behauptete stattdessen, dass alle Kinder aus der Höhle seine seien. Und jetzt klage ich ihn vor Eurer Königlichen Gerechtigkeit an und bitte Eure Hoheit, mit uns zu unserer Wohnhöhle zu kommen, um Recht zu sprechen und uns zu sagen, wessen Kinder meine und wessen Kinder seine sind“.
Als der Löwe die Anklage des Igels hörte, da dachte er sofort an eine reichliche Mahlzeit und begehrte alle Kinder der beiden Tiere zu speisen. „Also gut, ich komme mit Euch“, sagte der Löwe und folgte dem Igel und dem Fuchs unmittelbar.
Während sie vor dem Löwen herliefen, schaute der Igel sich ständig um. Als er eine Höhle mit einem schmalen Eingang sah und sich sicher war, dass der Löwe unmöglich den Eingang passieren konnte, blieb er stehen und sagte zu dem Löwen: „Erhabener König und Richter, das ist unsere Wohnhöhle. Erlaubt mir Majestät mit diesem ungerechten Fuchs einzutreten und Euch die Kinder hierher zu holen. So könnt Ihr besser darüber urteilen, welche Kinder wem gehören.“
Als der Löwe den beiden seine Zustimmung gegeben hatte, schlichen sich der Igel und der Fuchs nacheinander in die Höhle und gaben keine weiteren Lebenszeichen von sich. Der Löwe wartete geduldig vor dem Eingang und schärfte seine Zähne und Krallen für das zarte, weiche Jungfleisch der Familie des Fuchss und des Igels.
Als er mit seiner Geduld am Ende war, rief der Löwe nach den beiden Tieren: „Holt endlich die Kinder hierher, damit ich mein gerichtliches Urteil fällen kann. Ich habe nicht nur über Euren Fall zu urteilen, auf mich warten viele weitere Fälle, also beeilet Euch.“
Da sprach der Igel aus der Höhle heraus zum Löwen: „Herr Richter, wir wollen Euch nicht länger als nötig aufhalten und Eure Zeit vergeuden, aber wenn Ihr es wollt, dann könnt Ihr Eurer weiteren Beschäftigung nachgehen. Es gibt in unserem Fall nichts mehr zu entscheiden: Die Kinder der Füchse haben ein Fell und die des Igels Stacheln“.
Der Löwe erkannte seine Dummheit und ging seines Weges. Nachdem der Löwe verschwunden war, sagte der Fuchs zu dem Igel: „Na, wie fandest du denn mein schnelles Hineingleiten in die Höhle, habe ich den Löwen nicht geschickt überlistet?“ Der Igel sah seinen Freund lange an ...
Erzählung von Idriss Al-Jay* und Fouad Filali