Mit dem Auge wägst du ab, dein Herz ist dein Informant
Zwei Bücher mit so unterschiedlichen Titeln in einer Abhandlung? Ja, es passt tatsächlich, da beide Bücher eine spannende Sammlung marokkanischer Sprichworte enthalten, die aus ganz unterschiedlichen Intentionen zusammengetragen wurden.
Ärmer als eine Moschee-Maus
Mourad Kusserow, gebürtiger Berliner, findet auf seinem Lebensweg in Marokko seine zweite Heimat. Über vier Jahrzehnte hinweg gibt er sich seiner Sammelleidenschaft hin und trägt Sprichwörter zusammen. Er betont selber, dass es sich nicht um kategorisierte Forschungsergebnisse handelt, sondern um eine Sammlung, die ihm das Leben zugespielt hat.
„Ein Sprichwort ist ein allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrückt.“ (Wolfgang Mieder, Sprach- und Literaturwissenschaftler)
Mit diesem Zitat wird bereits deutlich, dass es sich um traditionelle, oft volkstümliche Sätze handelt, die einen Platz in dem Kulturkreis haben, aus dem sie entstammen. Übersetzungen können sich daher problematisch gestalten, wenn sie rein linguistisch-wissenschaftlich vorgenommen werden, da sie möglicherweise den Sinn eines Sprichwortes verändern. Kusserow schreibt selber im Nachwort zu seiner Sammlung: „…mit vereinfachter Transkription für deutschsprachige Leser, aber nicht für Orientalisten und Linguisten…“ (Seite 116). Aber auch die freien Übersetzungen geben einen guten Blick auf die marokkanische Lebensweise frei. Vieles mag dem Europäer bekannt vorkommen, manches wird erst nachvollziehbar, wenn man selbst im Land gewesen ist.
Marokkanische Sprichwörter Arabisch-Deutsch
Eine ganz andere Intention steht hinter Marokkanische Sprichwörter Arabisch-Deutsch, die unter verschiedenen Überschriften veröffentlicht sind. Im ländlichen Raum um Agadir und Marrakech wurden Alphabetisierungskurse für engagierte Frauen angeboten, um ihnen bisher verschlossene Wege ihrer Lebensumwelt zu öffnen und ihnen zu mehr Selbständigkeit zu verhelfen. Sie bekamen die Aufgabe, in ihrem Lebensumfeld nach bekannten Sprichwörtern zu suchen und diese zu notieren. Geschickt erhielten sie so schriftliche Übungsmöglichkeiten aus vertrauten Bereichen.
Der Zakoura-Bildungsstiftung ging es aber nicht ausschließlich um den reinen Erwerb der Schriftsprache, parallel dazu wurde nach künstlerischen Talenten gesucht. In zahlreichen Dörfern rief man einen Kalligraphie-Wettbewerb unter den alphabetisierten Frauen aus. Unter Anleitung geschulter Kursleiter erhielten sie Kalligraphie-Kurse, um Handwerkszeug für ihre kreativen Ideen zu erhalten.
Kalligraphie - die Kunst des schönen Schreibens hat in Marokko eine lange Tradition. Aus religiösen Gründen besteht im Islam ein Bilderverbot. Verbindungen der arabischen Schrift mit künstlerischen Varianten des schönen Schreibens ließen aus Buchstaben Bilder entstehen - die einzig geduldete Kunstform, siehe Wikipedia-Eintrag: „Bücher erfreuen sich in der islamischen Welt besonderer Wertschätzung. Grundlage hierfür ist die Tatsache, dass den Gläubigen das Wort Gottes durch das heilige Buch des Islam, den Koran, übermittelt wird.“ Entstanden ist das vorliegende faszinierende Buch eines Farben- und Formenspiels, kreiert von den Frauen des Dorfes Alma aus einer Bergregion bei Agadir, das als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgegangen ist. Auch ohne die arabischen Schriftzeichen lesen zu können, liegt dem Betrachter ein beeindruckendes Werk vor, in das man sich einfach hineinträumen möchte. Dass es sich aber nicht „nur“ um Kunst handelt, sondern die Sprichwörter zu Kunstwerken geworden sind, bestätigt Verlegerin Donata Kinzelbach. Immer wieder hat sie auf Messen erlebt, dass Menschen, die die arabische Schrift lesen konnten, spontan äußerten: „Das habe ich immer von meiner Oma gehört!“ „Bei uns zu Hause war das ein geflügeltes Wort!“ „Müssen mir diese Sätze jetzt auch hier begegnen…?“
Und zum Abschluss noch ein von Mourad Kusserow notiertes Sprichwort, das sicher ohne ein gewisses kulturelles Verständnis manch einem Europäer sonderbar anmutet: „Tee ohne Pfefferminze ist wie eine Frau ohne Mann“ (Seite 65). In Marokko wird nahezu immer und überall „thé à la menthe“ – Pfefferminztee getrunken. Im Café, auf dem Markt, bei einem Geschäftsabschluss, als Willkommenstrunk – überall wird der süße, duftende Tee aus großer Höhe schäumend in die Gläser gefüllt. Niemand, wirklich niemand trinkt den Tee ohne Zusatz. Lediglich im Winter sollte das Sprichwort abgewandelt werden, denn dann genießt man ihn mit Sheba – Wermutkraut, statt mit Pfefferminze. Einfache marokkanische Erklärung: im Sommer kühlt die Minze, im Winter wärmt Sheba! …Also ein von der Jahreszeit abhängiges Sprichwort!
Der Verlag Donata Kinzelbach ist seit 34 Jahren spezialisiert auf Literatur aus dem Mahgreb. Über 100 Titel, hauptsächlich belletristischer Werke liegen in deutscher Erstübersetzung vor. Zu den bedeutendsten marokkanischen Autoren zählen u. a. Mohammed Khaïr-Eddine, Driss Chraïbi, Abdelhak Serhane und Youssouf Amine Elalamy, dessen Buch „Gestrandet“ sofort in die Bestenliste "Weltempfänger" aufgenommen wurde. Im Jahr 2000 erhielt Donata Kinzelbach den Medienpreis "Mohammed Nafi Tschelebi" des Zentralinstituts Islam-Archiv für "ihr gesamtes Lebenswerk, das darauf ausgerichtet ist, interkulturell zu wirken, Impulse zu setzen und Brücken der Verständigung zu bauen". 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz für besondere verlegerische Verdienste und interkulturellen Einsatz ausgezeichnet. |
Kalligraphische Auszüge aus "Marokkanische Sprichwörter Arabisch-Deutsch"
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